Gustav Mahlers Symphonien I und II - ihre Programme und ihre Deutungen


Diplomarbeit, 2004

65 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

l. Einleitung
l.l. Methodische Vorüberlegungen
l.2. Gustav Mahler – Leben und Werk
l.3. Programmmusik

2. Die I. Symphonie
2.l. Entstehungsgeschichte und das Programm
2.2. Kritiken
2.3. Deutungen
2.4. Äußerungen Mahlers

3. Die II. Symphonie
3.l. Entstehungsgeschichte und das Programm
3.2. Gesangstexte
3.3. Kritiken
3.4. Deutungen
3.5. Äußerungen Mahlers

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Vorwort

Warum schreibt man eine Diplomarbeit über Gustav Mahler?

Es ist erst ein paar Jahre her, dass ich mit diesem Komponisten und dadurch unweigerlich auch mit dem Menschen Gustav Mahler in Berührung kam. Von Anfang an übte dieser Musiker eine Anziehungskraft auf mich aus, die ich in einem solchen Maße vorher nicht kannte. Die Musik erschien – und erscheint – mir wie ein Buch mit sieben Siegeln, und ich versuchte, mehr über Mahler zu erfahren, indem ich über ihn zu lesen begann und natürlich vor allem seine Musik hörte. Dann bekam ich die Chance, bei gleich zwei verschiedenen Orchesterprojekten seine Musik zu spielen, und zwar beide Male die I. Symphonie. Die damit verbundenen musikalischen Erlebnisse und ,Empfindungserfahrungen’ ließen mich endgültig zu einem Verehrer dieses Künstlers werden, und ich versuchte, mehr von seiner Musik verstehen zu lernen. Besonders die Verknüpfung von seiner Persönlichkeit mit seiner Musik und die Ehrlichkeit und Tiefe seiner Werke faszinierten mich, die Mischung aus einem hochemotionalen Menschen mit einem blitzsauberen Humor, der auf der einen Seite tieftrauernde, erschütternde Kompositionen voller vergeistigtem Weltschmerz hinterlässt und auf der anderen Seite die pure, naive Lebenslust und Naturschönheit musikalisch umzusetzen weiß.

Von meinen eigenen Erfahrungen abgesehen bin ich aber immer wieder auf Menschen – seien es professionelle Musiker oder nicht – gestoßen, die mit der Musik Mahlers nichts anfangen konnten, sie zwar als gewaltig beschrieben, aber keinen wirklichen Zugang zu ihr fanden. Wenn man nun die Musikwissenschaft betrachtet, fällt auf, dass sich mehr Menschen über Mahler den Kopf zerbrochen haben als über andere Komponisten. Gerade die Tatsache, dass es schwerfällt, die Musik zu verstehen und die Unbequemlichkeit zu überwinden, die diese gelegentlich aufweist, lädt viele Theoretiker dazu ein, Erklärungen liefern zu wollen und die Musik durch eventuelle Quellen und Hintergründe zu erläutern. Mahler hat sich selbst in ausführlicher Weise zu seinen eigenen Werken geäußert, so dass man auf einen Fundus zurückgreifen und daraus Schlüsse ziehen kann, wobei man davon ausgehen muss, dass die Meinungen und Deutungen von den verschiedenen Menschen von der jeweiligen subjektiven Sichtweise geprägt sind. Die Theorie kann vielleicht einen Ansatz dazu liefern, welche Struktur einem Musikstück unterliegt, und eine Interpretation kann eine Denkrichtung darstellen, die dem wissensdurstigen Leser neue Wege der Deutung aufzeigt. Mir geht es darum, dass die Hürde, die man nehmen muss, um der Musik Mahlers näher zu kommen, nicht mehr als solche erscheint, weil man auf Hintergrund- informationen einiger Menschen – Musikwissenschaftler, Freunde Mahlers und ihn selbst – aufbauen kann. Vor allem möchte ich darauf hinweisen, dass es – trotz aller Theorie – auch in dieser Arbeit, die keine einzige Note enthält, um Mahlers Musik geht, und darum, dass diese Musik meiner Meinung nach mitunter durch Wissenschaft verständlicher wird.

An dieser Stelle möchte ich einigen Menschen Dank sagen: Herr Jewanski war mir ein große Hilfe und stand mir mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem möchte ich mich bei dem Menschen bedanken, der es geschafft hat, mich der Musik immer wieder aufs Neue näherzubringen und der mir vor allem gezeigt hat, wie weit die Musik Gustav Mahlers gehen kann. Weiterhin gilt ein großer Dank meiner Familie, die mich in meinem Tun stets unterstützt hat und ohne deren Hilfe vieles Musikalische nicht möglich gewesen wäre, und natürlich meinen Freunden, die mir – nicht nur während der letzten Zeit - in allen Stimmungen und Lebenslagen so hilfsbereit und oft auch inspirierend zur Seite standen.

l. Einleitung

l.l. Methodische Vorüberlegungen

Wer sich mit dem Komponisten Gustav Mahler und seinen Werken beschäftigt, findet sich in einem Gebiet wieder, das voller gegensätzlicher Meinungen steckt; oft stößt man entweder auf grenzenlose Begeisterung oder auf Unverständnis. Sowohl zu Mahlers Lebzeiten als auch heute scheiden sich offensichtl]ich die Geister an diesem Künstler. Die oft verständnislose Kritik von damals findet ihre Erklärung darin, dass Mahler in gewisser Weise seiner Zeit voraus war – man bedenke Bezeichnungen wie Zeitgenosse der Zukunft oder die Äußerung Meine Zeit wird kommen. Dies betrifft kompositorische Prinzipien oder die Mittel und Wege, mit denen er sich musikalisch ausdrückte und die Tatsache, dass er sich nicht in ein bestimmtes Schema, einen eindeutigen Musikstil oder eine Komponistengeneration einordnen lässt. Die Musik erscheint auf den ersten Blick unüberschaubar und wirkt unbequem, selbst für heutige Ohren, die schon Musik von Schönberg bis zu den zeitgenössischen Komponisten gewohnt sind.

Auf eigenartige Weise wird Mahler immer als etwas ,Besonderes’ behandelt, als jemand, dem man nicht so schnell auf die Spur kommt. Natürlich ist gerade dies für die Musikwissenschaft eine Veranlassung, sich mit Mahler auseinander zu setzen; hier seien Namen wie Adorno, Dahlhaus, Floros und Eggebrecht genannt, die Schriften zu Mahler herausgebracht haben. Alle Bemühungen, die Werke Mahlers zu beleuchten, zu erläutern und damit eventuell zu erklären, sollen im Endeffekt dazu dienen, dem Zuhörer die Musik zu vermitteln und das Verständnis ihr gegenüber zu erleichtern. Dies hat Mahler selbst damals versucht, indem er einem Teil seiner Werke Programme beifügte. Diese sind – das möchte ich gleich zu Anfang betonen – nicht in dem ursprünglichen Sinne der Programmmusik zu verstehen. Es handelt sich hier um Ideen, um Ansätze, die dem Zuhörer nur eine von vielen möglichen Empfindungen aufzeigen sollen. Darauf werde ich später eingehender zu sprechen kommen.

Zwar gab es nicht viele Aufführungen, bei denen die Zuhörer diese Programme erhielten, doch scheint die Diskussion bis heute anzuhalten, und immer noch gibt es Interpretationsversuche und Deutungen, die sich auf diese Programme beziehen. Man bedenke, dass es für den ,durchschnittlichen Zuhörer’ immer eine Hilfe bedeutet, einige Erläuterungen zum aufgeführten Werk lesen zu können, um auf diesem Wege dem Verständnis dienende Hintergrund-informationen zu erfahren. Wenn nun ein Werk aus einer bestimmten Intention, einer Stimmung oder einer Inspiration heraus entstanden ist, erscheint es doch sinnvoll, den Zuhörer daran teilhaben zu lassen, damit er die Chance bekommt, Gehalt und Gestalt der Komposition nachzuvollziehen. Für Mahler, war es anscheinend eine Selbstverständlichkeit, sowohl seine Werke zu betiteln als auch das Publikum daran teilhaben zu lassen, welche Empfindungen er selbst hatte und welche Empfindungen er dem Publikum nahe zu bringen hoffte.

Da die Werke Mahlers heutzutage zu den sehr häufig aufgeführten gehören und da sie nichts an Aktualität eingebüßt haben, erscheint es mir sinnvoll, meine Arbeit diesem Thema zu widmen. Dem Leser sollen hier Informationen an die Hand gegeben werden, die ihm eventuell das Verständnis für die Musik erleichtern. Die Grundfrage, die im folgenden bearbeitet wird, ist:

Wie wurde und wird Mahlers Musik in bezug auf die Programme verstanden und gedeutet? Alle Interpretationen, Kritiken und Deutungen haben zwangsläufig etwas Subjektives an sich. Um dem ,Rätsel Mahler’ auf die Spur zu kommen, muss man meiner Meinung nach bedenken, was er selbst zu seinen Werken mitgeteilt hat. Daher lautet ein weiterer wichtiger Grundgedanke:

Wie äußerte sich Mahler selbst zu seinen Werken?

Zum Glück gibt es viele überlieferte Schriften; vor allem die Sammlung der Briefe, die Mahler an Freunde, Bekannte und Kollegen schrieb, sind sehr aufschlussreich, da Mahler sich darin ausführlich über seine Kompositionen geäußert hat. So viele andere Personen auch versucht haben, seine Werke zu deuten, so erscheint mir doch seine eigene Sicht als sicherste Quelle. Da die Programme zu seinen Symphonien von Mahler selbst verfasst wurden, sehe ich auch in deren Präsentation eine bereichernde Anregung.

Da es zu Mahler unendlich viel Literatur gibt und man bei einer Arbeit dieser Art die Zeit im Auge behalten muss, ergab sich für mich das Problem, dass ich mich entscheiden musste, auf welche Literatur ich mich beziehen möchte. Es ist schier unmöglich, sich im umfassenden Maße mit sämtlicher Literatur auseinander zu setzen. Da ich in dieser Arbeit auch nicht alle Meinungen vereinen kann und will, habe ich mich zuerst darauf konzentriert, einige grundlegende – übrigens auch immer wieder zitierte – Werke in Betracht zu ziehen; so die Erinnerungen von Alma Mahler und die Tagebuchaufzeichnungen von Natalie Bauer-Lechner (für die Äußerungen Mahlers), Paul Bekkers Analyse über die Symphonien, Hans Heinrich Eggebrechts Die Musik Gustav Mahlers und die drei Bände von Constantin Floros über Gustav Mahler. Abgesehen von Floros wird in den zuletzt genannten Büchern allerdings eher die Musik an sich analysiert und gedeutet und nicht die Musik in bezug auf die Programme, um die es mir hauptsächlich geht. Daher habe ich einige Bücher hinzugezogen, die sich mit der Deutung und der Interpretation der Werke im Zusammenhang mit den Programmen beschäftigen: Frank Berger: Vision und Mythos, Alfred Stenger: Eine musikalische Ambivalenz, Kurt Blaukopf: Der Zeitgenosse der Zukunft und Constantin Floros: Visionär und Despot. Die Ansätze, die von den Autoren verfolgt werden, mögen teilweise etwas weithergeholt anmuten, doch fand ich es interessant, diese Meinungen aufzuführen, damit der Leser selbst entscheiden kann. Eine wichtige Grundlage lieferten zwei Bücher zur Rezeptionsgeschichte: Christoph Metzger: Mahler-Rezeption und vor allem die Arbeit von Juliane Wandel: Die Rezeption der Symphonien Gustav Mahlers zu Lebzeiten des Komponisten. Aus dem letztgenannten ist der Großteil der Kritiken entnommen. Auch aus der Sammlung von Herta und Kurt Blaukopf Leben und Werk in Zeugnissen seiner Zeit konnte ich einige Kritiken verwenden. Weiterhin hilfreich als Informationsquelle über die damalige Zeit, den Menschen Gustav Mahler und einzelne Deutungen seiner Symphonien ist das von Renate Ulm herausgegebene Buch Gustav Mahlers Symphonien. Der dieser Einleitung folgenden Biographie dient als Grundlage hauptsächlich die Rowohlt Monographie von Wolfgang Schreiber.

Ursprünglich hatte ich vor, mich mit den Symphonien I.-IV. zu beschäftigen, weil diese einen in sich abgeschlossenen Zyklus bilden (Wunderhorn-Symphonien) und weil zu all diesen Symphonien ein von Mahler formuliertes Programm existiert. Dieser Plan musste insofern eine Änderung erfahren, als dass die Beschäftigung mit allen vier Symphonien den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte. Somit ist die Beschränkung auf die I. und II. Symphonie weniger eine sinngemäße Entscheidung als eine dem zeitlichen und umfangstechnischen Aufwand angepasste Konsequenz. Andererseits war es hauptsächlich die I. Symphonie, die aufgrund ihres Programms für Furore sorgte, und auch der Hintergrundgedanke der II. stieß auf harte Kritik auf der einen Seite und stellte auf der anderen Seite für Mahler als Komponist den ersten wirklich großen Erfolg dar, der auch auf den Inhalt und die vermittelte Botschaft des Werkes zurückzuführen ist. Außerdem stehen die beiden Symphonien in einem inhaltlichen Zusammenhang, denn Mahler bezeichnete die II. als die Fortsetzung der I..

Der systematische Aufbau meiner Arbeit ergibt sich aus folgender Idee: Das Kapitel über Leben und Werk Gustav Mahlers sehe ich als Möglichkeit und sinnvolle Bereicherung für den Leser, sich ein Bild von Mahlers Leben und seiner Person zu verschaffen. Im Folgenden wird ein Überblick über die damals herrschende Situation und Diskussion über Programmmusik geliefert, in der Mahler eine bestimmte Position einnimmt, die in diesem Kapitel ebenfalls geschildert wird.

Der Hauptteil dieser Arbeit gliedert sich aufgrund der Themenstellung in zwei große Abschnitte die I. bzw. die II. Symphonie betreffend. Zuerst wird jeweils über die Entstehungsgeschichte berichtet und das Programm vorgestellt. Als nächstes werden einige Kritiken aufgeführt, die sich auf die Aufführungen zu Lebzeiten des Komponisten beziehen, also aus den Jahren l889 bis l905, da durch die Konzerte aus dieser Zeit die Diskussion über die Programme aufgeworfen wurde. Die Kritiken gliedern sich nach einer chronologischen Abfolge und nach Überschneidungen in Meinung und Inhalt und sind ohne Wertung aufgelistet. Die Deutungen, die den nächsten Abschnitt bilden, stammen hauptsächlich aus der Gegenwart der letzten 30 Jahre. Die Anordnung der Deutungen ergibt sich aus der Reihenfolge der einzelnen Sätze und durch inhaltliche Zusammenhänge, da sich die – immer als subjektiv einzuordnenden – Deutungen nicht in klare Gruppierungen, Strömungen oder ähnliche Positionen einteilen lassen..

Die sich daran anschließenden Äußerungen Gustav Mahlers sind dazu gedacht, sich im Nachhinein ein Bild davon zu machen, was er selbst dem Zuhörer mitteilen wollte, sei es durch Musik oder ein erläuterndes Programm, eine Idee oder einen Hinweis. So kann jeder Leser für sich selbst eventuelle Übereinstimmungen oder Gegensätzliches zu den vorangestellten Deutungen feststellen.

l.2. Gustav Mahler - Leben und Werk

Gustav Mahler wurde am 7. Juli l860 in Kalischt in Böhmen geboren. Seine Eltern waren Bernhard Mahler, ein aus ärmlichen Verhältnissen stammender Sohn einer Hausiererin, ein starrsinniger, sehr emporstrebender und zäher Mann, der sein Geld mit einer selbst aufgebauten Schnapsbrennerei verdiente. Die im Gegensatz zum Vater sehr sanftmütige und außerdem eher kränkliche und gebrechliche Mutter, die sehr unter der herrischen Art und der Gewalttätigkeit ihres Mannes litt, kam aus einer gutbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie. Gustav war das zweite von insgesamt l2 Kindern; fünf verstarben früh. Das erste Mal verlieh sich der junge Gustav im Alter von vier Jahren auf musikalischem Wege Ausdruck: Selbstvergessen saß der als verschwunden geglaubte an einem alten Klavier, das auf dem elterlichen Dachboden stand und entlockte diesem wunderliche Töne, woraufhin der Vater das große Talent erkannte und ein gutes Klavier ins Haus holte. Den ersten öffentlichen Auftritt bestritt der l0jährige Gustav in Iglau und wurde dort schon als zukünftiger Klaviervirtuose gehandelt. Als l5jähriger ging Mahler in das Zentrum des österreichisch-ungarischen Reiches, nach Wien, um dort eine dreijährige musikalische Ausbildung zu absolvieren. Da es damals noch kein explizites Kapellmeisterstudium gab, unterzog er sich einer Grundausbildung in Harmonielehre (Robert Fuchs), Komposition (Franz Krenn) und Klavier (Julius Epstein) und besuchte Vorlesungen von Anton Bruckner. Gleichzeitig blieb er externer Schüler des Gymnasiums in Iglau, da sein Vater auf einen Schulabschluss bestand. Weiterhin besuchte Mahler Kurse in Philosophie, Musikgeschichte und Musikästhetik an der Wiener Universität und beschäftigte sich ausgiebig mit Literatur vor allem von Dostojewski und Jean Paul, aber auch Kant, Schopenhauer, E. T. A. Hoffmann, Goethe und Schiller.

Das erste erhaltene Werk Mahlers, Das klagende Lied, entstand l880. In diesem Jahr fand er außerdem für eine Saison seine erste Anstellung als Kapellmeister an einem kleinen Sommertheater in Bad Hall in Oberösterreich. Es folgten weitere Engagements in Laibach und Olmütz, wo er unter teilweise unzumutbaren Umständen zu dirigieren hatte. Im Oktober l883 ging Mahler für zwei Jahre als 2. Kapellmeister nach Kassel, wo ihn ein begrenztes Tätigkeitsfeld erwartete, antisemitische Presse, die unerfüllte Liebe zu einer Sängerin und ein l. Kapellmeister, der ihm seinen sich einstellenden Erfolg neidete, was dazu führte, dass Mahler seinen Vertrag vor Ablauf kündigte.

Glücklicherweise bekam er schon im August l885 die Möglichkeit, in Prag zu arbeiten, wo er sich schnelle Anerkennung erwarb. In diese Zeit fällt die Komposition der Lieder eines fahrenden Gesellen und somit auch die auf die Lieder zurückgehenden Ursprünge der I. Symphonie.

Die darauffolgende Anstellung in Leipzig (August l886) gab Mahler endlich die Möglichkeit, genau die Arbeit zu tun, auf die er versessen war; hier begann seine Karriere als berühmter Dirigent. Aufgrund von Zerwürfnissen mit dem Personal erbat Mahler im Mai l888 seine Entlassung, um dem Ruf nach Budapest zu folgen, wo er die verworrenen Verhältnisse der ungarischen Oper zu verbessern hoffte, denn dieses Institut kämpfte um seine Existenz. Hier fand die Uraufführung der I. Symphonie statt, die jedoch missfiel und unverstanden blieb. Mahlers weitere Entwicklung fand in Hamburg statt, wo er ab März l89l für sechs Jahre arbeitete. Er wurde als Kapellmeister zu einem Begriff, seine Kompositionen allerdings blieben weiterhin entweder ungehört oder unverstanden - der l. Satz der II. Symphonie, den er dem Dirigenten Hans von Bülow vorspielte, löste bei diesem nur Verachtung aus - , was für Mahler eine schmerzliche Erfahrung war. Er konnte aufgrund der harten, ihn völlig einnehmenden Arbeit am Theater nur in den freien Sommermonaten komponieren. Ab und zu wurden Fragmente aus seinen Werken zu Gehör gebracht, aber erst mit der Uraufführung der vollständigen II. Symphonie im Dezember l895, die zu einem großen Erfolg wurde und den Komponisten Mahler vom Kapellmeister Mahler abgrenzen konnte, begann die Zeit der Anerkennung. Im Juni l897 zog es Mahler nach Wien, wo er nach kürzester Zeit zum Direktor ernannt wurde. Um diese Stelle zu bekommen, sah er sich gezwungen, zum Katholizismus überzutreten, da es ihm als Jude versagt geblieben wäre, einen solchen Posten einzunehmen. Selbst wenn der Vorwurf des Opportunismus nahe liegt, empfand Mahler den Konfessionswechsel nicht als Verleugnung seiner selbst, da er sich nicht ausschließlich einer Glaubensrichtung verwandt fühlte.

In Wien befand sich Mahler endlich an einem Institut, dessen Zustand ihm konstruktives Schaffen ermöglichte. An der Staatsoper herrschte ein hohes Niveau unter den Sängern und im Orchester, aber es fehlte aufgrund mangelnder Regie an einer ganzheitlichen Idee und dem künstlerischen Gesamtkonzept einer Oper. Mahler, der ohnehin erbost war über die konservative, traditionelle Atmosphäre des Theaters und das während der Vorstellungen mehr am gesellschaftlichen Treiben interessierten Publikum, übernahm die Leitung von Regie und Musik und machte es sich zur Aufgabe, die Idee von völliger Verschmelzung von Bühne und Musik zu verwirklichen, womit er die Opernreform wahrmachte und das Theater zu großem Ruhm führte.

In Wien lernte der 42jährige Mahler Alma Schindler kennen, eine ausgesprochen schöne, begabte und gewandte junge Frau von 20 Jahren. Sie heirateten im März l902 und

bekamen zwei Töchter (Maria Anna geb. l902 und Anna Justina geb. l904). Alma stand lange Zeit im Schatten ihres berühmten Mannes, der ihr das Komponieren untersagte und dem sie ihr ganzes Leben widmen sollte. Nach seinem Tod hat Alma noch zweimal geheiratet, nennt sich aber selbst für den Rest ihres Lebens „die Witwe Mahlers“.

l907 wurde für Mahler ein Jahr der Schicksalsschläge: Im Juli starb seine ältere Tochter Maria Anna an Diphtherie, bei ihm wurde ein Herzleiden diagnostiziert und er überwarf sich mit den Wiener Philharmonikern. Daher forderte Mahler im Herbst l907 nach l0jähriger Tätigkeit seinen Rücktritt von der Wiener Oper; er verabschiedete sich vom Wiener Publikum mit einer Aufführung seiner II., der Auferstehungs-Symphonie.

Sein Weg führte ihn an die Metropolitan Opera nach New York, wo er zwei Spielzeiten arbeitete, bevor er dem Theater den Rücken zuwandte. Der Winter l909/l9l0 wurde für ihn zur Konzertsaison; man stellte ihm ein eigenes Orchester zur Verfügung, die New York Philharmonics, mit dem er auch eigene Werke aufführte, allerdings nur die I. und die II. Symphonie und die Kindertotenlieder. Während der letzten Tournee in Amerika im Winter l9l0/l9ll wurde Mahler ernstlich krank und ließ sich erst in Paris von einem Arzt behandeln, bevor er in seine Wahlheimatstadt Wien zurückkehrte. Dort starb er am l8. Mai l9ll; beerdigt wurde er auf dem alten Grinzinger Friedhof, auf seinen Wunsch hin neben seiner Tochter.

Das Werk Mahlers ist auf den ersten Blick relativ überschaubar; er hinterließ Lieder, zehn Symphonien – die X. ist unvollendet - und die Chorsymphonie Das Lied von der Erde. Die Lieder eines fahrenden Gesellen (l883-l885) und die dem Gedichtband Des Knaben Wunderhorn (l89l-l897) entnommenen Lieder stehen mit den ersten vier Symphonien in engem thematischen Zusammenhang. Aus diesem Grund werden die Symphonien II.- IV. auch als Wunderhorn-Symphonien bezeichnetl. Kompositionen nach Texten von Friedrich Rückert sind die Kindertotenlieder (l90l-l904) und die fünf Rückert-Lieder. Weiterhin gibt es Das klagende Lied (l880), Sieben Lieder aus letzter Zeit (l899-l903, enthalten die Rückert-Lieder) und l4 Lieder für Gesang und Klavier (l880-l892), ebenfalls teilweise nach Texten aus Des Knaben Wunderhorn.

l.3. Programmmusik

In der Musikwissenschaft hat der Terminus Programmmusik schon seit jeher zu großer Verwirrung geführt. Vor allem im Gegensatz zur absoluten Musik wird diese Bezeichnung als ästhetisches Werturteil verwendet, wobei die Diskussion über die Unterschiede dieser beiden Richtungen bis in die Gegenwart anhält. Bis heute besteht keine klare Definition, sondern nur eine Vielzahl an Versuchen, Programmmusik als Gattung an Komponisten und deren Werken festzumachen. Hier wird nun versucht, ein wenig Struktur in das Chaos der Begrifflichkeit zu bringen.

Der Begriff Programm taucht schon in der zweiten Hälfte des l8. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Beschreibung musikalischer Werke auf, später dann im Kontext mit der Tondichtung und der Poetischen Idee.

Das Besondere an Programmmusik ist, dass sie sich keiner bestimmten Form oder Technik unterzuordnen hat. Somit bildet sie eher einen ästhetischen Oberbegriff. Der Terminus Programmmusik, der in der Mitte des l9. Jahrhunderts von der Neudeutschen Schule geprägt wurde, bezeichnet jede Art von selbständiger Instrumentalmusik, die von einem außermusikalischen Sujet bestimmt und beeinflusst wird, worauf der Komponist in der Regel selbst hinweist. Im konkreten Zusammenhang mit einer Komposition kann das folgendes bedeuten: Es besteht ein außermusikalischer Stoff, der auf Kunst, Natur, Literatur oder einen Selbstentwurf zurückgeht. Auch werden Texte, die dem Vorwort eines Buches vergleichbar sind, eine vorangestellte Dichtung, ein Titel und Satzüberschriften, die als Wegweiser dienen sollen, als Programm bezeichnet. Weiterhin werden Instrumentalsätze, die in einem größeren musikalischen Zusammenhang stehen (z. B. die Ouvertüre einer Oper) Programmmusik genannt.

All dies ist nicht gleichzusetzen mit der Tonmalerei, die der Nachahmung akustischer und optischer Vorgänge und Erscheinungen dient, indem sie z. B. Tierlaute, Kanonendonner oder Naturphänomene wie Gewitter schildert. Sie ist kein notwendiger Bestandteil der Programmmusik.

Eine weitere Erklärung erfordert der Begriff Charakterstück. Gewissermaßen kann man diese Gattung zwischen absoluter Musik und Programmmusik ansiedeln. Hier wird ein lyrisch zu verstehender Gesamteindruck geschildert, der sich durch Bildhaftigkeit auszeichnet und eine bestimmte Stimmung widerspiegelt, nicht zu verwechseln mit der Darstellung eines Gegenstandes.

Richtungsweisend für die Entwicklung der neuen Gattung war Beethovens III. Symphonie, die Eroica und vor allem seine VI. Symphonie, die Pastorale, in der er die einzelnen Sätze betitelte und auf die sich sein berühmter Hinweis ,mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey’ bezieht. Auch einzelnen Klavierwerken fügte Beethoven Satzüberschriften und Werktitel bei (z. B. den Klaviersonaten Pathétique und Les Adieux). Die angestrebte Verwirklichung seiner Idee, Musik zur Sprache werden zu lassen, fand in den Neudeutschen ihre Fortsetzung. Deren Vordenker war Franz Liszt, der betonte, dass ein Programm, das auf die poetische Idee des Werkes hinweist, an die freie Phantasie des Zuhörers appellieren solle. Für ihn war die Programmmusik als ein neues Genre der Symphonik der Inbegriff des Fortschritts in der Musik, der sich dadurch äußerte, die Meisterwerke der Literatur und der Kunst in die Musik zu integrieren. Gattungen dieser Form sind Konzertouvertüren mit Programm, die Programmsymphonie und die Symphonische Dichtung; einige Komponisten von Programmmusik sind Liszt, Berlioz (Symphonie fantastique), Wagner, Mussorgsky (Bilder einer Ausstellung), Zemlinsky und Richard Strauss. Andere Komponisten, die ihren Werken ebenfalls Titel gaben, aber nicht als Programmmusiker kategorisiert werden wollten, sind Schumann und Debussy.

Wo erscheint nun in diesem Kontext Gustav Mahler? Zwar gab er seinen Symphonien teilweise Programme hinzu, doch verstand er sich selbst kaum als Programmmusiker. Er schien sich gegen die Kategorisierung seiner selbst und seiner Musik zu wehren. Vielleicht störte ihn die Verknüpfung seiner Musik mit einer eingrenzenden Bezeichnung und die - damit einhergehende - Beschränktheit der Begrifflichkeit. Bei der Diskussion um Mahlers Position gehen die Meinungen stark auseinander. Einen nachvollziehbaren Ansatz liefert das folgende Zitat:

„Mahler (..) grenzt sich gegen ,illustrierende’ Programmmusik, die einem ,poetischen Vorwurf’, einer bestimmten ,Dichtung’ folgt, immer wieder deutlich ab. Die ,poetische Idee’ hingegen sieht er auf einer ideell höheren, vergeistigteren Stufe als für seine Werke bestimmend an. Es wird deutlich, daß die hier entstandene Begriffsvielfalt das Verständnis für Mahlers Musik keinesfalls erhöhen kann, sie ist aber symptomatisch für die musikästhetische Diskussion der Zeit. Der Schluß liegt nahe, daß der ausführliche Streit über Programmusik sich nur aufgrund mangelnder begrifflicher Definition und Präzision so lange halten und zu einer solchen Bedeutung gelangen konnte.“2

Andererseits wird er, vor allem in den zu seinen Lebzeiten verfassten Kritiken zu seinen ersten beiden Symphonien, immer wieder als Programmmusiker hingestellt. Max Marschalk schreibt über die I. Symphonie: „Ihr Inhalt ist echte, einzig mögliche Programmmusik.“3 Diese These vertritt auch Constantin Floros, („die Fakten beweisen, dass Gustav Mahler sich zu Beginn seiner kompositorischen Laufbahn als Programmsymphoniker empfand!“4) der sie damit begründet, dass die Titel, die Mahler den Sätzen beifügte, keine „Wegweiser für die Empfindung“ sondern „Kurztitel ausführlicher Programme“5 seien, die es wörtlich zu verstehen gilt. Außerdem hat Mahler seine Kompositionen oft als Symphonische Dichtungen bezeichnet (so die I. bei der Uraufführung und die Todtenfeier der II.), und dieser Begriff falle eindeutig in die Gattung der Programmmusik. Floros geht so weit, dass er Beethovens Pastorale, Berlioz` Symphonie fantastique und Mahlers Titan als eine im programmmusikalischen Kontext aufeinander aufbauende Entwicklung hinstellt6. Weiterhin bezeichnet er die seit etwa l900 mehr oder weniger einhellig geltende Auffassung, dass Mahlers Kompositionen als absolute Musik zu verstehen seien, als Legende7, da seiner Meinung nach allen Symphonien Mahlers, auch den rein instrumentalen, literarisch-philosophische Programme zugrunde liegen.8

Da lange Zeit nicht klar war, ob Mahler die Programme zu seinen Symphonien im voraus, während der Komposition oder nachträglich formulierte, ließ sich die Diskussion über seine Position nicht vermeiden. Gemeint ist der Vorwurf, er habe sich den Gepflogenheiten der Zeit und damit den Strömungen der Programmmusik anpassen wollen und habe daher im Nachhinein ein Programm erdacht, das mit der Musik in keinem wirklichen Zusammenhang steht. Andererseits wäre der umgekehrte Fall, nämlich dass Mahler vorher durch Außermusikalisches inspiriert worden ist, für viele wiederum nicht nachvollziehbar gewesen, wenn man z. B. das Unverständnis gegenüber der Thematik des 3. Satzes der I. Symphonie bedenkt. Paul Bekker formuliert es treffend: „Die Erkenntnis dieser Verwechslung von Wirkung und Ursache mag Mahlers verschiedenartige Stellung zu programmatischen Deutungsversuchen beeinflusst und ihn veranlasst haben, anfangs gegebene poetische Überschriften späterhin zu streichen.“9

Oder sagen wir es mit den Worten Bruno Walters, des jungen Mahler-Verehrers, der in einem Brief an den Kritiker Ludwig Schiedermair schrieb:

„Sie sehen, daß jemand, der das Wesen der Musik so begriffen hat – als Gleichnis des tiefsten Wesens der Dinge, und deshalb ungeeignet, dessen einzelne Erscheinungen wiederzugeben - niemals Musik zu einem Programm schreiben kann. Dagegen wird er im Stande sein, eine ganze Anzahl von Bildern zu nennen, deren Wesen mit dem seines Werkes verwandt ist.“10

Mahler selbst war der Meinung, dass „jede Symphonie ihr weltanschauliches Grundkonzept“ll habe, was schon als Programm gesehen werden kann, und er äußerte sich in folgender Weise:

„Daß unsere Musik das ,rein Menschliche’ (alles was dazu gehört, also auch das

,Gedankliche’) in irgendeiner Weise involviert, ist ja doch nicht zu leugnen. Es kommt wie in aller Kunst, eben auf die reinen Mittel des Ausdrucks an, etc. etc. Wenn man musizieren will, darf man nicht malen, dichten, beschreiben wollen. Aber was man musiziert, ist doch immer der ganze (also fühlende, denkende, atmende, leidende etc.) Mensch. Es wäre ja auch weiter nichts gegen ein ,Programm’ einzuwenden (wenn es auch nicht gerade die höchste Staffel der Leiter ist) – aber ein Musiker muß sich da aussprechen und nicht ein Literat, Philosoph, Maler (alle die sind in der Musik enthalten).“12

[...]


l In manchen Quellen (z. B. bei Stenger) werden die Symphonien I.-IV. Wunderhorn-Symphonien genannt.

2 Wandel S. 46

3 Max Marschalk in Die redenden Künste, Leipzig, 3. Jg., l896/97, Heft l3, S. 37l-375; zit. nach Müller S. l3l

4 Floros I S. 28f

5 Floros I S. 28f

6 siehe Floros II S. 48

7 Floros I S. l5

8 Floros I S. 5

9 Bekker S. 74

10 Bruno Walter: Briefe 1894-1962, hg. von Lotte Walter-Lindt, Frankfurt/Main l969, S. 46- 52; zit. nach Müller S. 477

11 Kurt Blaukopf S. 89

12 GMB S. 293

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Gustav Mahlers Symphonien I und II - ihre Programme und ihre Deutungen
Hochschule
Universität Münster  (Musikhochschule Münster)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
65
Katalognummer
V115198
ISBN (eBook)
9783640159253
ISBN (Buch)
9783640176595
Dateigröße
918 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gustav, Mahlers, Symphonien, Programmmusik Deutungen
Arbeit zitieren
Urte Reich (Autor:in), 2004, Gustav Mahlers Symphonien I und II - ihre Programme und ihre Deutungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115198

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