Positionen der Sprachkritik und ihr Einfluss auf die "Wiener Gruppe"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Philosophische Positionen der modernen Sprachkritik
2. 1 Friedrich Nietzsche
2. 2 Fritz Mauthner
2. 3 Ludwig Wittgenstein
2. 4 Die Sapir-Whorf-Hypothese

3. Sprachkritische Ansätze im Werk der Wiener Gruppe
3. 1 Hans Carl Artmann
3. 2 Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner
3. 3 Konrad Bayer und Oswald Wiener

4. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Menschen können aus den unterschiedlichsten Gründen beschließen, Schriftsteller zu werden. Oswald Wiener tat es nach eigenen Angaben deswegen, weil ihm „ Sprache die nabe aller einsicht und allen umgangs schien.“[1] Auf den ersten Blick mag das nicht weiter verwundern, ist Literatur doch an Sprache als Mitteilungsmedium gebunden und kann nur durch sie ihre Aussageabsichten transportieren. So jedenfalls will es das traditionelle Literaturverständnis. Dieses jedoch teilte Wiener ebenso wenig wie Gerhard Rühm, Konrad Bayer, Hans Carl Artmann oder Friedrich Achleitner, die übrigen vier Mitglieder der als „Wiener Gruppe“ bekannt gewordenen österreichischen Künstlervereinigung. Als antibürgerliche Literaturavantgardisten im reaktionären Nachkriegs-österreich knüpften sie stattdessen an die kurz vorher noch als entartet verpönten Außenseiter der europäischen Moderne an, sahen in Sturm-Expressionismus und Dadaismus sowie in Autoren wie Arno Holz und Gertrude Stein ihre „eigentliche tradition“.[2] Anders als die populären zeitgenössischen Autoren des Landes verstanden sie Sprache nicht mehr als selbstverständlich gegebenes Ausdrucks- und Darstellungsmittel, sondern setzten sich in bewusster Reflektion kritisch mit ihr auseinander. In weit stärkerem Maß als ihre sprachexperimentellen Vorbilder ließen sie sich dabei von den Theorien und Erkenntnissen der sprachkritischen Philosophie beeinflussen. Als philosophische Teildisziplin beschäftigt sich die Sprachkritik, oder auch Sprachskepsis, vor allem mit der Beziehung zwischen Sprache, Wahrnehmung und Wirklichkeit; es ergeben sich vielfältige Berührungspunkte mit der Erkenntniskritik. Sprachkritisches Denken lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Beginnend mit Platons Kratylos-Dialog setzte es sich im mittelalterlichen Universalienstreit fort und wurde in der Neuzeit von Empiristen, Rationalisten und Humanisten gleichermaßen aufgegriffen. Im Kontext der Wiener Gruppe sind jedoch vorwiegend die sprachkritischen Positionen der Moderne von Bedeutung. Ob und auf welche Weise sie auf das Werk der Gruppe eingewirkt haben, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Dazu ist es zunächst notwendig, die relevanten philosophischen Positionen vorzustellen, was in Kapitel zwei geschehen wird. Daran anschließend wird Kapitel drei versuchen, die sprachkritischen Ansätze im Werk der einzelnen Gruppenmitglieder aufzuzeigen und ihre Beziehung zu den zuvor ausgeführten philosophischen Theorien herauszustellen.

2. Philosophische Positionen der modernen Sprachkritik

Der Beginn des 20. Jahrhunderts markierte zugleich einen Wendepunkt in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie. Wo bisher die Erkenntnistheorie im Zentrum des philosophischen Interesses gestanden hatte, trat nun mehr und mehr die Auseinandersetzung mit der Sprache an ihre Stelle, ja man kann sagen, „[d]ie Sprachphilosophie wurde zu einer philosophischen Basisdisziplin und zum Fundament für alle anderen philosophischen Fragestellungen.“[3] Dieser sogenannte „linguistic turn“ beeinflusste unterschiedliche Bereiche von Wissenschaft und Geistesleben der Zeit. So suchte die Linguistik nun verstärkt nach Theorien und Methoden, die die Funktionsweise der Sprache erklären konnten. Wegweisend war hier zunächst Ferdinand de Saussure und die von ihm begründete Systemlinguistik, bis diese schließlich in den 1960er Jahren von der linguistischen Pragmatik abgelöst wurde. Die Sprachphilosophie im engeren Sinne beschäftigte sich dagegen auf rein theoretischer Ebene mit den Konsequenzen ihrer Grundprämisse, der Unhintergehbarkeit von Sprache. Da der Ursprung aller menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis in der Sprache gesehen wurde, avancierte deren Analyse zur primären Aufgabe der Philosophie. Das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit definierte sich allein über die Sprache, welche so natürlich auch anfälliger für Kritik wurde. Gerade im frühen 20.Jahrhundert fiel diese Kritik so umfassend aus, dass man von der „Sprachkrise der Moderne“ zu sprechen begann, einer Krise, die sich – untermauert auch von den Erkenntnissen der Linguistik – rasch in Philosophie und Literatur ausbreitete. Die daraus hervorgehenden philosophischen Ansätze beeinflussten jedoch nicht nur die unmittelbar zeitgenössische Literatur, sondern blieben weit darüber hinaus wirksam und wurden gerade für die Wiener Gruppe zu einer wichtigen theoretischen Grundlage.

2. 1 Friedrich Nietzsche

Als sprachkritischer Philosoph ist Nietzsche vor allem mit der bereits 1873 verfassten, aber erst 1903 posthum erschienenen Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne in Erscheinung getreten, deren „Kerngedanke prinzipieller sprachlicher Uneigentlichkeit […] eine radikale Skepsis hinsichtlich der Wahrheitsfähigkeit von Sprache überhaupt“[4] initiiert hat. Nietzsche zufolge legt der Mensch seine Wahrheit selbst fest, indem er „eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erf[indet]“[5]: die Sprache. In ihrem konventionalisierten Gebrauch offenbaren sich demnach nicht etwa „Erzeugnisse der Erkenntnis“, und ebenso wenig „decken sich die Bezeichnungen und die Dinge“ (878). Vielmehr versteht Nietzsche ein Wort als die „Abbildung eines Nervenreizes in Lauten“ (878) ohne Ursache in der außermenschlichen Wirklichkeit. Für ihn ist folglich die Sprache – wie später auch für de Saussure – eine willkürliche Übertragung: „Das ‚Ding an sich’ […] ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen“ (879). Dabei arbeitet dieser Sprachbildner mit Metaphern, die den ursprünglichen Dingen in keiner Weise entsprechen – der Nervenreiz wird zum Bild, das Bild zum Laut. Schließlich werden die anschaulichen Metaphern sogar in abstrakte Begriffe und Schemata überführt, die in der Wirklichkeit umso weniger eine Entsprechung finden. Sie kategorisieren stattdessen diese Wirklichkeit nach menschlichen Maßstäben und schaffen „Urformen“, die alle individuellen Unterschiede einebnen und in der außersprachlichen Realität nicht existent sein können.[6] Die Definition, die Nietzsche aus diesen Überlegungen ableitet, ist berühmt geworden:

Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind… (880f.)

Die menschliche Wahrheit ist stets subjektiv, sie „gründet sich nicht auf ein Erkennen der Dinge selbst, sondern auf ein Hineintragen menschlicher Ordnungsformen in die Natur“.[7] Unser Erkenntnisvermögen ist unabdingbar an die von uns erfundene Sprache gebunden, und das heißt auch, dass weder durch die Wissenschaft noch die Philosophie, die ja beide auf sprachlichen Begriffssystemen basieren, eine Erkenntnis objektiver Wahrheiten möglich ist. Im Gegenteil, der „Forscher nach solchen Wahrheiten sucht im Grunde nur die Metamorphose der Welt in den Menschen“, er „vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst“ (883). Nur so können die meisten Menschen in Ruhe leben, sicher verankert in der zur Wahrheit erklärten Ordnung ihres Begriffsgerüsts. Den metaphorischen Prozess der Sprache als solchen wahrzuhaben, würde ihrem Selbstbewusstsein gefährlichen Schaden zufügen. Für Nietzsche jedoch liegen darin mehr Chancen als Risiken. Die Metaphernbildung begreift er als ästhetisch-künstlerischen Akt, der zwar einer Erkenntnis der Wirklichkeit für immer im Wege stehen mag, durch den aber jeder Einzelne sich seine subjektive Wahrheit festlegen kann. Als Ideal postuliert er daher den „intuitiven Menschen“, der „den metaphorischen Charakter seiner Sprache erkennt und anerkennt [und dadurch] frei [wird] zum Spiel mit der Sprache, zum Spiel mit den Signifikanten“[8]:

Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststü name="_ftnref9" title="">[9]

Mauthners Sprachkritik ist immer auch eine radikale Erkenntniskritik. Sprache und Denken sind für ihn identisch[10], ihnen entspricht jedoch nichts in der konkreten Wirklichkeit. Auch ist Sprache kein Werkzeug, sie wird vielmehr nur im jeweils aktuellen Sprechakt real, ist demnach „gar nichts anderes als ihr Gebrauch, Sprache ist Sprachgebrauch.“[11] Als soziale Wirklichkeit ist sie stets abhängig von den Wahrnehmungen der menschlichen „Zufallssinne“, jener Sinne also, die wir im Laufe einer zufälligen evolutionären Entwicklung herausgebildet haben: „Für den Menschen existiert natürlich nur die Welt, die er wahrnimmt, das, worauf er durch seine Sinne die Aufmerksamkeit zu richten sich gewöhnt hat: die Zufallsausschnitte seiner Zufallssinne“ (I, 389). Die so empfangenen Sinnesreize vermitteln notwendigerweise nur Bruchstücke der Realität, und doch formen sie – und sie allein – die Basis unseres Denkens, „weil nichts im Denken sein kann, was nicht vorher in den Sinnen war“ (I, 360). Denken und Sprechen bestehen folglich nur aus Erinnerungen an zuvor wahrgenommene Sinnesreize; die Sprache definiert Mauthner daher als „das Gedächtnis des Menschengeschlechts“ (I, 405).

Dieser Sprache kommen ihm zufolge drei Funktionen zu. Zum ersten dient sie als Alltagssprache der zwischenmenschlichen Kommunikation und erfüllt dabei bis zu einem gewissen Grad auch ihren Zweck. Sprache in diesem Kontext ist zu verstehen als „weltumspannendes und fast majestätisches Gesellschaftsspiel“ (I, 25), das zwar keine Beziehung zur Wirklichkeit hat, aber nach geordneten Regeln abläuft, denen sich die „Mitspieler“ unterwerfen. Eine eindeutige Verständigung kann es dennoch nicht geben, denn im Gegensatz zu den Spielregeln, die allen bekannt sind, ist das „Spielmaterial“, also die Worte und ihre Inhalte,[12] subjektiven Schwankungen unterworfen. Ein Wort hat laut Mauthner „nicht bei zweien genau den gleichen Inhalt, den gleichen Umfang, den gleichen Wert“ (I, 50), woraus er die pessimistische Schlussfolgerung zieht: „Ein Hauptmittel des Nichtverstehens ist die Sprache. […] Durch die Sprache haben es sich die Menschen für immer unmöglich gemacht, einander kennen zu lernen“ (I, 56). Diese alltägliche Mitteilungssprache klammert Mauthner allerdings ausdrücklich aus seiner Sprachkritik aus.[13]

Auch der zweite Funktionsbereich, die Sprache der Poesie, ist für ihn nicht zentral, da er hier keinen Ansatzpunkt für seine Kritik findet – vorausgesetzt, man akzeptiert, dass auch die poetische Sprache keine außersprachliche Wirklichkeit verkünden kann. Sie allein profitiert vom subjektiven Wesen der Sprache, denn „was für die Erkenntnis ein Störfaktor ist, nutzt die Poesie als ihr ‚eigentliches Element’: die Uneigentlichkeit, das Indirekte, Stimmungsgebundene, Konnotative, die Unschärferelationen.“[14] Entsprechend sieht Mauthner ihre primäre Aufgabe darin, Stimmungen zu erzeugen, was mit dem Kunstverständnis der Wiener Gruppe sicherlich nicht korrespondiert.

Im Zentrum von Mauthners Überlegungen steht der dritte Funktionsbereich: die Sprache als Werkzeug der Erkenntnis. Seine diesbezügliche Kritik ist auch wirkungsgeschichtlich am relevantesten. Dass bei Mauthner Sprachkritik und Erkenntniskritik in engem Zusammenhang stehen, wurde bereits dargestellt. Als soziale Konvention, die auf den durch die Zufallssinne erzeugten Erinnerungen basiert, kann Sprache keinen Zugang zu einer außersprachlichen Wirklichkeit und damit keine Welterkenntnis ermöglichen, sondern muss sich in sich selber drehen: „Alle sprachliche Erkenntnis verbleibt im Rahmen des schon Gewußten.“[15] Sämtlichen Theorien vom Abbildcharakter der Sprache erteilt Mauthner eine klare Absage, denn: „Die Sprache kann niemals zur Photographie der Welt werden, weil das Gehirn des Menschen keine ehrliche Camera obscura ist, weil im Gehirn des Menschen Zwecke wohnen und die Sprache nach Nützlichkeitsgründen geformt haben“ (I, 48). Wie unser Wahrnehmungswissen, so ist auch die Sprache „anthropomorphisch, konventionell, traditionell“ (I, 31). Sie erst gibt der Wirklichkeit die Ordnung, die wir in ihr zu erkennen glauben; sie zwingt uns, die Welt nach ihren Gesetzen zu sehen; sie determiniert unser Denken und unser Weltbild.

Aus diesem Befund zieht Mauthner ernste Konsequenzen für die Bedingung menschlicher Existenz. Sprache wird ihm zum Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt, zum Tyrann, dem wir alle vollkommen ausgeliefert sind. Sie zwingt uns ihre Wirklichkeit auf und fungiert zusätzlich als soziales und politisches Machtinstrument.

Die Sprache ist die Peitsche, mit der die Menschen sich gegenseitig zur Arbeit peitschen. Jeder ist Fronvogt und jeder Fronknecht. Wer die Peitsche nicht führen und unter ihren Hieben nicht schreien will, der heißt ein stummer Hund und Verbrecher und wird beiseite geschafft. (I, 86)

Handlungen werden durch die Macht der Sprache ausgelöst – ein Vorgriff auf die linguistische Pragmatik – und Ideologien geformt. In den Dienst dieser Ideologien stellen sich vor allem abstrakte Begriffe, deren einstige Bedeutung im Lauf ihrer historischen Entwicklung verloren gegangen ist, und die nun als vieldeutige „Scheinbegriffe“ die unterschiedlichsten Assoziationen hervorrufen und „dem Menschen als Bezeichnung bleibender, ewig gültiger Entitäten gegenübertreten.“[16] Durch institutionalisierte Instanzen wie Staat oder Schule werden solche Abstrakta jedem Einzelnen von Kindheit an vermittelt. Zudem finden sie sich verstärkt in allen Formen spekulativen Denkens wie Philosophie, Religion, Wissenschaft und Ethik, die sich damit nicht nur der Inhaltsleere schuldig machen, sondern auch der Erziehung zur Unmündigkeit durch Sprache.[17] In Anlehnung an den Individualanarchisten Max Stirner geht bei Mauthner die Sprachkritik auch in eine Ideologiekritik über. Alle idealistischen Denksysteme beruhen letztlich auf einer Täuschung durch die Sprache, denn niemand kann sich aus selbiger herausbewegen: „Eine Befreiung aus dieser Unfreiheit gibt es nicht“ (I, 500). Damit verurteilt Mauthner das erklärte Ziel seiner Sprachkritik, die „Befreiung von der Sprache als höchstes Ziel der Selbstbefreiung [zu] lehren“ (I, 713), schon von vornherein zum Scheitern. Einzig im Schweigen hätte ein Ausweg aus dem Gefängnis Sprache gelegen, eine Chance für jedes Individuum, die verlorene Einheit mit der Welt zurückzugewinnen und damit auch die Möglichkeit ihrer Erkenntnis: „Und die Natur vollends ist sprachlos. Sprachlos würde auch, wer sie verstünde“ (I, 49). Doch letztlich bleibt auch dieser Ausweg Illusion.

2. 3 Ludwig Wittgenstein

„Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik’. (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.)“[18] – so schreibt Wittgenstein in seinem wohl bekanntesten Werk, dem 1918 verfassten und 1921 erstmals veröffentlichten Tractatus logico-philosophicus. Von dem an Sprachhass grenzenden Sprachpessimismus seines Kollegen setzt er sich damit deutlich ab, wiewohl auch für ihn die Philosophie, wie sie gewöhnlich betrieben wird, notwendigerweise inhaltsleer, ja „unsinnig“ (4.003) ist, da sie die Logik der Sprache ignoriert. Wittgenstein postuliert daher eine Philosophie, die „keine Lehre, sondern eine Tätigkeit“ (4.112) ist und deren Zweck ausschließlich in der „logische[n] Klärung der Gedanken“ (4.112) besteht. Er setzt die Philosophie klar von den Naturwissenschaften ab und zieht daraus die grundlegende Schlussfolgerung: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft […], und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat“ (6.53). In diesem Sinn kann Philosophie tatsächlich nichts anderes sein als Sprachkritik, und man beginnt zu verstehen, worauf Wittgenstein abzielt, wenn er „den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fa[ßt]: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“[19]

Das, was sich „klar sagen“ lässt, analysiert Wittgenstein als Vertreter der analytischen Sprachwissenschaft in der Nachfolge Gottlob Freges und Bertrand Russells mit streng logischen Mitteln. Anders als Mauthner scheint er dabei weiterhin von der Existenz einer Dichotomie Welt – Sprache auszugehen. Die Welt ist für ihn „alles, was der Fall ist“ (1), und „[w]as der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten“ (2). Wittgenstein setzt also von vornherein auf Ebene des Sachverhalts als einer „Verbindung von Gegenständen“ (2.01) an. Der Grund dafür liegt in der menschlichen Wahrnehmung, die sich nie auf isolierte Gegenstände beschränkt. Wir können uns „ keinen Gegenstand außerhalb der Möglichkeit seiner Verbindung mit anderen denken“ (2.0121). Aufgrund unserer Wahrnehmung machen wir uns „Bilder der Tatsachen“ (2.1), die mit der Wirklichkeit die „logische Form der Abbildung“ (2.2) gemein haben müssen. Diese Bilder können wahr oder falsch sein, was ausschließlich im Vergleich mit der Wirklichkeit festzustellen ist. „Das logische Bild der Tatsachen“ definiert Wittgenstein als den Gedanken (3), dessen sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck als den Satz (3.1) und die Gesamtheit der Sätze als die Sprache (4.001). Bereits für das Bild gilt: „Daß sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten stellt vor, daß sich die Sachen so zu einander verhalten“ (2.15). Ebenso ist auch der Satz und damit die Sprache zu verstehen als „ein Bild der Wirklichkeit“ (4.01; 4.06), dessen Möglichkeit „auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen“ (4.0312) beruht. Das Verhältnis zwischen (Sprach-)Zeichen und Welt deutet Wittgenstein folglich als Abbildverhältnis; seine Kernthese lässt sich nach Blume/ Demmerling so fassen: „Die Struktur der Welt ist mit der Struktur der Sprache identisch.“[20] Diese gemeinsame Struktur bezeichnet Wittgenstein als „logische Form“ (4.12) und erläutert sie in seinem Tagebuch folgendermaßen: „Im Satz wird eine Welt probeweise zusammengestellt. (Wie wenn im Pariser Gerichtssaal ein Automobilunglück mit Puppen etc. dargestellt wird.)“[21] Ein Beispiel auf Sprachebene liefern Blume/ Demmerling mit dem Satz „Der Baum steht links vom Haus.“, in dem die Anordnung der Zeichen tatsächlich der Anordnung der abgebildeten Gegenstände entspricht.[22] Freilich lässt sich dieses Abbildverhältnis nicht immer derart unmissverständlich nachvollziehen. Das lastet Wittgenstein der gegenwärtigen Natur der Sprache an: „Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides, nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann“ (4.002). Eines der Ziele seiner Sprachanalyse ist es daher, die Übereinstimmungen von Sprache und Welt „durch Umformulierung und Formalisierung offen zu legen.“[23] Das soll durch eine formale Sprache geschehen, die „nicht das gleiche Zeichen in verschiedenen Symbolen, und Zeichen, welche auf verschiedene Art bezeichnen, nicht äußerlich auf die gleiche Art verwendet. Eine Zeichensprache also, die der logischen Grammatik – der logischen Syntax – gehorcht“ (3.325).

Der Aufbau der Sprache gestaltet sich für ihn wie folgt: Die einfachsten, nicht weiter zu zergliedernden Elemente sind die Namen oder auch „Urzeichen“ (3.26). Sie stehen im Satz stellvertretend für Gegenstände (3.203). Nur wenn die Relation zwischen Name und Gegenstand eindeutig ist, kann ein Satz Sinn haben (3.23). Durch die Zusammensetzung von Namen lassen sich „Elementarsätze“ bilden, die jeweils „das Bestehen eines Sachverhaltes“ (4.21) behaupten. Sie können wahr oder falsch sein, also auf einen bestehenden oder einen nicht bestehenden Sachverhalt verweisen (4.25). Der (komplexere) Satz ist demnach „eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze“ (5). Auf dieser Basis gelangt Wittgenstein zu dem Schluss: „Die Welt ist vollständig beschrieben durch die Angaben aller Elementarsätze plus der Angabe, welche von ihnen wahr und welche falsch sind“ (4.26). Die gesamte empirische Realität, also „die Gesamtheit der Gegenstände“ (5.5561) und ihrer Verbindungen, ist so durch die Sprache darstellbar. Alle wahren Sätze zusammengenommen geben „die gesamte Naturwissenschaft“ (4.11) wieder.

[...]


[1] Wiener (1987), S. 46.

[2] Rühm (21985), S. 9.

[3] Blume/ Demmerling (1998), S. 9.

[4] Meyer (2003), S. 481.

[5] Nietzsche (21988), S. 877. Im Folgenden werden Zitate hieraus durch Angabe der Seitenzahl im Text selbst belegt.

[6] Als Beispiel nennt Nietzsche den Begriff „Blatt“, der eine einheitliche „Urform“ suggeriert, während in der Natur kein Blatt dem anderen gleicht. (Vgl. Nietzsche (21988), S. 880)

[7] Schiewe (1998), S. 187.

[8] Schiewe (1998), S. 189.

[9] Kühn (1975), S. 51.

[10] Vgl. ebd., S. 176: „es gibt kein Denken ohne Sprechen, das heißt, ohne Worte. Oder richtiger: Es gibt gar kein Denken, es gibt nur Sprechen. Das Denken ist das Sprechen auf seinen Ladenwert hin beurteilt.“

[11] Mauthner (31923), Bd. I, S. 24. Im Folgenden werden Zitate aus Beiträge zu einer Kritik der Sprache unter Angabe von Band und Seitenzahl im Text vermerkt.

[12] Vgl. Schiewe (1998), S. 190.

[13] Vgl. Mauthner (31923), Bd. I, S. 40, 70.

[14] Lütkehaus (2000), S. 26.

[15] Kühn (1975), S. 65.

[16] Kurzreiter (1993), S. 122.

[17] Vgl. hierzu Kurzreiter (1993), S. 101-129.

[18] Wittgenstein (2003), Satz 4.0031. Im Folgenden werden Zitate aus dem Tractatus durch Angabe der Satznummer im Text vermerkt.

[19] Wittgenstein (2003), S. 7 (Vorwort).

[20] Blume/ Demmerling (1998), S. 61.

[21] Wittgenstein (1984), S. 94f.

[22] Vgl. Blume/ Demmerling (1998), S. 62.

[23] Blume/ Demmerling (1998), S. 62.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Positionen der Sprachkritik und ihr Einfluss auf die "Wiener Gruppe"
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
31
Katalognummer
V117227
ISBN (eBook)
9783640197453
ISBN (Buch)
9783640198474
Dateigröße
557 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Positionen, Sprachkritik, Wiener, Rühm, Artmann, Nietzsche, Mauthner, Wittgenstein, Sprachskepsis, Whorf, Achleitner, Bayer, Wiener Gruppe
Arbeit zitieren
Antje Wulff (Autor:in), 2008, Positionen der Sprachkritik und ihr Einfluss auf die "Wiener Gruppe", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117227

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