Welche Konsequenzen ergeben sich aus den neuesten Befunden der Hirnforschung für den Umgang mit dem 'kindlichen Dysgrammatismus'?


Hausarbeit, 2007

45 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die neuesten Befunde der Hirnforschung
2.1 Sprache und Gehirn
2.2 Kindlicher Grammatikerwerb als implizites Lernen

3. Der kindliche Grammatikerwerb
3.1 ‚Vorgrammatische Fähigkeiten’
3.2 Die fünf Phasen nach Clahsen

4. Erklärungsansätze des Grammatikerwerbs – Spracherwerbstheorien
4.1 Nativistische Ansätze
4.2 Kognitivistische Ansätze
4.3 Interaktionistische Ansätze
4.4 Integrative Spracherwerbstheorie nach Dannenbauer

5. Vom ‚Agrammatismus infantilis’ zur ‚Spezifischen Spracherwerbsstörung’ – Die Forschung des kindlichen Dysgrammatismus im Überblick
5.1 Der ‚Agrammatismus infantilis’
5.2 1980er Jahre: Befunde zu sprachlichen Leistungsbereichen
5.3 1990er Jahre: Befunde zu nichtsprachlichen Leistungsbereichen
5.4 Vom Dysgrammatismus zur Spezifischen Sprachentwicklungsstörung

6. Zur Therapie der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung
6.1 Zur Problematik der Diagnose
6.2 Die entwicklungsproximale Sprachtherapie

7. Schlussbetrachtung

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Die Sprache ist zentral für das menschliche Leben“[1]. Unser Leben ist von Sprache geprägt. Sie ermöglicht die Kommunikation mit anderen Menschen und ist eng mit unseren kognitiven und sozialen Fähigkeiten verbunden. Durch Sprache können wir Wünsche, Intentionen und Abneigungen ausdrücken. Auch Fortschritte im Denken werden durch Sprache ermöglicht, da Denken und Sprache in einer engen Wechselbeziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen[2]. Ferner kommt der Sprache in unserer Gesellschaft ein hoher Stellenwert zu. Nur wer die Fähigkeit besitzt, sich sprachlich sicher und situationsangemessen auszudrücken, verfügt über die wichtigste Voraussetzung für einen erfolgreichen schulischen und beruflichen Werdegang[3]. Einige Kinder besitzen diese Fähigkeit allerdings nicht. So gibt es manche Kinder, bei denen der Spracherwerb auffällig verläuft. Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit den Kindern, die vor allem Schwierigkeiten bezüglich der Grammatik aufweisen, in nichtsprachlichen Entwicklungsbereichen dennoch eine relativ unauffällige Entwicklung durchlaufen. Dieses Phänomen wurde lange Zeit als ‚Dysgrammatismus’ bezeichnet und betrifft nach Dannenbauer (2002) 6-8 % der Kinder im Vorschulalter[4]. Gerade da Sprache eine immense Bedeutung für das gesamte Leben hat, ist es wichtig, den Dysgrammatismus frühzeitig zu erkennen und zu therapieren, um diesen Kindern eine zukunftsweisende Perspektive zu geben.

Im Mittelpunkt der Hausarbeit steht die Fragestellung, welche Konsequenzen sich aus den neuesten Befunden der Hirnforschung für den Umgang mit dem kindlichen Dysgrammatismus ergeben. Um diese Frage beantworten zu können, sollen im ersten Abschnitt zunächst die neuesten Befunde der Hirnforschung im Hinblick auf die Sprache und das Erlernen der Grammatik dargestellt werden.

Im darauffolgenden Abschnitt wird der kindliche Grammatikerwerb dargelegt, wie er in der Regel bei sprachunauffälligen Kindern verläuft. Ferner werden auch die vorgrammatischen Fähigkeiten Beachtung finden, da die neuesten Befunde der Hirnforschung gezeigt haben, dass das Kind bereits mit einer ‚genetischen Grundausstattung’ auf die Welt kommt und unmittelbar nach der Geburt wesentliche Fähigkeiten besitzt.

Die Untersuchungen zum Dysgrammatismus beruhen auf jeweils unterschiedlichen Spracherwerbstheorien. Demzufolge liegt der Fokus des Erkenntnisinteresses auf unterschiedlichen Phänomenen, und die Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Es ist demnach unerlässlich zuerst die einzelnen Spracherwerbstheorien zu erläutern, um im darauffolgenden Abschnitt auf die Untersuchungen zum Dysgrammatismus eingehen zu können. Um das Phänomen des Dysgrammatismus in seiner Komplexität zu erfassen, wird ein Überblick über die Forschung des Dysgrammatismus seit 1901 gegeben. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf der terminologischen Veränderung, auf den Ursachenzuschreibungen sowie auf den Fragen liegen, die in der Dysgrammatismusforschung zur Diskussion stehen.

Im Anschluss daran wird unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen zunächst auf die Problematik der Diagnose hingewiesen. Daraufhin wird die entwicklungsproximale Sprachtherapie vorgestellt, die einen ganzheitlichen Ansatz aufweist.

Abschließend wird, nachdem die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst wurden, auf Verbesserungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Therapie und die Dysgrammatismusforschung eingegangen.

2. Die neuesten Befunde der Hirnforschung

Das Phänomen des Dysgrammatismus[5] wird nicht nur von Psychologen, Linguisten, Logopäden und Sprachheilpädagogen untersucht, sondern auch von Neurophysiologen und Neuropsychologen. Um das Phänomen des Dysgrammatismus angemessen erfassen zu können, ist es von Bedeutung, dass die verschiedenen Wissenschaftsbereiche integriert werden, da sie eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung aufweisen[6]. Hierbei sollten auch die neuesten Befunde der Hirnforschung berücksichtigt werden, da sie wichtige Hinweise für den Umgang mit dysgrammatischen Kindern liefern können. Daher soll im Folgenden der Zusammenhang zwischen Gehirn und Sprache aufgezeigt werden sowie der kindliche Grammatikerwerb unter den Aspekten der Hirnforschung betrachtet werden, um dann auf mögliche Therapieansätze bzw. Umgangsformen verweisen zu können, die diese Aspekte berücksichtigen.

2.1 Sprache und Gehirn

Die Evolution der menschlichen Sprachfähigkeit wurde vor allem aus dem Zusammentreffen dreier Ereignisse ermöglicht: Zum einen vollzog sich eine starke Vergrößerung des präfrontalen Cortex (Großhirnrinde), der (die) für die verbale Sprache zuständig ist und somit für die Grammatik und Syntax von besonderer Bedeutung ist. Zum anderen fand durch die Aufrichtung des menschlichen Körpers eine Umbildung des Kehlkopfes statt. Die relativ niedrige Lage des Kehlkopfes im Verhältnis zum weichen Gaumen und zur Zunge gestattet eine Ausweitung der Möglichkeiten der Lauterzeugung, insbesondere der Produktion von Vokalen. Darüber hinaus fand eine Weiterentwicklung der Sprachzentren statt, sodass die Menschen derzeit eine komplexe vokale Sprache besitzen[7].

Das Gehirn besteht aus einer riesigen Zahl an Neuronen, die untereinander synaptisch verschaltet sind. Diese neuronalen Verschaltungen bilden „neuronale Netzwerke“[8], die bereits 1894 von dem Wiener Physiologen Sigmund Exner beschrieben wurden. Er ging davon aus, dass das Gehirn aus Zentren besteht, die durch die Verbindung der neuronalen Faserzüge entstehen. Den verschiedenen Zentren kommen jeweils besondere Funktionen zu. Die Bedeutung von Exners Buch wurde erst heute erkannt[9].

Der Mathematiker Walter Pitts und der Physiologe Warren McCulloch demonstrierten 1943 anhand eines Rechnermodells, „[…] that every idea and every sensation is realized by activity within that net“[10]. Die komplexen Aufgaben des Alltags können jedoch nur bewältigt werden, wenn die elementaren Recheneinheiten richtig miteinander verbunden sind. Auch sie weisen auf den Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion hin. Ist die Struktur des Netzes zerstört, wirkt sich dies auf die jeweilige Funktion aus[11]. Das heißt, dass im Gehirn die richtigen Verschaltungen vorhanden sein müssen, wenn alle Aktivitäten richtig ausgeführt werden sollen[12]. Oláh geht im Hinblick auf den Dysgrammatismus davon aus, dass der Aufbau des sprachspezifischen Modules gestört wird, und dass „[…] es […] zu einer abweichenden Vernetzung kommt, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption beeinträchtigen kann“[13]. Untersuchungen des Berliner Physiologen Hermann Munk (1839-1912) haben jedoch gezeigt, dass die Hirnrinde fähig ist, gestörte bzw. „[…] verlorene Funktionen zu ersetzen, indem andere Hirnregionen die Rolle der zerstörten Hirnpartien übernehmen“[14].

„Allgemein entstehen die Grundlagen unseres Denkens und Erlebens während der ersten zehn Lebensjahre, da sich die neuronalen Verschaltungen im Gehirn zunächst nur vorläufig herausbilden und durch emotionale und motorische Erfahrungen erst noch gefestigt werden müssen“[15]. Deshalb ist es für die kindliche Entwicklung von besonderer Bedeutung, dass in den ersten Lebensjahren eine Vielfalt an Erfahrungen und Eindrücken gesammelt werden können, sodass sich die richtigen Verschaltungen bilden[16]. Der Hirnforscher Gerhard Roth weist ferner darauf hin, dass die Menschen bereits mit einer „psychischen Grundausstattung[17] “ auf die Welt kommen. Ab der sechsten Schwangerschaftswoche entsteht das „[…] limbische System, eine Art Schaltzentrale der Gefühle […]“[18], das das Gehirn des Embryos für sein ganzes Leben prägt. Die ersten drei bis sechs Lebensjahre nach der Geburt sind weitere prägende Jahre, die von lebenslanger Bedeutung sind[19]. Die Neurone und deren Schaltkreise besitzen zwar eine „neuronale Plastizität“[20], also die Fähigkeit, sich verändern zu können, jedoch ist das emotionale Grundgerüst zum Teil schon vorgeburtlich bestimmt und vor allem durch die Erfahrungen der ersten Lebensjahre geprägt. Das rationale Wissen hingegen ist am längsten veränderbar. Im Hinblick auf Sprachentwicklung, Kommunikation und Diplomatie können sich immer wieder neue Verschaltungen bilden. Das akademische Wissen ist ein Leben lang veränderbar[21].

Zusammengefasst lässt sich demnach festhalten, dass bereits vorgeburtlich ein ‚genetisches Grundgerüst’ vorhanden ist, welches in den ersten Lebensjahren noch einmal verändert und geprägt wird. Unser Gehirn besteht aus einem neuronalen Netzwerk, welches durch synaptische Verschaltungen entsteht. Ferner besitzen verschiedene Regionen des Cortex unterschiedliche Funktionen. Geistige Funktionen sind demzufolge in ganz bestimmten Regionen lokalisiert[22]. Auch die Sprache lässt sich im Gehirn lokalisieren. Bei den meisten Menschen ist vor allem die linke Hirnhälfte für die Sprache zuständig (bei 98 % der Rechtshänder wird Sprache stärker in der linken Hirnhälfte verarbeitet, jedoch trifft dies nur auf zwei drittel der Linkshänder zu)[23].

1861 hat der Pariser Anthropologe und Neurologe Paul Broca feststellen können, dass die Entstehung der Sprache im linken Teil der Großhirnrinde angesiedelt ist. Das Konzept des ‚Sprachzentrums’ in der linken Großhirnrinde hat sich bis heute gehalten und das ‚Sprachzentrum’ wurde nach Broca benannt[24]. Lange Zeit ging man davon aus, dass das Broca-Areal zentral an der Erzeugung der Sprache beteiligt ist, wohingegen das Wernicke-Areal (obere Windung des linken Schläfenlappens) am Verstehen von Sprache beteiligt ist. Neuere Untersuchungen ergaben allerdings, dass dieses Modell nicht mit der Komplexität des Gehirns zu vereinen ist. Sprachfunktionen beschränken sich nicht auf eng begrenzte Orte, sondern verteilen sich über einen beträchtlichen Teil der Großhirnrinde. Auch wurde mithilfe neuerer Methoden nachgewiesen, dass die linke und die rechte Hemisphäre eng zusammenarbeiten müssen, um gesprochene Sprache effektiv verarbeiten zu können. Für die Grammatik ist laut Friederici vor allem die linke Hemisphäre zuständig[25].

2.2 Kindlicher Grammatikerwerb als implizites Lernen

Die Grammatik ist das entscheidende Merkmal, das uns Menschen von den Tieren unterscheidet. Im Gegensatz zu den Tieren sind wir in der Lage, komplexe Satzstrukturen - wie

zum Beispiel Nebensätze - zu bilden[26].

Es ist erstaunlich, wie mühelos und zielstrebig Kinder in den ersten Lebensjahren das abstrakte und komplexe System der Grammatik ihrer Muttersprache erlernen. Schon nach den ersten vier bis fünf Jahren haben sie sich eine weitgehend regelrechte Basisgrammatik aufgebaut, sodass sie sich den Mitgliedern ihrer Sprachgemeinschaft mitteilen können und ihre Intentionen zum Ausdruck bringen können. Bis ins Jugendalter hinein wird das aufgebaute grammatische Regelsystem dann erweitert, um auch komplexere Strukturen, wie zum Beispiel das Passiv, verwenden zu können. Das Erlernen der ‚Basisgrammatik’ erfolgt zudem in einer Zeit, in der „[…] Kinder simultan eine eminente Fülle weiterer Reifungs- und Lernprozesse zu vollziehen haben“[27]. Der kindliche Spracherwerb vollzieht sich im Kontext der Ausdifferenzierung der sensorischen und motorischen Funktionen, im Kontext des Erwerbs von Weltwissen, der Verinnerlichung von sozio-kulturellen Konventionen von Kommunikation, im Kontext des Aufbaus von sozialen Beziehungen zu sich selbst und zur Umwelt und weiteren Reifungs- und Lernprozessen. Der Spracherwerb stellt dabei selber ein komplexes Geschehen dar und umfasst neben der Ausbildung syntaktischer Strukturen (Grammatikebene) die Morphologie (Wortebene), die Semantik (Bedeutungsebene), die Phonologie (Lautebene) sowie die Pragmatik (Handlungsebene bzw. kontextangemessene Verwendung sprachlicher Mittel). Die verschiedenen Ebenen werden dabei nicht abgegrenzt voneinander erworben, sondern beeinflussen sich gegenseitig und sind bis zu einem gewissen Grad auch voneinander abhängig[28]. So besteht nach Clahsen zum Beispiel ein enger Zusammenhang zwischen den syntaktischen und den morphologischen Regeln. Er hat beobachtet, dass die Verbzweitstellung im Deutschen für die Kinder dann kein Problem mehr ist, wenn das morphologische Paradigma für die Person- und Numerusflexion am Verb verfügbar ist[29].

Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass es Kindern schnell gelingt ein komplexes grammatisches System aufzubauen, obwohl das Angebot sprachlicher Daten aus ihrer Umwelt immer nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtbereich grammatischer Möglichkeiten repräsentiert. So können sie sogar Satzstrukturen korrekt erzeugen, die sie vorher nie gehört haben[30]. Dieses Phänomen wird auch als „implizites Lernen“[31] bezeichnet. Unter impliziertem Lernen ist dabei das Lernen komplexer Regelsysteme zu verstehen, ohne dass die Regeln explizit verbalisiert worden sind. So lernen Kinder zu sprechen, ohne grammatische Regeln vermittelt bekommen zu haben. Das implizite Lernen gehört zu dem prozeduralen Gedächtnis, was wiederum eine Form des nicht-deklarativen Gedächtnisses bildet. Die Grammatik kann demnach unabhängig vom deklarativen Gedächtnis erlernt werden und erfolgt bei den Kindern zunächst unbewusst, ohne Regeln auswendig zu lernen[32].

3. Der kindliche Grammatikerwerb

Die Struktur der Sprache erschließen[33] sich Kinder eigenaktiv, auf unterschiedliche Weise und unterschiedlich schnell. Trotzdem lassen sich gewisse Entwicklungssequenzen abzeichnen, die die Kinder durchlaufen[34]. Da der Erwerb des grammatischen Systems in den Erwerb anderer sprachlicher Fähigkeiten eingebettet ist, sollen zunächst die Fähigkeiten aufgezeigt werden, die das Kind unmittelbar nach der Geburt erwirbt. Nicht außer Acht zu lassen sind dabei die Befunde der Hirnforschung, die die vorgeburtliche Prägung betonen. Im Anschluss daran sollen die typischen Entwicklungsphasen nach Clahsen dargelegt werden, die ein Kind beim Grammatikerwerb in der Regel durchläuft.

3.1 ‚Vorgrammatische Fähigkeiten’

Die grammatische Kompetenz wird unterteilt in morphologische sowie syntaktische Fähigkeiten. Die syntaktische Fähigkeit bezieht sich dabei auf den Satzbau und die morphologische Fähigkeit auf den Wortbau. So werden die sprachlichen Einheiten in die richtige Reihenfolge gebracht und die Wörter gemäß ihrer Funktion in der Äußerung markiert[35]. Doch bevor das Kind diese grammatische Kompetenz erwirbt, hat es bereits andere wesentliche Fähigkeiten erworben, die es ihm dann erst erlauben, die erkannten Regeln des Satzbaus auf seine vorhandenen Sprachdaten anzuwenden.

So nehmen auf das Erlernen einer Sprache bereits genetische Dispositionen und die Umwelt einen erheblichen Einfluss. Vor der Geburt eines Kindes hat sich sein Stammhirn ausdifferenziert und steuert alle vegetativen Funktionen des Körpers, einschließlich der Vokalisation. Die Großhirnrinde weist Nervenzellen in hoher Anzahl auf (kognitive Fähigkeiten). Einige anatomische Voraussetzungen zum Sprechenlernen, wie zum Beispiel der Kehlkopf oder der Rachenraum, sind bereits entwickelt. Das Neugeborene besitzt einen Drang zur Exploration und Motivation hinsichtlich der Interaktion[36]. Neben diesen genetischen Anlagen kommt der Qualität und Quantität der Inputsprache eine wesentliche Bedeutung zu. Es wird davon ausgegangen, dass eine hohe Frequenz der grammatischen Strukturen in der Inputsprache sowie Fragen und Erweiterungen sich förderlich auf den Spracherwerb auswirken. Ein akzeptierender, maternaler (= mütterlicher) Interaktionsstil der Bezugspersonen, der durch die Referenz auf das jeweilige Thema sowie durch neugierige und interessierend wirkende Fragen gekennzeichnet ist, sorgt für langfristige, kognitive Fortschritte in der Sprachentwicklung[37].

Bereits im ersten Lebensjahr verfügt das Kind über beträchtlich mehr Kompetenzen als in den letzten Jahrzehnten noch angenommen wurde. Bevor das Kind mit dem Sprechen beginnt, hat es bereits einige kommunikative Kompetenzen erworben. So kann es schon früh über Mimik und Gestik sowie mit stimmlichen Mitteln - wie etwa dem Schreien - erste Intentionen ausdrücken[38]. Daran schließen die sogenannten ‚Gurrlaute’ an, bevor mit drei bis vier Monaten die „Phase der stimmlichen Expansion, die Phase des Spiels mit der Stimme“[39], erfolgt. In dieser Zeit überwiegt der Gebrauch von Vokalen gegenüber dem Gebrauch von Konsonanten. Mit circa sechs Monaten beginnt dann die „Phase des Babbelns“[40], in der erstmals Konsonanten mit Vokalen kombiniert und systematisch produziert werden. Mit der Zeit erhöht sich der Konsonantenanteil, und die Silben bestehen häufig aus der Paarung von Konsonant und Vokal (‚ba’, ‚da’) sowie kurz darauf deren Verdoppelung (‚dada’, ‚mama’). Mit ungefähr zwölf Monaten verwenden die Kinder dann bereits die ersten Wörter[41]. Im weiteren Verlauf beginnt das Kind seine Handlungen mit Sprache zu begleiten und erschließt sich die Inhaltsfunktion der Sprache. Es begreift langsam, dass gewisse Lautklanggebilde für bestimmte Gegenstände in der Welt stehen. Mit zwei Jahren verfügt das Kind über ein „Basislexikon“[42]. Es versteht etwa 500 Wörter und ist in der Lage, etwa 50 Wörter zu produzieren. Hierbei wird deutlich, dass die Rezeption der Produktion vorausgeht. Das ‚Basislexikon’ bildet nun die Voraussetzung dafür, dass sich das Kind mit den formalen Merkmalen der Sprache, zu denen die grammatischen Regeln gehören, auseinandersetzen kann[43].

3.2 Die fünf Phasen nach Clahsen

Da sich die Literatur über den kindlichen Grammatikerwerb vor allem auf die von Clahsen entwickelten Erwerbsphasen beruft, sollen im Folgenden die fünf Phasen des Grammatikerwerbs nach eben diesem vorgestellt werden. Dabei ist nach Dannenbauer allerdings zu berücksichtigen, dass sich die Erkenntnisse über den Grammatikerwerb noch lückenhaft darstellen und die entwickelten Phasen vor allem die „übereinstimmenden Entwicklungssequenzen“[44] betreffen. Über individuelle Variationen hinsichtlich des Lernstils oder des Lerntempos ist noch wenig bekannt[45].

Clahsen zieht den Begriff Entwicklungs phase dem der Entwicklungssequenz bzw. –stufe vor. Die kindliche Entwicklung soll „[…] nicht mehr nur isoliert den Erwerb oberflächenstruktureller Formen für eng umgrenzte grammatische Teilbereiche, zum Beispiel Negationswörter […] beschreiben, […] sondern Entwicklungszusammenhänge zwischen verschiedenartigen sprachlichen Ausdrucksmitteln [aufdecken]“[46]. Die festgestellten Formen im Laufe des Erwerbs wurden in einige Untersuchungen direkt als Entwicklungssequenzen bzw. -stufen aufgefasst, und es blieb unberücksichtigt, dass die Teilbereiche der Grammatik nicht isoliert voneinander zu betrachten sind. Um den Zusammenhang sowie die Wechselwirkung der Teilkomponenten zu verdeutlichen, verwendet Clahsen den Begriff der Entwicklungsphase, in der durchaus distinkte Erwerbsstufen zu einer Entwicklungsphase zusammengefasst werden können[47].

Die früheste Entwicklungsphase beim Grammatikerwerb bezeichnet Clahsen als „Vorläufer zur Syntax“[48]. Charakteristisch für diese Phase ist der Gebrauch von Einwortäußerungen, mit denen die Kinder bereits Satzbedeutungen ausdrücken können. Die Einwortphase wird von den meisten Kindern zwischen dem 12. und dem 18. Lebensmonat erreicht. Am Ende der Einwortphase tauchen bei den Kindern Sequenzen (Aufeinanderfolgende Einwortäußerungen), paraverbale Elemente (‚ääää’) sowie Reduplikationen (‚ab.ab.ab’) auf, die auf die Fähigkeit der Kinder verweisen, einzelne Äußerungselemente miteinander zu kombinieren[49].

Die zweite Phase, der „Erwerb des syntaktischen Prinzips“[50], beginnt bei den meisten Kindern mit etwa 18 Monaten. Die Äußerungen in dieser Phase bestehen aus zwei Elementen. In seltenen Fällen können bereits Dreiwortäußerungen auftauchen. Die Kinder sind nun in der Lage elementare Satzstrukturen zu bilden, wobei die syntaktischen Regeln der jeweiligen Einzelsprache noch nicht beachtet werden, sondern vielmehr eine bestimmte „Menge von semantisch-syntaktischen Konstruktionstypen“[51] verwendet wird. Ein Beispiel für eine solche Zweiwortäußerung ist zum Beispiel die Aussage von Mathias ‚schaufel da’, während Mathias auf eine Schaufel zeigt, oder Daniels Aussage ‚lega haben’, wenn er die Legosteine haben möchte[52]. Ein weiteres Charakteristikum für diese Phase ist die dominante Verwendung von Inhaltswörtern wie Nomen, Verben, Adjektiven und Adverbien. Grammatische Funktionswörter, wie zum Beispiel Artikel, werden ausgelassen. Dies bestätigt auch das zuletzt genannte Beispiel ‚lega haben’. Das Nomen wird nicht mit dem dazugehörigen Artikel versehen, der Inhalt wird trotzdem verstanden[53].

[...]


[1] GRIMM, Hannelore (2003): Störungen der Sprachentwicklung : Grundlagen – Ursachen – Diagnose – Intervention – Prävention. 2., überarbeitete Auflage Göttingen/Bern/Toronto/Seattle: Hogrefe-Verlag, S. 15.

[2] vgl. ebd., S. 15f.

[3] vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (2005): Expertise. Förderung von Lesekompetenz. Bonn/Berlin, S. 5.

[4] vgl. DANNENBAUER, Friedrich Michael (2002): Grammatik. In: Baumgartner, Stephan/Füssenich, Iris (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern : Grundlagen und Verfahren. 5. Auflage München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag, S. 118.

[5] Im Folgenden soll vorerst der Begriff des Dysgrammatismus verwendet werden, da er die Forschung lange Zeit geprägt hat. Eine nähere terminologische Abgrenzung erfolgt im Abschnitt 5.

[6] vgl. OLÁH, Annegret E. (1998): Neurolinguistische Aspekte der dysgrammatischen Sprachstörung bei Kindern. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 14.

[7] vgl. ROTH, Gerhard (1996): Das Gehirn des Menschen. In: Roth, Gerhard/Prinz, Wolfgang (Hrsg.): Kopf-Arbeit : Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg/Berlin/Oxford: Spektrum Akademischer Verlag, S. 179.

[8] zit. n. FLOREY, Ernst (1996): Geist – Seele - Gehirn: Eine kurze Ideengeschichte der Hirnforschung. In: Roth, Gerhard/Prinz, Wolfgang (Hrsg.): Kopf-Arbeit : Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg/Berlin/Oxford: Spektrum Akademischer Verlag, S. 74.

[9] vgl. ebd., S. 72ff.

[10] MCCULLOCH, Warren/PITTS, Walter (1990): A Logical Calculus of Ideas Immanent in Nervous Activity, In: Bulletin of Mathematical Biophysics Jg. 52, H. 1/2, S. 113.

[11] vgl. ebd., S. 113f.

[12] vgl. SOMMER, Friedrich T. (2007): Bunte Theorien für graue Zellen. In: Gehirn und Geist, 6/2007, S. 73.

[13] OLÁH 1998, S. 92.

[14] zit. n. FLOREY 1996, S. 72.

[15] LIEBERTZ, Charmaine (2005): Alle mal aufpassen! In: Gehirn und Geist, 1-2/2005, S. 76.

[16] vgl. ebd., S. 76.

[17] ROTH, Gerhard (2007): „Das Ich ist eine Einbahnstraße“. In: Der Spiegel, 35/2007, S. 124.

[18] ebd., S. 124.

[19] vgl. ebd., S. 124f.

[20] YUSTE, Rafael/CAILLIAU, Carlos Portera (2005): Neuronaler Ringelreihen. In: Gehirn und Geist, 7-8/2005, S. 68.

[21] vgl. ROTH 2007, S. 125.

[22] vgl. SOMMER 2007, S. 71.

[23] vgl. LINKE, Detlef B./KERSEBAUM, Sabine (2005): Geht doch mit links! In: Gehirn und Geist, 3/2005, S. 47ff.

[24] vgl. ebd., S. 70ff.

[25] vgl. FRIEDERICI, Angela D. (2003): Der Lauscher im Kopf. In: Gehirn und Geist, 2/2003, S. 43- 45.

[26] vgl. LESSMÖLLMANN, Annette (2005): Wer spricht? In: Gehirn und Geist, 9/2005, S. 31

[27] DANNENBAUER 2002, S. 105.

[28] vgl. ebd., S. 105f.

[29] vgl. CLAHSEN, Harald (1988): Normale und gestörte Kindersprache : Linguistische Untersuchungen zum Erwerb von Syntax und Morphologie. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, S. 115.

[30] vgl. DANNENBAUER 2002, S. 106.

[31] GOSCHKE, Thomas (1996): Lernen und Gedächtnis: Mentale Prozesse und Gehirnstrukturen. In: Roth, Gerhard/Prinz, Wolfgang (Hrsg.): Kopf-Arbeit : Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg/Berlin/Oxford: Spektrum Akademischer Verlag, S. 368.

[32] vgl. ebd., S. 368.

[33] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Entwicklung der Erstsprache deutscher Kinder.

[34] vgl. DANNENBAUER 2002, S. 107f.

[35] vgl. MOTSCH, Hans-Joachim (2004): Kontextoptimierung : Förderung grammatischer Fähigkeiten in Therapie und Unterricht. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag, S. 13.

[36] vgl. DORNES, Martin (1995): Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt am Main: Fischer, S. 39ff.

[37] vgl. SZAGUN, Giesela (2000): Sprachentwicklung beim Kind. 6., vollständig überarbeitete Auflage, unveränderter Nachdruck Weinheim/Basel/Berlin: Beltz, S. 223ff.

[38] vgl. MOTSCH 2004, S. 13f.

[39] KLANN-DELIUS, Gisela (1999): Spracherwerb. Band 21 (=Sammlung Metzler). Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 23.

[40] ebd., S. 23.

[41] vgl. ebd., S. 22ff.

[42] MOTSCH 2004, S. 14.

[43] vgl. ebd., S. 14f.

[44] DANNENBAUER 2002, S. 108ff.

[45] vgl. ebd., S. 108.

[46] CLAHSEN, Harald (1986): Die Profilanalyse : Ein linguistisches Verfahren für die Sprachdiagnose im Vorschulalter. Band 3 (=Peuser, Günter (Hrsg.): Logotherapia : Materialien und Methoden der Sprachtherapie). Berlin: Marhold, S. 13; Zus. v. J.P.

[47] vgl. ebd., S. 13f.

[48] ebd., S. 15.

[49] vgl. ebd., S. 15ff.

[50] ebd., S. 18.

[51] ebd., S. 18.

[52] vgl. CLAHSEN, Harald (1982): Spracherwerb in der Kindheit : Eine Untersuchung zur Entwicklung der Syntax bei Kleinkindern. Tübingen: Narr, S. 43 ff.

[53] vgl. CLAHSEN 1986, S. 18ff.

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Welche Konsequenzen ergeben sich aus den neuesten Befunden der Hirnforschung für den Umgang mit dem 'kindlichen Dysgrammatismus'?
Hochschule
Technische Universität Dortmund
Veranstaltung
Naturwissenschaftliche Grundlagen von Sprache und Sprachwissenschaft
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
45
Katalognummer
V114952
ISBN (eBook)
9783640162789
ISBN (Buch)
9783640164318
Dateigröße
619 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Welche, Konsequenzen, Befunden, Hirnforschung, Umgang, Dysgrammatismus, Naturwissenschaftliche, Grundlagen, Sprache, Sprachwissenschaft
Arbeit zitieren
Janine Pollert (Autor:in), 2007, Welche Konsequenzen ergeben sich aus den neuesten Befunden der Hirnforschung für den Umgang mit dem 'kindlichen Dysgrammatismus'?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114952

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