Versprecher als Daten für ein Sprachproduktionsmodell


Seminararbeit, 2004

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Meilensteine der (psycho-)linguistischen Versprecherforschung

3. Definition von Versprechern

4. Versprecher als empirische Daten: Methodologische Grundsätze und Problematik der Versprecherdaten

5. Zur Klassifikation von Versprechern
5.1 Größe der modifizierten Einheit
5.2 Deskription
5.3 Explikation

6. Häufigkeitsverteilung und Regelmäßigkeiten bei Versprechern

7. Konsequenzen für ein Modell der Sprachproduktion
7.1 Versprecherbeeinflussende Faktoren und mentales Lexikon
7.2 Zur Architektur eines Sprachproduktions- bzw. Sprachplanungsmodells

8. Korrekturen von Versprechern

9. Zusammenfassung

1. Einleitung

Bei Versprechern (engl. slips of the tongue, speech errors) handelt es sich um kein pathologisches, sondern um ein ganz alltägliches Phänomen, vor dem kein Sprecher sicher ist. Die Untersuchung von Versprechern im Rahmen der Psycholinguistik ist dem Bereich der Sprachproduktion und nicht dem der Sprachperzeption zuzuordnen. Wie ein Verständnis dieser ungewollt missglückten Äußerungen von Seiten des Hörers unter dem Blickwinkel der Sprachperzeption dennoch möglich ist und abläuft soll in der vorliegenden Arbeit weitgehend ausgeklammert bleiben. Die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Versprechern gibt nicht nur Aufschluss über physiologische, psychische, mentale und kognitive Vorgänge bei der Sprachproduktion, sondern kann auch einen Nachweis für die psychische Realität linguistischer Einheiten und Prozesse liefern. Dies soll und kann hier jedoch ebenfalls nicht näher behandelt werden.

Nach einer kurzen Darstellung einiger wichtiger, bahnbrechender Werke in der Versprecherforschung soll eine Definition von Versprechern versucht und einige Hinweise zu Versprechern als Datentyp gegeben werden. Daran schließt sich die Diskussion einer möglichen Klassifikation von Versprechern an. Nach Betrachtungen zur Häufigkeits- verteilung von Versprechern auf die unterschiedlichen, im Rahmen des Klassifikations- versuchs vorgestellten Kategorien und einer (im gegebenen Rahmen notwendigerweise) auswahlartigen Darstellung von Regularitäten, denen das Auftreten von Versprechern unterliegt, sollen schließlich Konsequenzen aus den Versprecherdaten für die Architektur eines möglichen Sprachproduktions- bzw. Sprachplanungsmodell dargestellt werden. Den Abschluss bilden einige Ausführungen zu Reparaturen von Versprechern, die sowohl auf Eigeninitiative des Sprechers als auch auf Initiative des Hörers hin oder in Interaktion der beiden Gesprächspartner miteinander entstehen können[1].

2. Meilensteine der (psycho-)linguistischen Versprecherforschung

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Versprechern begann spätestens mit dem 1895 erschienenen Werk Versprechen und Verlesen von Rudolf Meringer und Carl Mayer.

Insbesondere Meringer, der mit seinem Buch Aus dem Leben der Sprache. Versprechen, Kindersprache, Nachahmungstrieb im Jahre 1908 einen weiteren entscheidenden Beitrag zur Versprecherforschung leistete, gilt als Pionier auf diesem Gebiet, da er Versprecher aufgrund der Entdeckung von Regelmäßigkeiten in ihrem Vorkommen aus sprachwissen- schaftlicher Sicht kategorisierte. Die von ihm erstellte Klassifikation von Versprechern ist noch heute in vielen Teilen verbindlich. Meringer und Mayer konnten zeigen, dass Versprecher nicht willkürlich, sondern nach den Regeln der Sprache verlaufen[2].

Victoria Fromkins Aufsatz mit dem Titel „The non-anomalous nature of anomalous utterances“ (1971) stellte die theoretische Fundierung der Beschäftigung mit Versprechern dar und löste eine breitere Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet aus. Laute, Silben, Wörter, etc. sind nachweislich in Versprecher involviert und legen somit die kognitive Realität linguistischer Beschreibungseinheiten und Regeln nahe. Die Frage nach der psychischen Realität systemlinguistischer Konstrukte schuf die psycholinguistischen Voraussetzungen für eine theoretisch abgesicherte Beschäftigung mit dem Thema Versprecher. Fromkin erstellte außerdem erstmals ein relativ vollständiges Modell der Sprachproduktion auf der Grundlage von Versprecherdaten.

Als nächster wichtiger Schritt in der Versprecherforschung ist der 12. Weltkongress der Linguisten in Wien (1977)[3] zu nennen, auf dem sich eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema Versprecher bildete und eine Ausweitung des Forschungsgegenstands auf andere Formen von Fehlleistungen wie z.B. Verhörer, Zungenbrecher oder sog. „Verzeiger“ bzw.

„Vergebärd(l)er“, d.h. Fehler in der Produktion der Gebärdensprache, erfolgte. Grundsätzlich gibt es für die Erforschung von Prozessen und Strukturen beim Versprechen zwei Arten von relevanten Daten: spontane, natürliche Versprecher einerseits und im Labor unter kontrollierten Bedingungen künstlich erzeugte Versprecher andererseits. Bei Gary S. Dell und Peter A. Reich (u.a. 1981) wurden die Ergebnisse aus der naturalisti- schen Datenerhebung und der Versprechererzeugung im Labor im Rahmen ihrer Theorie des Aktivationsflussmodells integriert. Mit diesem Modell erhoben sie Anspruch auf die potentielle Erfassung des gesamten Versprecherspektrums anstatt lediglich einzelner Teilbereiche daraus sowie auf eine verbesserte Behandlung von Ausnahmen. Statistische Tendenzen wurden bei ihnen nicht mehr irreführenderweise als „Gesetze“ formuliert, wie dies etwa noch in den 1950er Jahren geschehen war[4].

3. Definition von Versprechern

Einer verbreiteten Definition zufolge sind Versprecher nicht-geplante bzw. unbeab- sichtigte Abweichungen von der idiolektalen Norm eines kompetenten Sprachbenutzers[5]. Die Bestandteile dieser intensionalen Definition von Versprechern – eine extensionale Definition kann aus der weiter unten behandelten Klassifikation und der damit einher- gehenden systematischen Aufzählung von Versprechertypen abgeleitet werden – sollen im Folgenden genauer erläutert werden.

Die in der Definition enthaltene Einschränkung auf kompetente Sprecher erklärt sich aus der Tatsache, dass im Falle von Fehlleistungen bei Sprachlernenden oder Sprachgestörten eine Trennung zwischen Kompetenz- und Performanzfehlern nicht immer möglich ist. Sprachliche Fehlleistungen von Kindern aufgrund ihres noch nicht abgeschlossenen Spracherwerbs müssen von Versprechern von Kindern unterschieden werden. Es sollten beim Sprecher zudem keine Sprachstörungen vorliegen, d.h. der Zwischenfall bzw. der vermeintliche „Versprecher“ darf nicht möglicherweise pathologisch (z.B. durch Aphasie) bedingt sein. Versprecher sind (per definitionem) Performanzfehler, also Fehler im aktuellen, individuellen Gebrauch von Sprache durch den jeweiligen Sprecher in einer konkreten Situationen, was von der allgemeinen Sprachfähigkeit dieses Sprechers und möglichen Kompetenzfehlern, also Fehlern, die von einer unzureichenden Kenntnis der Regeln der Sprache herrühren, streng zu trennen ist. Obwohl Versprecher prinzipiell bei jeder Art von Sprachverwendung vorkommen – im Erst- und Zweitspracherwerb ebenso wie bei pathologischem Sprachverlust –, wird die Analyse also aus den genannten methodischen Gründen in der Regel auf das Verhalten kompetenter, muttersprachlicher und erwachsener Sprecher beschränkt.

Die Bestimmung der idiolektalen Norm eines jeden Sprechers, d.h. seines für ihn charakteristischen Sprachgebrauchs bzw. seiner spezifisch persönlichen Ausdrucksweise, erweist sich als äußerst schwierig, da es praktisch unmöglich ist, von jedem Informanten ein idiolektales Profil zu erstellen. Der Sammler ist auf eine interindividuelle Norm angewiesen, die jedoch als abstrakte Schnittmenge immer nur einen Teil des Idiolekts erfassen kann. In der Praxis ist es nicht immer klar, ob ein Sprecher in seinem Idiolekt systematisch eine von der Norm abweichende Form gebraucht. In diesem Fall könnte das Vorkommen der entsprechende Form nicht als Versprecher gewertet werden.

Das in der obigen Definition enthaltene Element des Ungewollten, d.h. die Nicht- Intentionalität eines Versprechers, ist für dessen Identifikation entscheidend. Die genauen Ursachen für die momentane Funktionsstörung liegen noch weitgehend im Dunkeln. Verweise auf Unaufmerksamkeit, Müdigkeit, Stress, etc. sind als Ursachen prinzipiell vorstellbar, aber viel zu allgemein. Bei der Ermittlung der Sprecherintention ist die Selbstkorrektur von großer Hilfe, an der man meist ablesen kann, was der Sprecher eigentlich hätte sagen wollen. Selbst in diesem Falle muss jedoch nicht unbedingt die ursprüngliche Sprecherintention zum Ausdruck kommen. Kommt es zu keiner Selbstkorrektur, kann die Intention des Sprechers in schwierigen Fällen nur durch Befragung desselben bestimmt werden.

Mit Versprechern erfasst man ausschließlich die mündliche Sprachproduktion, also keine Verschreiber, Verhörer, Verleser, Vertipper, „Vergebärd(l)er“[6], etc. Nicht jeder Zwischen- fall in der Sprachproduktion ist jedoch ein Versprecher. Spontan gesprochene Sprache enthält vielerlei Abweichungen vom „idealen Vortrag“. Zu diesen „scheinbaren Ver- sprechern“ gehören u.a. das Tip-of-the-Tongue-Phänomen („Es liegt mir auf der Zunge“), stille oder (mit äh, hm o.ä.) gefüllte Sprechpausen, Wort-/Satzabbrüche und Ver- besserungen bzw. Umformulierungen aufgrund des Strebens nach Präzisierung oder einer Änderung der Kommunikationsintention, Wiederholungen, Stottern, usw. Diese Auf- listung von Phänomenen, die nicht zum Bereich der Versprecher zu rechnen sind, präzisiert eine Abgrenzung des Phänomens Versprecher gegenüber ähnlichen Phänomenen und liefert somit eine Definition ex negativo.

Nach diesen Betrachtungen zur Definition von Versprechern und zu deren Abgrenzung gegenüber verwandten Phänomenen, folgen nun einige methodologische Grundsätze und Hinweise auf Vorteile bzw. mögliche Probleme von Versprechern als empirische Daten.[7]

4. Versprecher als empirische Daten: Methodologische Grundsätze und Problematik der Versprecherdaten

Es stellt sich die Frage, inwieweit Fehlleistungen ein geeigneter Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse sind und inwiefern Rückschlüsse von fehlerhaften Daten auf die korrekte Sprachproduktion möglich sind. Ein genereller methodologischer Grundsatz besagt, dass wir Aufschluss über die funktionelle Struktur mentaler Prozesse, die uns nicht direkt zugänglich sind, aus ihren Störungen gewinnen können. Vom gestörten Fall kann also auf den des normalen Funktionierens geschlossen werden[8]. Voraussetzung für den Nutzen von Versprechern als wissenschaftlich relevante Daten ist jedoch die Gültigkeit des heuristischen Prinzips, demzufolge die Störung eines Prozesses generell denselben Mechanismen gehorcht, die den störungsfreien Ablauf der Sprachverarbeitung bestimmen. Zur Rechtfertigung dieser Methode lässt sich anführen, dass es sich bei Versprechern nicht um zufällige Randphänomene handelt, sondern um regelmäßig auftretende und systematisch beschreibbare Phänomene beim Sprechen[9].

Versprecher weisen mit ihrer Natürlichkeit, Normalität und Authentizität einige Vorzüge gegenüber anderen Datentypen auf. Es handelt sich bei ihnen um natürliche Daten, da sie dem alltäglichen Sprechen entstammen[10]. Versprecher sind ferner normale Daten, die bei jedem Sprecher auftreten und dies auch relativ häufig tun. Sie werden unbewusst hervorgebracht und entziehen sich somit einer bewussten Kontrolle und damit der Gefahr der Verfälschung durch den Sprecher, was ihre Authentizität garantiert.

[...]


[1] Zu den forschungsgeschichtlichen Entwicklungen in der Versprecheranalyse vgl. u.a. Berg 1988: 7 ff., Schade/Berg/Laubenstein 2003: 317 sowie Schwarz 1999: 206.

[2] „Schon vor mehreren Jahren war ich zur Überzeugung gekommen, daß man sich nicht regellos verspricht, sondern daß die häufigeren Arten sich zu versprechen auf gewisse Formeln gebracht werden können.“ (Meringer/Mayer 1895: 9).

[3] Zu den einzelnen Beiträgen des Kongresses vgl. den von Fromkin (1977) herausgegebenen Sammelband.

[4] So wurde beispielsweise ein „Gesetz“ der Wortklassenidentität postuliert, wonach bei einem Versprecher ein Nomen nur mit einem Nomen, ein Verb ausschließlich mit einem Verb, etc. vertauscht würden. Inzwischen besteht darüber Einigkeit, dass es sich bei solchen Feststellungen immer nur um in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auftretende Tendenzen handelt.

[5] Vgl. hierzu Berg 1988: 13; 2003: 250 f.; Schwarz 1999: 206; Dittmann 1988: 44 f.

[6] Für die in der Gebärdensprache auftretenden, zu den Versprechern in der gesprochenen Sprache analogen „Vergebärd(l)er“ stellte Leuninger (1998, 41999) bereits umfangreiche Untersuchungen an, wobei sie auf interessante Parallelen und Unterschiede zwischen diesen beiden Formen sprachlicher Fehlleistungen stieß.

[7] Vgl. hierzu u.a. Berg 1988: 4 ff.; Dittmann 1988: 40, 46 f.; Schwarz 1999: 205; Bierwisch 1970: 398; Schade/Berg/Laubenstein 2003: 317 ff.; Keller/Leuninger 1993: 209.

[8] Zu vermeiden ist auf alle Fälle eine „monokulturelle“ Vorgehensweise, bei der ganze Theorien auf einen einzigen Datentypus (hier: Versprecher) gegründet werden (vgl. Berg 2003: 248). Im Zusammenspiel mit anderen Methoden und Datentypen können jedoch Versprecher nach Berg (2003: 250) in entscheidendem Maße zu einer Theorie der normalen Sprachproduktion beitragen.

[9] Wie bereits erwähnt, stellten bereits Meringer/Mayer (1895) fest, dass das Auftreten von Versprechern nicht willkürlich, sondern geregelt erfolgt. Sie bezogen sich dabei jedoch mehr auf die Möglichkeit der Systematisierung von Versprechern als auf mögliche Konsequenzen für ein Modell der Sprachproduktion.

[10] Darüber hinaus wird jedoch – unter Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile und unter Berücksichtigung des jeweiligen Zwecks der Datenerhebung – auch die Möglichkeit genutzt, Daten in Form von künstlich im Labor induzierten Versprechern zu erheben.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Versprecher als Daten für ein Sprachproduktionsmodell
Hochschule
Universität Passau  (Lehrstuhl für Allgemeine Linguistik)
Veranstaltung
Proseminar "Psycholinguistik: Sprachperzeption"
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
23
Katalognummer
V114603
ISBN (eBook)
9783640161911
ISBN (Buch)
9783640163847
Dateigröße
607 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Versprecher, Daten, Sprachproduktionsmodell, Proseminar, Psycholinguistik, Sprachperzeption
Arbeit zitieren
Thomas Strobel (Autor:in), 2004, Versprecher als Daten für ein Sprachproduktionsmodell, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114603

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