"Statische Vorgänge"

Zur Rolle des Meditativen in Awet Terterjans sechster Sinfonie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

I. Hinführung

II. Hauptteil:
1. Der Komponist Terterjan im armenischen Kontext
2. Die sechste Sinfonie – zwischen Statik und Prozess
a) Zur Funktion der Tonbänder
b) Partituranalyse: Meditation und Epiphanie
c) Zum Begriff des Sinfonischen bei Terterjan

III. Schlussbemerkung

IV. Literaturverzeichnis

I. Hinführung

"Gerade die Musikwissenschaft stellt für das Mittelmaß eine besondere Gefahr dar (daher auch der ständige Haß ihr gegenüber). Kennen doch Musikwissenschaftler […] auf Grund der Spezifik ihres Berufes […] sehr viel mehr Komponisten. Auch hier dienen selbstverständlich mittelmäßige Musikologen mittelmäßigen Komponisten, aber ein ehrlicher, gebildeter Musikwissenschaftler, der sich nicht in den Dienst der Konjunktur stellt und die Vorgänge zu durchschauen vermag, bringt die Karten der Pseudokomponisten ordentlich durcheinander […]: Er nennt die Dinge bei ihrem Namen, zeigt Geistlosigkeit auf, wo Geistlosigkeit vorliegt. 1 "

Awet Terterjans Hochschätzung zum Trotz fällt die musikologische Auseinandersetzung mit dem armenischen Komponisten außerhalb des ehemals sowjetischen Raumes sehr gering aus. So verwundert es nicht, dass sich unter der im bibliographischen Anhang aufgeführten Literatur nur eine Veröffentlichung findet, die sich konkret mit einem Werk Terterjans beschäftigt: Hannelore Gerlachs Aufsatz 'Das »dam« in der 6. Sinfonie von Awet Terterjan', der ein wichtiges Fundament für die im Rahmen der vorliegenden Arbeit angestellten Untersuchung darstellt. Terterjans sechste Sinfonie wird darin ebenfalls vom Begriff des 'dam', des 'unendlichen' Tons2, ausgehend betrachtet, um auf dieser Grundlage ihren statisch- repetitiven Stil und dessen Einbindung in einen zeitlichen Prozess deutlich und deutbar zu machen. Als erster Schritt wird hierbei eine Verortung des Komponisten und seiner Philosophie im armenischen Kontext versucht, um dann zur ausführlichen Betrachtung der Sinfonie selbst (unter den bereits genannten Gesichtspunkten) fortzuschreiten. Abschließend folgt eine kurze Erörterung der Frage, inwieweit Terterjans Komposition tatsächlich als 'sinfonisch' bezeichnet werden kann.

Wichtige Hilfen bei der Erarbeitung dieser Fragestellungen stellten Tatjana Porwolls kurzer Aufsatz 'Schwingungen des Kosmos. Zeitgenössische Musik in Armenien',

George Bournoutians und Tessa Hofmanns allgemeinhistorische Monographien 'A Concise History of the Armenian People' und 'Annäherung an Armenien. Geschichte und Gegenwart', sowie Terterjans (sich inhaltlich großteils überschneidende) Texte 'Der Komponist heute' und 'Es geht um die Rettung wahrhaft großer Kunst'.

Die verschiedenen Umschriften von Terterjans Namen habe ich in den bibliographischen Angaben in ihren Varianten belassen, da eine Angleichung das Auffinden der verwendeten Literatur unnötig erschweren würde.

II. Hauptteil

1. Der Komponist Terterjan im armenischen Kontext

Die armenische Kulturrenaissance des 19. Jahrhunderts brachte nicht nur politische, sondern auch künstlerische Impulse aus Europa mit sich. An Universitäten und Akademien in Frankreich, Deutschland, Italien, Russland und der Schweiz studiert3, richteten Vertreter der armenischen Intelligenzija nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer Druckerpressen ein, gründeten Zeitungen und Schulen4. Durch die Hebung des Bildungsniveaus der unter türkischer bzw. russischer Herrschaft lebenden west- und ostarmenischen Bevölkerungen suchten die Urheber dieser Maßnahmen ein Nationalgefühl zu befördern und schließlich der sozialen und politischen Emanzipation der Armenier näher zu kommen5. Im Rahmen dieser Entwicklungen bildete sich nicht nur eine neue armenische Schriftsprache heraus, sondern es wurden auch europäische Autoren ins Armenische übersetzt, Werke im romantischen Stil geschrieben und klassische Tragödien aufgeführt6. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten armenischen Sinfonieorchester, 1868 die erste Oper, Anfang des 20. Jahrhunderts folgten schließlich die ersten sinfonischen Werke armenischer Komponisten7.

Nachdem die westarmenische Kultur infolge des Völkermords von 1915/16 durch das Jungtürkenregime, der auch nach bald einem Jahrhundert nichts an politischer Brisanz eingebüßt hat, ihre Relevanz für die hier behandelten Entwicklungen verlor, verbleibt der Fokus der Betrachtung auf Ostarmenien allein. Unter den vorrangig an den Konservatorien Moskaus und Leningrads ausgebildeten Komponisten8 war es hier vor allem Aram Chatschaturjan zu verdanken, armenische sinfonische Musik in der Sowjetunion und weltweit bekannt gemacht zu haben, indem er traditionell-

westliche Kompositionsformen mit folkloristischem (oder folklorisierendem) Kolorit verband9. Chatschaturjan darf als künstlerischer Vater einer Generation armenischer Komponisten gelten, die sich in der Konfrontation mit dessen Hinterlassenschaft intensiv mit der Frage armenischer und armenischer musikalischer Identität auseinandersetzte und auseinandersetzt. So bemerkt der 1939 geborene Tigran Manssurjan in diesem Zusammenhang:

"Chatschaturjan war ohne Zweifel ein außerordentlich begabter Komponist, der Maßgebliches zur Aufwertung der neuen armenischen Musik geleistet und dadurch ihr Ansehen gefördert hat. Aber seine Musik lebt nur von dekorativen Motiven; sie basiert auf leichten und populären Volksweisen. Die mystische Tiefgründigkeit der armenischen Musik fehlt ihr. Das jahrhundertelange bittere Schicksal des armenischen Volkes wurde durch festliches Oberflächenkolorit verdeckt. 10 "

Mit dieser Einschätzung aber steht Manssurjan Tatjana Porwoll zufolge nicht alleine, die zu dem Schluss kommt: "Die neue armenische Musik steht damit im Gegensatz zur Musik von Chatschaturjan. 11 " Tatsächlich weist diese eine stilistische Bandbreite auf, die von den Epigonen Chatschaturjans über meditative, an die armenische Kirchenmusiktradition anknüpfende Konzeptionen bis hin zum Einsatz von an der westlichen Avantgarde geschulten Techniken reicht12.

Auch die Musik Terterjans, der 1929 in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku geboren wurde, könnte Chatschaturjan in ihrer konzeptionellen und technischen Ausformung ferner kaum sein. Tatsächlich ist es dem Komponisten, gerade in der dieser Arbeit zugrunde liegenden sechsten Sinfonie, gelungen, eine ganz eigene Antwort nicht nur auf die Frage nach einem dezidiert 'armenischen Stil' zu geben, sondern auch auf die Frage, wie eine Sinfonie 'im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit' von Musik klingen kann. Bevor jedoch dieses spezielle Werk in den folgenden Kapiteln näher untersucht werden wird, erscheint es angebracht, noch einige Worte über Terterjan selbst zu verlieren. Seine Entscheidung, nach dreijähriger Ausbildung an der Musikhochschule Baku in die benachbarte Sowjetrepublik Armenien zu emigrieren, um in Jerewan einem ausgedehnten

Kompositionsstudium nachzugehen13, steht wahrscheinlich in enger Verbindung zu jener spezifisch armenischen Identitätssuche, die im Zitat Manssurjans bereits angedeutet wurde. Dieses Phänomen, das Porwoll als kennzeichnend für "viele zeitgenössische armenische Komponisten 14 " benennt, lässt sich aus der Geschichte der Armenier erklären, die sich trotz der vielen Jahrhunderte der Fremdbestimmung durch okzidentalische wie orientalische Mächte die Idee einer kulturellen Identität bewahrt haben, wobei nicht zuletzt die seit Anfang des vierten Jahrhunderts bestehende armenisch-apostolische Kirche und die etwa 100 Jahre jüngere eigene Schriftsprache als wichtige Faktoren dieser Entwicklung gesehen werden15. Auf beide nimmt Terterjan in seiner sechsten Sinfonie deutlichen Bezug. Die armenische Kulturrenaissance und der Völkermord waren und sind weitere Anstöße für historisches Interesse und politische Aktivität, ebenso wie für patriotische Neigungen. Terterjan, der in seinen Texten 'Der Komponist heute' und 'Es geht um die Rettung wahrhaft großer Kunst' ausführlich über Ausbildung und Qualitäten, die zukünftige Komponisten seines Erachtens besitzen sollten, handelt, unterstreicht hier neben der Bedeutung von Erkenntnisstreben und eines profunden und international ausgerichteten Wissens in den Bereichen der Philosophie, Geschichte und Religion16 explizit die Notwendigkeit politischen Denkens und Handelns:

"Natürlich ist solche Hingabe überhaupt nichts wert, wenn der Künstler nicht auf der Höhe der Zeit steht. Wenn ihm nicht alles, was ihn auf der Welt umgibt, lieb und teuer ist, wenn ihn das Schicksal der Menschheit und die Gefahr einer möglichen Katastrophe nicht interessieren. 17 "

Hier offenbart sich auch Terterjans eigene patriotische Veranlagung, die sicher mit Grund für seine Übersiedlung nach Armenien war:

"Ein Künstler kann nicht sein, wer nicht erfüllt ist von Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein, von der Liebe zu seinem Heimatland. 18 "

[...]


1 Terterjan, Awet: Der Komponist heute. In: Danuser, Hermann (Hrsg.): Sowjetische Musik im Licht der Perestroika. Interpretationen. Quellentexte. Komponistenmonographien. Laaber 1990. S.307. Im Folgenden zitiert als 'Terterjan 1'.

2 Vgl. Gerlach, Hannelore: Das "dam" in der 6. Sinfonie von Awet Terterjan. In: Danuser, Hermann (Hrsg.): Sowjetische Musik im Licht der Perestroika. Interpretationen. Quellentexte. Komponistenmonographien. Laaber 1990. S. 145. Im Folgenden zitiert als 'Gerlach'.

3 S. Bournoutian, George: A Concise History of the Armenian People. Costa Mesa, Ca. 2003. S.286. Im Folgenden zitiert als 'Bournoutian'.

4 Ebenda, S. 198ff. u. 283ff.

5 Ebenda, S. 283. Vgl. a. Hofmann, Tessa: Annäherung an Armenien. Geschichte und Gegenwart. München 1997. S. 63ff. Im Folgenden zitiert als 'Hofmann'. Dieses neu gewonnene politische Bewusstsein zeigt sich nicht zuletzt in der Verfassung, die sich die osmanischen Armenier 1863 gaben. Vgl. Bournoutian, S. 200ff.

6 S. Bournoutian, S. 198ff. u. 283ff.

7 S. Pahlevanian, Alina et al.: Armenia. In: Grove Music Online. http://www.oxfordmusiconline.com.ubproxy.ub.uni- heidelberg.de/subscriber/article/grove/music/42078. Im Folgenden zitiert als 'Pahlevanian'.

8 Ebenda.

9 Vgl. Sarkisyan, Svetlana: Khachaturian, Aram. In: Grove Music Online. http://www.oxfordmusiconline.com.ubproxy.ub.uni- heidelberg.de/subscriber/article/grove/music/14956.

10 Porwoll, Tatjana: Schwingungen des Kosmos. Zeitgenössische Musik in Armenien. In: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik. Bd. 32. Köln 1989. S. 21. Im Folgenden zitiert als 'Porwoll'.

11 Ebenda.

12 S. Pahleyanian. Vgl. a. Porwoll, S. 21f.

13 S. Pahleyanian.

14 Porwoll, S. 21.

15 Vgl. Hofmann, S. 30ff.

16 S. Terterjan, Awet: Es geht um die Rettung wahrhaft großer Kunst. Zur Aufgabe der Komponisten in Armenien. In: MusikTexte. Zeitschrift für neue Musik. Bd. 32. Köln 1989. S. 24. Im Folgenden zitiert als 'Terterjan 2'.

17 Terterjan 1, S. 301. Vgl. a. Terterjan 2, S. 24.

18 Ebenda.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
"Statische Vorgänge"
Untertitel
Zur Rolle des Meditativen in Awet Terterjans sechster Sinfonie
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Musikwissenschaftliches Seminar)
Veranstaltung
Sinfoniekonzeptionen nach 1945
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
25
Katalognummer
V116887
ISBN (eBook)
9783640189915
Dateigröße
519 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sinfoniekonzeptionen, Terterjan, Terteryan, Terterian, dam, Sinfonie Nr. 6, Armenien, 20. Jahrhundert, Sinfonik, Symphonik, Symphonie Nr. 6, Symphoniekonzeptionen, Awet Terterjan, Avet Terterian
Arbeit zitieren
Wolfgang Schultz (Autor:in), 2008, "Statische Vorgänge", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116887

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