Ababa von Palindromien - Leben und Ansichten einer berühmten Zahl, in Wort und Bild aufgezeichnet von einem ihrer Verehrer

Bd. IV: Der Garten Eden und Parmenides


Fachbuch, 2008

43 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


Inhalt

1. Der Baum

2. Der Garten Eden. Paradieszahlen

3. Der subtraktive Distrikt. Perioden

4. Der subtraktive Distrikt. Parmenides-Zahlen

5. Sein und Nichtsein.

1. Der Baum

Ababa saß grübelnd im Schatten. Sie liebte diesen Platz unter dem dichten Blätterdach, das ihr Schutz vor Sonne und Regen gleichermaßen bot. Den Ort umgab zudem, wie alles in Palindromien, ein Zauber. Der Baum war von besonderer Art. Weder Gott noch irgendeiner der Menschen hatten ihn gesetzt und wachsen lassen. Er wuchs aus ihr selbst heraus! Sie selbst war Teil von ihm! Seine Wurzeln waren auch die ihren; sie entspross ihnen, wie der ganze Baum ihr entspross.

Denn er war ein Zahlenbaum, und sie selbst war eine Zahl. Nicht irgendeine allerdings. Ababa war stolz, auf eine ganz besondere Weise gebaut zu sein.

Sie war eine vierstellige Zahlensequenz und legte Wert darauf, nicht an ein bestimmtes Zahlensystem gebunden zu sein. Natürlich musste sie sich, wenn sie öffentlich auftrat, entscheiden, welchem Zahlensystem zu welcher Basis sie angehören wollte, dem Zehnersystem zur Basis lO, dem binären System zur Basis 2, oder welchem auch immer zur Basis b. Doch behielt sie sich vor, mit welcher Zahl a aus dem System zur Basis b sie ihre erste Stelle besetzen wollte. Hatte sie aber ein bestimmtes a gewählt, so sollte an der zweiten Stelle ein (a – l) stehen. Die beiden anderen Stellen besetzte sie dann mit (b–a) als letzte und mit (b – a - l) als vorletzte. Wäre sie steckbrieflich gesucht worden, so erschiene ihr Bild als a(a – l)(b – a – l)(b – a) an den Litfasssäulen. An den Werktagen, wenn sie ihren alltäglichen Verrichtungen nachging, wählte sie als a meist eine Eins, so dass man sie in den palindromischen Gefilden gewöhnlich als lO(b – 2)(b – l) sehen konnte. Es wurde gemunkelt, sie zeige sich in dieser Gestalt aus purer Eitelkeit, weil O und l die beiden einzigen Zahlen sind, die in jedem Zahlensystem vorkommen, während (b – 2) und (b – l) die beiden letzten im System zur Basis b sind.

Der Baum, dessen Teil sie selbst war, wuchs im Zehnersystem; so hatte sie die Gestalt lO89.

In Palindromien ging das Gerücht, sie sei einst eine Prinzessin gewesen, um deren Hand sich viele Freier beworben hatten. Einer derselben soll sie kurzerhand entführt haben und sie durch ein Meer schwarzer Nullen einen leuchtenden Pfad habe entlang gehen lassen, der sie an ein fernes Gestade gebracht habe. Dort habe sie neue Freunde gefunden und sei in Paris zu einer gefeierten Eistänzerin aufgestiegen. Doch der Erfolg soll ihr dermaßen zu Kopf gestiegen sein, dass sie von ihren Freunden Leistungen verlangte, die diese nicht zu erbringen vermochten, so dass ihnen nur blieb, sich von Ababa zu trennen, indem sie die Diva bei einem ihrer gewagten Auftritte ins Chaos stürzen ließen.

Ihrer Karriere als Künstlerin war damit ein Ende gesetzt, nicht aber ihrem Sehnen nach Öffentlichkeit und nach Beifall des Publikums. Nach Jahren eines bescheidenen und zurückgezogenen Lebens soll sie sich schließlich wieder aufgerafft und ihre Aktivität darauf gerichtet haben, in Palindromien ein Palfigurenkabinett nach dem Vorbild des Londoner Wachsfigurenkabinetts der Madame Tussauds zu errichten. Das Kabinett gehört heute zu den empfehlenswertesten Sehenswürdigkeiten Palindromiens. Verwaltet und geleitet wird es jedoch nicht von Ababa. Man sagt, sie habe das Gebäude mit allen Schätzen, die es beherbergt, als Hochzeitsgeschenk an ein junges Paar übergeben, das ihr beim Aufbau des Kabinetts behilflich gewesen war. Seitdem hat sie sich erneut in die Einsamkeit zurückgezogen. Freunde, die sie hin und wieder besuchen, berichten, sie habe sich der Philosophie ergeben, und ihr Denken kreise in letzter Zeit häufig um das Thema „Leben und Tod, Sein oder Nichtsein“.

Ihren Namen hatte Ababa von ihrer Struktur. Hebt man nur die Buchstaben a und b in der Abfolge, wie sie in der vierstelligen Sequenz vorkommen, hervor und fasst die beiden ersten a zu einem einzigen zusammen, so ergibt sich: Ababa.

Immer, wenn sie über Gott und die Welt nachdachte, zog es sie zu dem Baume hin. Da sie selbst Teil von ihm war, empfand sie sein Werden und Vergehen nicht als ein äußeres Geschehen, sondern als inneres Erleben. Die Verwandlung war seit jeher ein Grundelement ihrer Existenz. Es gehörte in Palindromien zur guten Sitte und war seit urdenklichen Zeiten eine streng gewahrte Tradition, dass man als Zahl sich umkehren und sich mit seiner Umkehrung verknüpfen musste, indem man sich zu ihr addierte oder sich voneinander subtrahierte.

Diese erstaunliche Fähigkeit war auch Ababa in die Wiege gelegt worden. Ihre späteren Tanzmeister hatten sie stetig vervollkommnet. Nun sann sie darüber nach, auf welche ganz verschiedene Art und Weise diese Umkehrung zustande kommen könne. Nachdenklich betrachtete sie ein Photo, das sie und achtzig ihrer Verwandten, in Reih und Glied geordnet, zeigte (Abb. l). Die Verwandten waren sogenannte Mutuanten; sie unterschieden sich von ihr dadurch, daß, wenn ihre erste Ziffer um einen bestimmten Betrag wuchs, so ihre letzte Ziffer sich um denselben Betrag verminderte, und umgekehrt. Analoges galt für ihren zweiten und dritten Bestandteil.

Auf dem Photo bildete sie selbst in der linken oberen Ecke den Anfang; über achtzig mögliche Umwandlungen hinweg erschien sie dann in der rechten unteren Ecke als ihre eigene Umkehrung. Ihr Blick glitt die Spalten entlang und verfolgte, wie in jeder von ihnen aus Eins über acht Stufen hinweg Neun und aus Neun Eins wurde. Entlang der Zeilen aber wuchs die Null bis zur Acht, und die Acht verminderte sich bis zur Null. Jede ihrer Mutuanten unterschied sich somit von jeder anderen. Ihre gemeinsame Verwandtschaft äußerte sich jedoch darin, dass die Summe aus Mutuante und Umkehrmutuante immer lO89O ergab. Die lO89O war sozusagen ein neuer Trieb am Baum, der aus ihr oder einer anderen ihrer Mutuanten heraus wuchs. Und ihm entspross abermals ein neuer, denn lO89O + O98Ol brachte 2O69l hervor.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. l. Ababas Mutuantenensemble.

Sie blinzelte nach oben, wo das dichte Geäst ein kleines Stück des Himmels preisgab, und ließ ihren Blick dann wieder dem weitverzweigten Wurzelwerk folgen, welches das Erdreich durchzog.

„Ein Baum wie jeder andere im Himmel und auf Erden“, glaubte sie zu wissen.

„Wurzeln, Stamm, Geäst mit Zweigen, Blättern, Blüten und Früchten.“

Von eben dieser Art waren der Baum der Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gewesen, die Gott der Herr einst in dem Garten Eden hatte aufwachsen lassen. Und auch alle Bäume auf der Erde zeigten diese Struktur, ob Eiche oder Buche, Linde oder Pappel, Kastanie oder Platane, Tanne oder Fichte oder welche auch immer.

Dieser hier war aber doch irgendwie anders. Gewiss, auch er hatte Wurzeln, einen Stamm und reiches Geäst. Doch er war ein Zahlenbaum. Und er wuchs weder im Himmel noch irgendwo auf Erden, sondern in den palindromischen Gefilden.

Die Art, wie man hier Nachkommen erzeugte, unterschied sich gründlich von der Art, die bei den Menschen üblich ist. Wohl bedarf es auch zweier Zahlen, aus deren Vereinigung eine neue entsteht, aber von diesen beiden ist die eine nur die Umkehrung der anderen. Die Zahl l23 kann sich bei Palindromisierung - wie dieses Verfahren zur Erzeugung von Nachkommenschaft in den palindromischen Gefilden genannt wird - nur mit 32l verbinden, und mit keiner anderen. Dabei hat sie die Wahl, ob die Verbindung eine additive oder eine subtraktive sein soll. Oder, wie die Palindromier zu sagen pflegen, ob sie nach dem additiven oder nach dem subtraktiven Modus palindromisiert werden möchte. Additiv palindromisiert ergibt die l23: l23 + 32l = 444; nach dem subtraktiven Modus, bei dem immer die kleinere Zahl von der größeren subtrahiert werden soll, entsteht: 32l – l23 = l98.

Es versteht sich, dass jeder palindromische Nachkomme seinerseits Nachkommenschaft erzeugen kann. Dies wiederum haben die Bewohner Palindromiens mit uns Menschen gemein.

Die palindromischen Gefilde sind in drei Bezirke unterteilt, je nachdem, welchem Modus sie huldigen, dem rein additiven, dem rein subtraktiven oder einem wie immer aus Plus und Minus kombinierten.

Der Baum, unter dem Ababa sich ihren Gedanken hingab, wuchs im additiven Modus. Sie befand sich genau dort, wo Wurzelwerk und Stamm ineinander übergehen.

Unter ihr gruben sich jene Zahlen in den Boden, die bei additiver Palindromisierung auf sie, die lO89, führten.

„l98, 297, 396, 495, 594, 693, 792, 89l“ zählte Ababa sie ab. „Alles Mutuanten der l98“, bemerkte sie.

Doch, merkwürdig, von den meisten ging kein weiterer Wurzelspross nach unten. Nur die l98 führte noch tiefer in das Erdreich hinein, auf die 99.

„Die aber hat wieder, wie die l98 selbst, ein mutuantenhaft verzweigtes Wurzelwerk“, durchzuckte es Ababa. „Es reicht von der l8 bis zur 8l.“

Die letzte Stufe war erreicht, als die 9 sich als diejenige entpuppte, bei der die Wurzel endete.

„Eigentlich“, befand Ababa, „genügt es, nur den einen Spross zu betrachten, der von der lO89 über die l98, die 99 und die l8 bis zur 9 führt. Ihre Mutuanten reichen nicht tiefer in die Erde hinein als sie selbst liegen. Die Mutuanten sind zwar ebenfalls an der Erzeugung von Nachkommenschaft beteiligt, haben selbst aber keine palindromischen Vorfahren. Auch bringen sie nichts anderes hervor als die, welche noch tiefer reichen.“

Sie hielt ihre Überlegung in Abb. 2 fest und blickte dann nach oben.

Über sich sah sie die lO89O, die Summe aus ihr und ihrer Umkehrung. Sie blickte hinauf und sie blickte herunter, und die nächste Überraschung ließ nicht auf sich warten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2. Ababas Wurzelwerk

Natürlich, das war ja klar, führte jede ihrer achtzig Mutuanten auf die lO89O da droben. Doch unter ihnen gewahrte sie nur eine einzige, die ihrerseits einer noch tiefer liegenden Ebene entsprang. Diese eine war das Palindrom 5445, der absolute Mittelpunkt des Mutuantenensembles.

„Und sie ist auch die einzige, die selbst wieder eine Vorgängerin hat, nämlich l224 und deren Mutuanten“, bemerkte Ababa sofort und machte sich folgende Notiz, in der sie aber auf alle Mutuanten verzichtete (Abb. 3):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3. Ababas und ihres Palindroms Verwurzelung mit dem ersten Blick nach oben.

Ihre Beobachtungen wiederholten sich, je höher sie blickte - nach der lO89O schoss die 2O69l in die Höhe, dann die 4O293 usw. – und je dichter das Geäst über ihr wurde.

Sie wandte sich an ihre palindromische Mutuante 5445: „Haben Sie bemerkt, meine Liebe, dass von allen unseren Mutuanten wir die beiden einzigen sind, die eine palindromische Vorgeschichte haben?“

„O ja, Verehrteste, mir ist das sehr wohl aufgefallen. Und überdies“, hier stockte sie ganz kurz, um ihrer Partnerin zu versichern, sie wolle ihr keineswegs nur schmeicheln, „überdies sind Sie von uns beiden diejenige, deren Wurzeln viermal so tief reichen wie meine eigenen.“

„Ach, das ist wohl nicht so ausschlaggebend“, wiegelte Ababa ab. „Viel interessanter ist doch wohl, daß es unter uns Palindromiern offenbar zwei Arten von Zahlen gibt.“

„Sie meinen, solche mit Vorgeschichte und solche ohne sie?“, beeilte sich die palindromische Mutuante ihr zuvor zu kommen.

„Genau so“, konstatierte Ababa. „Und wenn ich unser gemeinsames Mutuantenensemble betrachte, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die ohne palindromische Vorgeschichte in der Mehrzahl befinden. Aber das müsste man natürlich noch genauer prüfen.“

„Wie sollte das denn geschehen?“, wunderte sich die 5445.

„Nun , ein Weg könnte sein, die palindromische Bibel aufmerksam zu studieren“, entgegnete Ababa.

„Die palindromische was? Seit wann haben wir Palindromier eine Bibel?“

„Seit neulich, meine Liebe, seit neulich“, konnte Ababa sie belehren. „Ihre Existenz ist aber nur Eingeweihten bekannt, denn sie kursiert bislang wie ein geheimes Dokument nur als Manuskript, weil keiner unserer Verlage sich bisher bereit gezeigt hat, sie in hoher Auflage allen interessierten Palindromiern bekannt zu machen“.

„Und Sie hoffen, darin etwas über die von uns beobachteten zwei Arten von Zahlen zu finden?“, fragte die Mutuante, und der Zweifel in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„O ja, ich bin da recht zuversichtlich. Ich werde in dem Sachverzeichnis, das ja in jedem guten Buch enthalten ist, nachschlagen und nach dem Stichwort

„Paradieszahlen“ suchen.“

„Nach was?“, wunderte sich die Mutuante.

„Nach Paradieszahlen. Sehen Sie, Zahlen ohne Vorgeschichte sind wie Adam und Eva, falls Sie von den beiden schon gehört haben. Sie kommen in der Bibel der Menschen vor. Gott der Herr, an den die Menschen als an ihren Urschöpfer glauben, habe, so steht es in ihrer Bibel, am Anfang zunächst Himmel, Wasser und Erde sowie Pflanzen und Tiere erschaffen. Gegen Morgen habe er dann den Garten Eden mit zwei Bäumen – dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen – gepflanzt und darein den Menschen gesetzt, den er aus einem Erdenkloß gemacht und dem er den lebendigen Odem in seine Nase geblasen hatte, so dass aus ihm eine lebendige Seele wurde.“

„Klingt ja echt gut“, kommentierte die Mutuante. „Er hat also den Menschen geschaffen, und natürlich ist der Mensch ein Mann. Am Anfang der Welt war Mensch eben gleich Mann; an ihrem Ende wird das vielleicht anders sein. Und wo kam die arme Eva her? Die hat er dem Mann wohl aus den Rippen geschnitten?“

„Ja, genau so soll es gewesen sein“, stimmte Ababa zu. „Gott der Herr, so steht es geschrieben, habe ein Einsehen gehabt und fand, es sei nicht gut, dass der Mensch allein sei; so wollte er ihm eine Gehilfin beigeben, die um ihn sei. Er ließ bekanntlich einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, nahm seiner Rippen eine, baute aus ihr ein Weib und brachte sie zu ihm mit der Auflage, beide mögen fruchtbar sein und sich vermehren.“

„Na bitte, da haben wir ja schon die beiden Arten von Menschen: Männlein und Weiblein“, warf die Mutuante ein.

„O nein, meine Liebe, so einfach dürfen Sie sich die Sache nicht vorstellen“, ermahnte Ababa sie. „Was Männlein und Weiblein betrifft, die Nachkommen erzeugen, indem sie sich vereinen, so ist das nicht viel anders als bei uns. In Palindromien bedarf es einer Zahl und ihrer Umkehrzahl, um Nachkommen zu erzeugen, und zwar durch Addition, Subtraktion oder eine Kombination aus beiden. Wir suchen aber, wenn wir bei dem Vergleich mit den Menschen bleiben wollen, nach solchen, die natürliche Vorfahren haben und solche, die ohne natürliche Vorgeschichte sind. Und so gesehen sind Adam und Eva als von Gott geschaffene Kreationen die einzigen Menschen, die keine menschlichen Vorfahren haben, während alle anderen – die späteren Nachfahren der beiden – eine mehr oder weniger lange menschliche Vorgeschichte haben, die bei Adam und Eva endet. Oder beginnt, wie Sie wollen.“

„Aber warum hat Gott nicht noch mehr Menschen geschaffen und sie in den Garten gesetzt?“, begehrte die Mutuante zu wissen.

„Das müssen Sie ihn schon selbst fragen, Verehrteste“, gab Ababa ein wenig bissig zurück. „Ich kann mir aber vorstellen, dass er schon mit diesen beiden genügend Ärger hatte. Denn wie viele andere Geschichten, die verheißungsvoll beginnen, endete auch diese dramatisch und tragisch.“

„So erzählen sie doch“, bat die Mutuante. „Ich höre Ihnen gern zu.“

2. Der Garten Eden. Paradieszahlen

„Im Garten Eden herrschten zunächst paradiesische Zustände. Die beiden Menschen lebten in Harmonie mit der Natur, mit Pflanzen und Tieren, und gaben jedem Geschöpf seinen Namen. Sie aßen von den Früchten der Bäume im Garten, mit Ausnahme des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen, die Gott der Herr ihnen verboten hatte zu kosten. Doch das Weib fand, dass von dem Baum gut zu essen wäre, denn er war ein lustiger Baum und lieblich anzusehen, weil er klug machte. So nahm sie von seiner Frucht und aß, und gab ihrem Mann auch davon, und er aß ebenfalls. Gott der Herr aber, der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war, entdeckte den Frevel und erlegte beiden harte Strafe auf. Sie sollte ihre Kinder mit Schmerzen gebären, und er sollte fortan im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen, bis dass er wieder zur Erde werde, aus der Gott ihn erschaffen. Beide aber mussten den paradiesischen Garten Eden verlassen und fortan in harter Arbeit ihr Leben fristen.“

„Ursprünglich von Gott gesetzt, sozusagen göttlichen Ursprungs, entbehrten sie also jeglicher Vergangenheit“, überlegte die Mutuante. „Doch nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies begann für sie Zukunft und Geschichte. Die Geschichte lastete auf ihrem Gewissen, und die Zukunft zog sie ins Ungewisse.“

„Das haben Sie sehr schön gesagt,“ lobte Ababa sie. „Und nun verstehen Sie auch, dass der Garten Eden, das Paradies, zum Symbol für den einzigen Ort im Himmel und auf Erden geworden ist, in den kein einziger Weg – außer Gottes Gebot – hinein führt. So wie es auf der Erde am Nordpol nur eine einzige Richtung gibt, nämlich die nach Süden, und am Südpol nur die nach Norden, so gibt es in dem Garten Eden nur die eine und einzige Einbahnstraße, die aus ihm hinaus führt. Alle menschliche Geschichte beginnt mit dem Sündenfall. Adam und Eva sind die Stammeltern der Menschheit. Mit ihnen beginnt die Geschichte des menschlichen Geschlechts, das bei all seinen technischen und zivilisatorischen Errungenschaften bis heute weltweites Leiden, Hunger und Elend nicht wirksam und nachhaltig zu bannen vermochte.“

„Amen“, murmelte die Mutuante. „Da fällt mir ein, dass ich in einem ethnologischen Museum, das ich neulich besuchte, ein Portal sah, über dem geschrieben stand: ,Nur wer eine Vergangenheit hat, hat auch eine Gegenwart und eine Zukunft‘. Für ein Museum eine gute Werbung, finden Sie nicht auch? Aber leider eben nicht wahr! Adam und Eva, die geschichtslosen ersten Menschen, hatten sowohl Gegenwart als auch Zukunft, obwohl sie keine Vergangenheit hatten. Und was ist mit dem gesamten Kosmos? Sie kennen sicher die Theorie vom Urknall, aus dem das Universum und selbst Raum und Zeit entstanden sein sollen. Ihre Vertreter erklären, dass es vor dem Urknall weder Raum noch Zeit gegeben habe, so dass die Frage, was vor dem Urknall war, sinnlos sei. Ein geschichtsloses Universum also, das mit einem Knall beginnt und erst seitdem Geschichte, Gegenwart und Zukunft hat.“

„Ach, lassen wir doch das Universum sich in seine Zukunft ausdehnen so weit es will. Und lassen wir die Menschen ihre Geschichte machen, wie es ihnen beliebt. Kehren wir lieber zu uns zurück. Wir beide – Sie und ich – sind also in Palindromien Nicht-Paradieszahlen, während alle unsere Mutuanten – neunundsiebzig an der Zahl – Paradieszahlen sind.“

„Glauben Sie, dass das überall in Palindromien so der Fall ist?“, wollte die Mutuante wissen. „Und sollte dies so sein, wodurch zeichnen wir uns als Angehörige der Elite vor den anderen aus? Entschuldigen Sie, dass ich Sie mit solchen Fragen überfalle, aber sie kommen mir nun einmal ganz spontan, wenn ich hier mit Ihnen unter diesem Baum sitze und Sie reden höre.“

„Ich stelle sie mir ja selbst auch“, bekannte Ababa. „Eines lässt sich meines Erachtens mit Sicherheit sagen: Paradieszahlen gibt es nicht überall in Palindromien, sondern nur hier, im additiven Distrikt. Eine Zahl, die hier bei uns eine Paradieszahl ist, muß im subtraktiven Distrikt nicht unbedingt auch eine sein. Nehmen Sie z. B. eine unserer verehrten Freundinnen aus dem Mutuantenensemble, sagen wir, die 87l2. Sie ist im additiven Bezirk von Palindromien eine Paradieszahl, weil es keine andere Zahl gibt, die, zu ihrer Umkehrzahl addiert, die 87l2 ergibt. Versetzen Sie diese Zahl aber in den subtraktiven Modus, so erweist sie sich als Differenz von mir selbst und meiner Umkehrung.“

Ababa zeichnete mit einem Stock in den Sand: „98Ol – lO89 = 87l2“.

„Wenn Sie sich bitte überzeugen wollen“, sagte sie zu der Mutuante, die ihrerseits gestand:

„Nun ja, wir können ja nicht überall zur Elite gehören. Aber es bleibt doch hoffentlich dabei, dass die Nicht-Paradieszahlen im additiven Teil Palindromiens eine besondere Auslese aus der großen Masse sind, während alle anderen geschichtslose Paradieszahlen sind?“, wollte sie sich noch einmal vergewissern.

„Ich vermute es ebenfalls, aber sicher wissen können wir es nur, wenn wir die Besonderheiten benennen können, in denen wir uns von den Paradieszahlen unterscheiden.“

„Sie gedenken, die Bibel der Palindromier nach ihnen zu befragen?“, kam die Mutuante ihr zuvor.

[...]

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Ababa von Palindromien - Leben und Ansichten einer berühmten Zahl, in Wort und Bild aufgezeichnet von einem ihrer Verehrer
Untertitel
Bd. IV: Der Garten Eden und Parmenides
Note
"-"
Autor
Jahr
2008
Seiten
43
Katalognummer
V118620
ISBN (eBook)
9783640212118
ISBN (Buch)
9783640212149
Dateigröße
713 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ababa, Palindromien, Leben, Ansichten, Zahl, Wort, Bild, Verehrer
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Günter Kröber (Autor:in), 2008, Ababa von Palindromien - Leben und Ansichten einer berühmten Zahl, in Wort und Bild aufgezeichnet von einem ihrer Verehrer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118620

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Titel: Ababa von Palindromien - Leben und Ansichten einer berühmten Zahl, in Wort und Bild aufgezeichnet von einem ihrer Verehrer



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