Oskar Matzerath - ein Schelm in der Tradition des Pikaro-Romans


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

15 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die Blechtrommel und ihre kontroverse Kritik

2. Die „novela picaresca“ erobert das literarische Europa

3. Grimmelshausens „Simplicissimus“ als erster deutscher „Pikaro“

4. Blechtrommel: klare Parallelen zu Simplicius

5. Bildungsroman oder Schelmenroman?

6. Der Schelm Oskar Matzerath
6.1. Selbstgewähltes Außenseiterdasein
6.2. Gleichzeitige Weltoffenheit und Weltabkehr demaskieren entindividualisierte Gesellschaft
6.3. Der entlarvende Erzählstil des Pikaro
6.4. Der Held ohne Pathos zur Verschärfung der Satire

7. Wie Simplicius: Der Schelm Oskar als literarischer Zeitzeuge

8. Günter Grass in der Maske des Schelms?

9. Grass zwischen den Fronten der deutschen Geschichte

Literaturangaben:

Primärliteratur:

Sekundärliteratur:

1. Die Blechtrommel und ihre kontroverse Kritik

Lob und Kritik, Preise und Schmähungen, Anerkennung und Anklage – jeder Autor mag die Sonnen- und Schattenseiten des Schriftstellerdaseins kennen. Jeder, der künstlerisch schaffend tätig ist, hat und muss erfahren, dass positive und negative Rezeption nah beisammen liegen. Wie ungleich die Reaktionen ausfallen können, weiß insbesondere Günter Grass. Als 1959 die Erstausgabe seines Nachkriegsromans „Die Blechtrommel“ erschien, hagelte es die unterschiedlichsten Kritiken. Die Meinungen reichten weit auseinander. So war von „chronischer Geschmacklosigkeit“ aber auch von einem „Prosaschriftsteller ersten Ranges“[1] zu lesen. Die Literaturkritik der Nachkriegszeit hätte kontroverser nicht urteilen können. Der Grund dafür lag wohl in der unheimlichen Komplexität der Blechtrommel. Nicht nur thematisch oder aufgrund seines Umfangs, sondern auch in seiner literarischen Konzeption stellte und stellt der Roman noch heute für jeden Leser eine Herausforderung dar.

Unter anderem stritten sich die Kritiker über die Einordnung in eine literarische Gattung. Wie bei kaum einem anderen Werk war man sich so uneins in der Frage der Gattungszuordnung wie bei der Blechtrommel. Günter Grass selbst versuchte eine Bestimmung mithilfe folgender Äußerung:

„Das Buch steht in einem ironisch-distanzierten Verhältnis zum deutschen Bildungsroman. Es kommt, und das betrifft nun mich und meine Affinität, sehr stark von jener europäischen Romantradition her, die vom pikaresken Roman herreicht, […]“[2]

Grass distanziert sich also, wenn auch bewusst ironisch, vom Bildungsroman. Der Autor selbst gibt desweiteren Hinweise auf die europäische Tradition des Pikaro-Romans.

Wie sich diese literarische Gattung definiert und inwiefern Grass’ „Affinität“ zu ihr in der Blechtrommel ihren Niederschlag findet, soll im Folgenden aufgezeigt werden.

2. Die „novela picaresca“ erobert das literarische Europa

Seine Anfänge hat der Schelmenroman in der romanischen Literatur. Im absolutistisch geführten Spanien entwickelte sich, als eine Art Gegenströmung zur höfisch-galanten Dichtung, im 16. Jahrhundert der Abenteuerroman, unter dessen Oberbegriff auch der Schelmenroman fällt.[3] Die „novela picaresca“, so der spanische Begriff für die neu entstandene Gattung, fand nicht nur auf der iberischen Halbinsel Resonanz, sondern wurde in Italien und England, insbesondere aber auch in Frankreich und Deutschland schnell kopiert.[4]

Dass die Übersetzungen pikaresker Erzählungen, deren Wesenszug meist satirische Kritik an dynastischem oder konfessionellem Ständetum aus der Warte eines schelmischen Helden von niederer Herkunft war, deutsche Literaten am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges ansprachen, ist wenig verwunderlich. Der Grund für die Wirkung auf die deutsche Literatur war demnach nicht nur ein literarischer, sondern „vielmehr ein sozial-politischer“[5]. So fügten sich die neu gewonnenen inhaltlichen Charakteristika und äußerst vielfältigen Erzähltechniken und -strukturen zu den traditionellen. Es entstand nun auch in Deutschland ein neues Genre: der Roman.

3. Grimmelshausens „Simplicissimus“ als erster deutscher „Pikaro“

Als erster bedeutender Pikaro-Roman in der deutschen Literaturgeschichte gilt Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens „Abenteuerlicher Simplicius Simplicissimus“.[6] Das 1669 erschienene zeit- und sittengeschichtliche Epos beschreibt den abenteuerreichen Lebensweg des naiven Helden „Simplicissimus“ vom Findelkind, das bei einem Eremiten aufwächst, über den mordenden Soldaten, den Hofnarren bis hin zum abgeklärten Weltreisenden, der sein Leben schließlich als Einsiedler beendet. Auf dem Hintergrund dieser Wandlung schildert der Held aus der Ich-Perspektive die Welt, insbesondere deren Gesellschaft, im Zerrspiegel des Dreißigjährigen Krieges.[7] Kampf, Gefangennahme, Flucht, Weltreise - es ist eine wahre Fülle an Themen sowie Schauplätzen, Figuren und in sich geschlossenen Episoden innerhalb der Erzählung, die den Abenteuerroman Grimmelshausens charakterisiert.

Im Mittelpunkt des Simplicissimus, und das ist das gattungskonstitutive Merkmal schlechthin, steht ein Erzähler, der innerhalb dieser Gesellschaft eine Sonderposition einnimmt, im Grunde gar nicht zu ihr gehört. Er ist ein Narr, ein Schelm, eben ein Pikaro. Eine Art „Katalysatorfunktion“ innehabend, erlaubt es dieser Figurtypus, die Missstände des Lebens in der gegenwärtigen Gesellschaft aus seiner „neutralen“ Position fassbar zu machen.

Zu welch abnormen Grausamkeiten Menschen fähig sein können, wird insbesondere in Kriegszeiten bewusst. Der Dreißigjährige Krieg ist Symbol für eine besonders langwierige und zerstörerische Phase in der europäischen Geschichte. Einen Charakter zu entwickeln, der sich dem Kriegstreiben und der morbiden zeitgenössischen Gesellschaft widersetzt, der seine ganz eigene Individualität bewahrt und aus dessen „schelmischer“, satirischer Warte sich die Probleme deutlich benennen lassen, bietet sich in solchen Zeiten an. So bediente sich Grimmelshausen des neuen Romantypus’.

4. Blechtrommel: klare Parallelen zu Simplicius

Es bedarf nur dieses oberflächlichen Blickes auf den Simplicissimus, um eindeutige Parallelen zu Grass’ Blechtrommel zu entdecken. So finden sich auch bei Grass viele verschiedene Szenerien, episodenhaftes (Ich-) Erzählen und eine Gesellschaft in Zeiten des Krieges. Das Hitler-Deutschland ist Beweis dafür, wie die kranke Ideologie einiger Weniger ein ganzes Volk infizieren kann. Nicht so den kleinen Oskar Matzerath. Er steht im Zentrum der Handlung, integer gegen ideologische und politische Verführungen und - nicht nur aufgrund seiner körperlichen Einzigartigkeit - außerhalb seiner Umwelt stehend.

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Die Gattung des Schelmenromans würde sich gemäß den erwähnten Charakteristika also hier anbieten. Schon kurze Zeit nach Grimmelshausen und dem Simplicissimus verlor dieser allerdings in Deutschland an Bedeutung und wurde hauptsächlich durch den Bildungsroman verdrängt.

5. Bildungsroman oder Schelmenroman?

Auch im Bildungsroman stehen ein Individuum und dessen Entwicklung im Zentrum des Geschehens. Der Unterschied zum Schelmenroman liegt aber darin, dass sich der Held im Bildungsroman eher unter dem Einfluss seiner Gesellschaft formt, als diese in Frage zu stellen. Der Bildungsroman ist „der gesellschaftssatirischen Absicht entkleidet“[8].

Ein Roman, dessen Handlung im Deutschland zwischen 1933 und 1945 angesiedelt ist oder darauf anspielt, kann aber kaum auf Kritik, sei es nun in Form der Satire oder mithilfe anderer Stilmittel, verzichten.

Die bereits erwähnte ironische Distanz Grass’ zum Bildungsroman ist folglich verständlich. Denn Günter Grass wollte nun mal „[…] eine bestimmte Zeit schildern, […] eine Gesellschaftsschicht[…]“[9].

Jedoch fehlte ihm dafür „[…]lange Zeit der entscheidende Ansatz […]“[10]. Seine Gründe für eine Orientierung am Schelmenroman beschreibt er folgendermaßen: „Es kam für mich darauf an, eine Kunstfigur zu erfinden, mit einem alles verfremdenden Blick wie im ,Simplicissimus’“[11]

Mit diesem verfremdenden Blick als Charakteristikum erlebte der Schelmenroman nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland eine Renaissance. Nicht nur Grass, sondern auch Thomas Mann oder Heinrich Böll, um nur zwei weitere berühmte Vertreter zu nennen, griffen auf das Genre zurück. Ein moderner Pikaro entwickelte sich gemäß dem traditionellen Vorbild.

[...]


[1] Gockel, S. 112.

[2] Neuhaus, S. 34.

[3] Vgl. Matzkowski, S. 52f.

[4] Vgl. Valentin, S. 7.

[5] Arendt, S. 14f.

[6] Vgl. van der Will, S. 12f.

[7] Vgl. Matzkowski, S. 59.

[8] Van der Will, S. 12.

[9] www.auricher-wissenschaftstage.de/grassint.htm

[10] Ebd.

[11] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Oskar Matzerath - ein Schelm in der Tradition des Pikaro-Romans
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Lehrstuhl für NDL)
Veranstaltung
Günter Grass
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
15
Katalognummer
V113645
ISBN (eBook)
9783640148622
ISBN (Buch)
9783640148943
Dateigröße
409 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Oskar, Matzerath, Schelm, Tradition, Pikaro-Romans, Günter, Grass
Arbeit zitieren
Katharina Petzi (Autor:in), 2008, Oskar Matzerath - ein Schelm in der Tradition des Pikaro-Romans, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113645

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