Verbalperiphrasen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

32 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Identifikationskriterien und Struktur von Verbalperiphrasen
2.1 Definitionsversuch und kritische Würdigung
2.2 Starre versus flexible Kriterien

3. Inventar und Klassifizierung der Verbalperiphrasen

4. Zur Grammatikalisierung der aspektuellen Verbalperiphrasen
4.1 Vom Voll- zum Auxiliarverb: Grammatikalisierungsmechanismen bei Verbalperiphrasen am Beispiel des portugiesischen Repetitivs
4.2 Die italienischen Gerundialperiphrasen mit stare, andare und venire
4.2.1 Vielfalt der Grammatikalisierungsverläufe
4.2.2 stare + Gerundium versus andare / venire + Gerundium
4.2.2.1 Eigenschaften der italienischen Gerundialperiphrasen
4.2.2.2 Restriktionen und deren Folgen für den Grammatikalisierungsstatus

5. Ausblick

1. Einleitung

Verbalperiphrasen sind in den romanischen Sprachen, wenn auch nicht nur dort[1], sehr vital und offen für Neuerungen bzw. diachrone Verschiebungen bezüglich deren Eigenschaften sowie Verwendungs- und Kombinationsmöglichkeiten.[2] Aber auch synchron lassen sich signifikante Unterschiede im Gebrauch der verschiedenen Periphrasen hinsichtlich deren Frequenz, ihrer diatopischen Verteilung, diamesischen Verwendung und semantischen bzw. morphosyntaktischen Restriktionen feststellen.

Absolut gesehen, lassen sich Periphrasen als grammatikalisierte Strukturen verstehen.[3]

Noch bedeutender als diese absolute Feststellung ist wahrscheinlich die Beobachtung, dass die verschiedenen Verbalperiphrasen unter Anwendung eines relationalen Grammatika- lisierungsbegriffs ganz unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade erreicht haben bzw. beim Durchlaufen eines Grammatikalisierungsprozesses unterschiedlich weit fort- geschritten sind. Dies gilt sowohl im einzelsprachlichen als auch im (inner- wie außer- romanisch) zwischensprachlichen Vergleich.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll nach einer kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Definitionskriterien für Verbalperiphrasen und einer überblicksmäßigen Darstellung und Klassifizierung des Inventars an Verbalperiphrasen in den romanischen Sprachen der Zusammenhang zwischen Grammatikalisierung und Verbalperiphrasen unter- sucht werden. Dies erfolgt unter diachronen, synchronen und kontrastiven Gesichtspunkten. So soll zunächst der Grammatikalisierungsmechanismus der Metaphorisierung mit an- schließender Analogiebildung am Beispiel der portugiesischen Repetitivperiphrase dargestellt werden. Anschließend werden die italienischen aspektuellen Gerundial- periphrasen mit stare, andare und venire einer genaueren Untersuchung unterzogen. Neben Betrachtungen zu den charakteristischen Eigenschaften dieser Verbalperiphrasen sowie zu eventuellen Restriktionen in deren Verwendung sollen daraus auch Rückschlüsse auf deren unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrad bzw. -status gezogen werden. Auf wichtige Unterschiede zu äquivalenten Konstruktionen etwa im Spanischen oder Englischen kann leider nur knapp hingewiesen werden.

Prinzipiell besteht eine recht unregelmäßige Verteilung von Verbalperiphrasen auf die einzelnen Sprachen. Dies gilt sowohl ganz allgemein, als auch – in geringerem Maße – im innerromanischen Vergleich. So kann man beispielsweise im Französischen, Spanischen und Portugiesischen im Unterschied zum Italienischen Verbalperiphrasen für die nahe Zukunft und jüngste Vergangenheit finden.[4] Im Gegensatz dazu lassen jedoch gewisse Entwicklungslinien auf übereinzelsprachliche Gemeinsamkeiten[5] beispielsweise bei der Grammatikalisierung von Auxiliarverben schließen, wie etwa im Falle des häufigen Vor- kommens von Bewegungsverben und der von diesen beschrittenen Grammatikalisierungs- pfade.

Die vorliegende Arbeit enthält hauptsächlich Untersuchungen zum Italienischen, zieht jedoch beispielsweise bei Phänomenen, die in der italienischen Sprache nicht auftreten, zumeist das Portugiesische als Vertreter des iberoromanischen Sprachraums heran und strebt teilweise auch einen Vergleich mit dem Spanischen sowie, als nicht-romanischer Sprache, dem Englischen an.

2. Identifikationskriterien und Struktur von Verbalperiphrasen

“Nous entendons par périphrases verbales les locutions formées d’un verbe, en général à un mode personnel, dont le sens propre est plus ou moins effacé, et d’une forme nominale, participe ou infinitif, d’un autre verbe, qui, lui, a gardé tout son sens. Le premier verbe sert à indiquer que le procès exprimé par le second est affecté de certains caractères de temps, de mode, d’action. Le premier élément peut être uni au second soit directement, soit par l’intermédiaire d’une préposition ou d’une locution prépositive.” GOUGENHEIM 1971: I

Als für die Kategorie der Verbalperiphrase prototypisch könnten unter Berücksichtigung der nunmehr beinahe „klassischen“ Definition GOUGENHEIMs beispielsweise folgende Verbindungen aus konjugiertem (Hilfs-)Verb und infinitem (Haupt-)Verb gelten:

(1) Italienisch: La situazione andava peggiorando.
(2) Spanisch: A las cinco Pilar estaba hablando con Manuel.
(3) Portugiesisch: Ele parou um momento, mas continuou logo a ler.
(4) Französisch: Mon frère vient de sortir.

Dabei schließt sich in den Beispielen (1) und (2) das Gerundium direkt an die Verben andare bzw. estar an, in den Fällen (3) und (4) wirken jeweils Präpositionen (a bzw. de) als Verbindungsglied zwischen den beiden Verben.

Was aber haben diese Konstrukte außer ihrer Grundstruktur gemeinsam? Und ist es wirklich so, dass, wie GOUGENHEIM feststellt, die Bedeutung des ersten Verbs stets mehr oder weniger verlorengegangen bzw. „verblasst“ ist? Widerspricht dem nicht bereits das Beispiel (3)?

2.1 Definitionsversuch und kritische Würdigung

Wenn auch oft Unklarheiten darüber bestehen können, ob ein Konstrukt zu den Verbal- periphrasen gerechnet werden soll oder nicht, und die Eingliederung einzelner Formen von Autor zu Autor variiert, so stößt man bei einer Definition und Eingrenzung des Begriffs doch immer wieder auf die nachfolgenden Kriterien[6]. Bei der Darstellung dieser soll jedoch auch unmittelbar auf mögliche Kritikpunkte oder Schwierigkeiten bei der Verallge- meinerung dieser Prinzipien sowie auf mögliche Grenzfälle hingewiesen werden.

A. Morphologische Struktur und Inventar an Hilfsverben Wie bereits angedeutet und aus den oben genannten Beispielen ersichtlich, sind Verbalperiphrasen aus den Bestandteilen finites Hilfsverb (auxilians / modificans) und Haupt- bzw. Vollverb (auxiliatum / modificatum) in den infiniten Formen Gerundium, Infinitv oder Partizip zusammengesetzt, die variabel mit einem Verbindungselement verknüpft sein können, das meistens eine Präposition ist. Das Auxiliar ist Träger von Tempus, Modus und Aspekt und ist dem Hauptverb semantisch untergeordnet.

Es existiert lediglich ein beschränktes Inventar an möglichen Hilfsverben.[7] Hierzu zählen Zustandsverben wie ‚sein’ oder ‚sich befinden’ (essere, stare), Verben der Bewegung wie ‚gehen’, ‚kommen’, ‚zurückkehren’, ‚umdrehen’ (andare, venire, tornare), besitz- anzeigende Verben wie ‚haben’ oder ‚halten’ (avere, tenere) sowie Verben, die eine Phase des Ereignisses ausdrücken, wie etwa ‚anfangen’, ‚fortfahren’, ‚aufhören’ (cominciare, continuare, finire). Das Inventar an Hilfsverben wurde bisweilen als geschlossene Klasse bezeichnet. Wenn es sich auch um eine begrenzte Liste von möglichen Hilfsverben handelt, so ist diese jedoch nur schwerlich begrenzbar und sie kann theoretisch jederzeit erweitert werden. So ist es wohl angemessener, von einem Kontinuum zu sprechen, das von vollkommen in die morphologische Struktur der Sprache integrierten Hilfsverben über immer schwächer grammatikalisierte Hilfsverben bis hin zu lexikalischen bzw. phraseologischen Lösungen reicht. Bei diesem Übergang von der Morphologie zur Lexik stehen sich eine „extremely grammaticalized structure“ auf der einen Seite der Skala und eine „concrete, lexical structure“[8] auf der anderen Seite gegenüber.

Neben dieser prototypischen Struktur aus finitem Hilfs- und infinitem Hauptverb wird jedoch teilweise auch die Wendung ‚nehmen’ (‚anfassen’) in parataktischer Fügung mit einem anderen Verb, also die Kombination zweier mit der Konjunktion ‚und’ verknüpfter finiter Verbformen wie im Falle von pt. pegar / agarrar e bzw. sp. tomo y me voy und im Falle der italienischen Umgangssprache prendo e me ne vado zu den Verbalperiphrasen gerechnet.[9] Das französische Progressiv être en train de + Inf. wird ebenfalls zu den Verbalperiphrasen gezählt.

B. Semantische Einheit und ‚Desemantisierung’

Eine Periphrase, ursprünglich ein Begriff aus der Tradition der rhetorischen Stilistik, ist nach COSERIU „im eigentlichen Sinn ein sprachliches materiell mehrgliedriges Zeichen, das eine einheitliche, eingliedrige Bedeutung hat, d.h. ein gegliedertes ‚Signifiant’, dem aber ein einfaches ‚Signifié’ entspricht (...)“[10]. Die komplexe Gesamtbedeutung der Verbalperiphrase ist also nicht gleich der bloßen Summe der sie konstituierenden lexikalischen Komponenten bzw. ist nicht aus den sie bildenden Einzelelementen ableitbar (Idiomatizität). Wie F. DIEZ hierzu bereits anmerkte: „Diese Methode, zwei Verba statt eines einzigen zu setzen (...) wäre eine unnütze Weitläufigkeit, wenn die Umschreibung nicht mehr sagte als der einfache Ausdruck“[11].

Das Auxiliarverb ist dem bedeutungstragenden Hauptverb semantisch untergeordnet. Eine analoge Situation hierzu findet sich in idiomatischen Ausdrücken wie beispielsweise guerra fredda, das einen bestimmten Typ von Krieg beschreibt und nicht etwa eine Art von Kälte. Das verbalperiphrastische Auxiliar existiert auch autonom als Vollverb, hat jedoch als Bestandteil einer Verbalperiphrase im Normallfall einen Prozess der ‚Desemantisierung’ (oder des ‚semantic bleaching’) durchlaufen. Dies wird besonders deutlich in Sätzen wie

(5) Il treno sta correndo.

Würde man hier von der vollen Bedeutung des (statischen) Hilfsverbs stare ausgehen, erhielte man einen unmittelbaren Widerspruch zum (dynamischen) Hauptverb correre.

Dieses Kriterium ist, wie auch die vorangegangenen, als alleiniges Kriterium nicht ausreichend, da es ebenso auf Phraseologismen zutrifft und außerdem nicht für Verbalperiphrasen mit Hilfsverben wie cominciare a, continuare a oder finire di + Inf. gilt. Bei diesen Konstrukten behält nämlich das Hilfsverb seine periphrasenexterne Bedeutung bei bzw. ist semantisch nicht transformiert.

In den später noch genauer zu behandelnden Periphrasen andare und venire + Ger. besteht der in der Grundbedeutung der beiden Verben vorhandene Bestandteil der deiktischen Direktionalität und der jeweils unterschiedlichen Perspektive fort, was sich auf die

Einsatzmöglichkeiten dieser beiden sog. kontinuativen Verbalperiphrasen auswirkt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von ‚semantic retention’ oder ‚persistence’[12].

C. Syntaktische Einheit und ‚Dekategorisierung’

Verbalperiphrasen stellen kompakte syntaktische Einheiten dar, die nur von einer be- grenzten Anzahl von Elementen „getrennt“ werden können, wie dies zum Beispiel in

(6) Il bimbo stava già dormendo.

der Fall ist. Zu den Elementen, die problemlos zwischen Hilfs- und Hauptverb eingefügt werden können, ohne diese syntaktische Kohäsion zu zerstören, zählen Satzadverbien wie beispielsweise presumibilmente, verosimilmente, ovviamente oder decisamente, Modal- adverbien wie lentamente, amichevolmente, tristemente etc. sowie einige iterative Adverbien wie z. B. di nuovo, sempre etc. Ferner können auch sog. Schaltsätze relativ unproblematisch zwischen die beiden die Verbalperiphrase bildenden Verben eingeschoben werden. Beispiele hierfür wären, wiederum für das Italienische, e lo sai bene oder è inutile dirlo. Die Sätze (7) bis (10) mögen die genannten Fälle jeweils belegen:

(7) Sta probabilmente mangiando.

(8) Sta avidamente mangiando.

(9) Sta nuovamente mangiando.

(10) Sta, come volevasi dimostrare, mangiando.

[...]


[1] So weist beispielsweise STRUDSHOLM (2000: 313) im Rahmen einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Identifikationskriterien für italienische Verbalperiphrasen auf das Vorhandensein von Verbalperiphrasen auch in nicht-romanischen Sprachen bzw. auf die hohe Anzahl an Periphrasen v.a. im gesprochenen Dänisch hin (vgl. hierzu auch die komparative Studie von JANSEN / STRUDSHOLM 1999, in der italienische wie dänische Beispiele für aspektuelle Verbalperiphrasen anhand eines Korpus untersucht werden) und relativiert somit die Auffassung BERTINETTOs (1990: 331) und DIETRICHs (1973: 9), die von einem besonderen Reichtum an Verbalperiphrasen speziell in den romanischen Sprachen ausgehen, welche in nicht-romanischen Sprachen zumeist mit anderen, insbesondere lexikalischen Mitteln widergegeben würden. Unter einem innersprachlichen Blickwinkel kann jedoch beispielsweise für das Italienische ebenso eine lexikalische Ausdrucksweise konstatiert werden und in übereinzelsprachlicher Perspektive sind Verbalperiphrasen nicht lediglich ein romanisches Phänomen.

[2] Für das zeitgenössische Italienisch weist beispielsweise BERRETTA (1993: 220) auf die Vitalität und zunehmende Ausbreitung des Progressivs stare + Ger. hin.

[3] „Periphrasen sind Produkte von Grammatikalisierung.“ HOFFMANN 1993: 223.

[4] Vgl. hierzu WANDRUSKA (1969: 348 f.): nahe Zukunft / Imminenz: fr. aller + Inf.; sp. ir a + Inf.; pt. ir + Inf. jüngste Vergangenheit: fr. venir de + Inf.; sp., pt. acabar de + Inf.

[5] Vgl. hierzu beispielsweise BYBEE / DAHL 1989 sowie HEINE 1993.

[6] Diese Identifikationskriterien (‚criteri di identificazione’) sind gesammelt beispielweise bei BERTINETTO 1990: 332 ff. zu finden.

[7] Vgl. DIETRICH 1973: 9.

[8] HEINE 1993: 86.

[9] Vgl. hierzu COSERIU, Eugenio (1966): “’Tomo y me voy’. Ein Problem vergleichender europäischer Syntax”, in: Vox Romanica, 25, S. 13-55.

[10] COSERIU 1976: 119.

[11] F. DIEZ, GRS III, Bonn 31871: 199; zitiert nach DIETRICH 1973: 22.

[12] Vgl. SQUARTINI 1998: 21.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Verbalperiphrasen
Hochschule
Universität Passau  (Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft)
Veranstaltung
Grammatikalisierung
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
32
Katalognummer
V114602
ISBN (eBook)
9783640161904
ISBN (Buch)
9783640163830
Dateigröße
649 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verbalperiphrasen, Grammatikalisierung
Arbeit zitieren
Thomas Strobel (Autor:in), 2003, Verbalperiphrasen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114602

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