Verständnis und Praxis polizeilicher Prävention in Deutschland

Analyse und Diskussion von Veränderungsprozessen kriminalpräventiver Ansätze vor dem Hintergrund einer neuen „Kultur der Kontrolle“


Diplomarbeit, 2007

107 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Gliederung

Einleitung

1. Kriminalprävention im Wandel
1.1 Begriffsklärung
1.2 Das „traditionelle“ Verständnis von Kriminalprävention
1.3 Das „neue“ Verständnis von Kriminalprävention

2. Kriminalprävention im Kontext einer neuen Kontrollkultur
2.1 Skizzierung einer neuen Kultur der Kontrolle
2.2 Dichotome Entwicklungen und die „neuen“ Rollen der Polizei
2.2.1 Die Polizei im Kontext einer Strategie souveräner Staatlichkeit bei der Kriminalitätsbekämpfung
2.2.2 Die Polizei im Kontext einer adaptiven Strategie bei der Kriminalitätsbekämpfung

3. Souveräne Staat lichkeit und neue Sicherheitsgesetzgebung
3.1 Das Grundgesetz – Schutz vor der Staatsgewalt oder staatliches Eingriffrecht?
3.2 Strafrecht – zwischen retrospektiver Steuerung und Vorfeldkriminalisierung
3.3 Strafprozessrecht
3.4 Polizeirecht
3.4.1 Polizei(recht) im Kontext von Sicherheit und Freiheit
3.4.2 Der allgemeine Gefahrenbegriff
3.4.3 Konkrete und abstrakte Gefahr
3.4.4 Objektiver und subjektiver Gefahrenbegriff
3.5 Die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten

4. Adapti ve Strategien und kommunale Kriminalprävention
4.1 KKP als Bestandteil einer adaptiven Kontrollstrategie
4.2 KKP als Ausdruck einer demokratischen Praxis zeitgenössischer Kriminalitätskontrolle
4.3 KKP in der Kritik
4.3.1 Antidemokratische Kontrollpraxis
4.3.2 Mehr Kontrolle und weniger soziale Absicherung
4.3.3 Responsibilisierung
4.3.4 Praxis – Divergenzen zwischen Rhetorik und Realität
4.4 Rolle und Funktion der Polizei
4.4.1 Auf dem Weg zu einer demokratischeren Polizei
4.4.2 Die „Verpolizeilichung“ der Gesellschaft

5. Zusammenführung der Ergebnisse und Ausblick

Quellenverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

Einleitung

„In important respects we are on the cusp of a shift from a postto a precrime society, a society in which the possibility of forestalling risks competes with and even takes precedence over responding to wrongs done” (Zedner, 2007, S. 262).

In Anlehnung an die von Philip K. Dick 1956 veröffentlichte Kurzgeschichte „Minority Report“ (Dick, 2002) skizziert die Verfasserin des vorangestellten Zitats einen Wendepunkt innerhalb der zeitgenössischen gesellschaftlichen Konstitution sowie einen hierin enthaltenen Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Kriminalitätsphänomen. Die Protagonisten der von Dick entworfenen Zukunftsvision leben in einer vollkommen kriminalitätsfreien Gesellschaft, da sie in der Lage sind, zukünftige Rechtsverstöße vorauszusehen und deren Verursacher bereits vor dessen Begehung auszuschalten. Mit unserer heutigen Lebenswirklichkeit hat diese Utopie einer omnipotenten Kriminalitätskontrolle natürlich wenig gemein, obgleich dem Ansatz der „Kriminalprävention“ heutzutage, vollkommen unabhängig von dessen genauer Ausprägung, mehr denn je eine Schlüsselfunktion zugesprochen wird. Dieser Umstand stellt auch die Kriminologie vor ein ernstes Problem:

Im Sinne eines traditionellen kriminologischen Verständnisses befasst sich diese mit der empirischen Erforschung des Verbrechens und mit der Täterpersönlichkeit (Kaiser, 1993, S. 2). Den inhaltlichen Überzeugungen der sogenannten „kritischen“ Kriminologie ist es zu verdanken, dass diese Engführung auf die Person des „Täters“ (zumindest zu Teilen) aufgegeben wurde und nunmehr auch der Prozess der Kriminalisierung und die Reaktion der hierbei beteiligten staatlichen Institutionen auf kriminalisierte Verhaltensweisen zu Objekten des kriminologischen Erkenntnisinteresses wurden (vgl. Sack, 1985, S. 277ff). In diesem Kontext stagniert die kriminologische Analyse und Problematisierung der Kriminalitätsproduktion, als ein „intellectual offspring of a postcrime society in which crime is conceived principally as harm or wrongdoing and the dominant ordering practices arise post hoc” (Zedner, 2007, S. 262). Der in dem Zitat von Zedner angesprochene Übergang von einer “Post-Society” zu einer „Pre-Crime-Society“ implementiert daher auch für die Kriminologie die Aufgabe, sich verstärkt mit Kontrollmechanismen auseinanderzusetzen, welche nicht länger eine Reaktion auf kriminalisierte Verhaltensweisen darstellen, sondern dem Versuch gleichkommen, aus einer prospektiven Erwartungshaltung auf diese einzuwirken.

Der soeben beschriebene Perspektivenwechsel beinhaltet somit die Notwendigkeit diejenigen Akteure und Praktiken der Kriminalitätskontrolle zum Mittelund Ausgangspunkt kriminologischer Analyse zu machen, welche aufgrund ihrer organisatorischen Gesamtkonzeption und Handlungskompetenz in der Lage sein könnten, Kriminalität vor deren eigentlichen Begehung zu ihrem Aktionsfeld zu machen. Üblicherweise ist dies die Polizei, welche daher auch mit den von ihr praktizierten kriminalpräventiven Vorgehensweisen den institutionellen Schwerpunkt der hier anzustehenden Bearbeitung der Thematik darstellt:

Das erste Kapitel stellt eine deskriptive Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Kriminalprävention per se dar. Die Erkenntnis leitenden Fragen richten sich hierbei zunächst einmal auf eine Abklärung, was man im Sinne des dieser Arbeit zugrunde liegenden Verständnisses unter Kriminalprävention verstehen soll und wer oder was hierfür zuständig ist – und für den Fall, dass dem nicht immer so war, ursprünglich dafür zuständig gewesen ist. Des weiteren sollen Ausführungen dazu macht werden, ob es Hinweise darauf gibt, dass es im Laufe der Zeit zu tief greifenden Modifikationen gekommen ist, welche schlussendlich eine vollkommen neue kriminalpräventive Verantwortlichkeit beinhalten und dementsprechend auch von immenser Bedeutung für die Rolle und Funktion der Polizei sind.

Da man die Institution der Polizei niemals vollkommen unabhängig von Struktur und Ausprägung der Gesellschaft betrachten kann in der sie existiert und wirkt (vgl. Nogala, 1995a, S. 191), bedarf es eines Erklärungsansatzes, der es ermöglicht, polizeiliche Transformationsprozesse bezüglich ihrer kriminalpräventiven Ansätze in einen weiteren gesellschaftstheoretischen Kontext zu stellen - hierdurch werden diese sowohl greif-, als letztendlich auch überprüfbarer. Das zweite Kapitel beschäftigt sich daher mit den Thesen und Analysen David Garlands und dabei unter anderem auch mit dem von ihm 2001 veröffentlichten und im kriminologischen Diskurs viel beachteten Werk „The Culture of Control – Crime and Social Order in Contemporary Society“ (Garland, 2001). Nach Vorstellung der wichtigsten hierin enthaltenen Überlegungen im Hinblick auf die Ausprägung gegenwärtiger Kontrollkultur, soll überprüft werden, ob sich diese auf Ebene der deutschen Polizei und hierbei insbesondere in Bezug auf Veränderungen polizeilicher Strategien der Kriminalprävention anwenden lassen – und falls dies möglich erscheinen sollte, im Folgenden auch angewendet werden.

Das dritte Kapitel widmet sich der Frage, inwiefern sich die von Garland analysierte Kontrollkultur in Form der hierin beinhalteten Strategie souveräner Staatlichkeit in der (neueren) Aufgabenzuschreibung bei der deutschen Polizei wiederfindet. Insbesondere bei dieser Ausformung der heutzutage angewendeten Kontrolltechnik ist es notwendig, sich von einer polizeilich verhafteten Binnenperspektive abzulösen und polizeiliches Handeln in einen allgemeineren Kontext aktueller Transformationsprozesse zu stellen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei zwar nach wie vor auf der Polizei - in Form der einzelnen Polizeigesetze der Länder - es gilt aber zu überprüfen, ob deren immer kriminalpräventivere Ausrichtung nicht als ein Ausdruck einer übergeordneten präventiven Wende der „allgemeinen“ Sicherheitsgesetzgebung interpretierbar ist.

Der zweite von Garland analysierte Zweig heutiger Kontrollkultur ist der theoretische Rahmen für die im vierten Kapitel diskutierte Mitarbeit der Polizei in der so genannten „kommunalen Kriminalprävention“. Garland ordnet diese Kontrollpraxis der von ihm aufgezeigten adaptiven Kontrollstrategie zu. Unter Berücksichtigung der nationalen Eigenheiten gilt es zu hinterfragen, welche Rolle und Funktion die Polizei innerhalb der lokalen Kriminalprävention einnimmt und ob man dieser Kontrollpraxis einen demokratischen Mehrwert zusprechen kann oder ob sie im Gegenteil, eine Gefahr für die Freiheitssphäre der Bürger darstellt.

Eine abschließende Zusammenführung der Ergebnisse mit Ausblick findet sich im fünften und damit auch letzten Kapitel.

1. Kriminalprävention im Wandel

Dieses Kapitel widmet sich der Frage, welche Verständnisse für den Begriff der Kriminalprävention innerhalb der darauf Bezug nehmenden Literatur vorhanden sind. Darüber hinaus soll gezeigt werden, welche Veränderungen sich im Laufe der Zeit in der Begriffsbedeutung ergeben haben. Im Sinne des Autors können diese als eine Abkehr von einem traditionell rechtsstaatlich geprägten Verständnis, hin zu einer grundsätzlich neuen Auffassung von Kriminalprävention interpretiert werden (Sack, 1995). Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in gravierenden Transformationen innerhalb der Aufgaben und des Selbstverständnisses der deutschen Polizei.

1.1 Begriffsklärung

Der Begriff „Prävention“ stammt ursprünglich aus der lateinischen Sprache und bedeutet soviel wie „Zuvorkommen“, „Vorbeugen“ oder „Verhüten“ (Hagen, 1990, S. 838). Demnach beziehen sich Maßnahmen, die unter einer kriminalpräventiven Ausrichtung geführt werden, hinsichtlich ihrer Zielsetzung und Wirkkraft, auf Handlungen und Entwicklungen in einer aus der Gegenwartsperspektive erwarteten Folgezeit (vgl. Pütter, 2007, S. 3).

Die unterschiedlichen kriminalpräventiven Ansätze, die im Rahmen dieser Arbeit bearbeitet werden sollen, haben daher oft keine andere Gemeinsamkeit als ihre Zielsetzung, nämlich die Verhinderung und Reduktion von Kriminalität in der Zukunft (vgl. Lehne, 2005, S. 54). Ein kriminalpräventives Vorgehen kann sich in diesem Sinne auf angenommene Entwicklungstendenzen beziehen, in deren Ablauf eingegriffen werden soll, um eine antizipierte Weiterentwicklung zu unterbinden, oder es kann einen Versuch darstellen, allgemeine Ausgangslagen zu schaffen, in denen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens unerwünschter Entwicklungen reduziert wird (vgl. Hagen, 1990, S. 838). Das Thema dieser Arbeit beschäftigt sich im Speziellen mit dem Verständnis und der Praxis polizeilicher Kriminalprävention in Deutschland und dementsprechend mit Tendenzen, Maßnahmen und Entwicklungen, welche mit der Prävention von Kriminalität in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen vonseiten der Polizei zusammenhängen. Dabei soll gezeigt werden, dass die Maßnahmen der Polizei, welche aus deren Perspektive als kriminalpräventiv verstanden werden wollen, in ihrer Summe zu einer Stärkung und Machterweiterung des polizeilichen Handlungsrepertoires und der polizeilichen Funktionslogik führen. „ U nte r Kriminalprävention versteht man alle Maßnahmen, welche die Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen (Makroebene) oder Straftaten als individuelles Ereignis (Mikroebene) quantitativ verhüten, qualitativ mindern oder zumindest die unmittelbaren Folgen der Deliktsbegehung (z. B.) das Schadensausmaß gering halten sollen“ (Lim, 1999, S. 9). Vor dem Hintergrund der thematischen Engführung dieser Arbeit stellt Kriminalprä- vention daher die Gesamtheit aller polizeilichen Bemühungen zur Verhütung von Straftaten dar, wobei sich eine Differenzierung vornehmen lässt, da diese entweder ein freiwilliges Informationsoder Partizipationsangebot darstellen, oder aber einen Eingriffsund Zwangscharakter aufweisen können. Abgesehen davon ist zu berücksichtigen, dass die Polizei, als Organisation nicht losgelöst von ihrer Aufgabenzuweisung innerhalb ihrer funktionalen Rolle als staatliche Exekutive betrachtet werden kann und daher auch Entwicklungstrends und Veränderungsprozesse innerhalb der Kriminalpolitik und den gesetzlich fixierten Rahmenbedingungen polizeilicher Tätigkeit berücksichtigt werden müssen.

1.2 Das „traditionelle“ Verständnis von Kriminalprävention

Bevor es zu der Ausdifferenzierung des modernen Wohlfahrtsstaates und seiner heutigen Ausprägung der unterschiedlichen Subsysteme des zeitgenössischen Kriminaljustizsystems gekommen ist, war der Begriff der Kriminalprävention in einem hohen Maße an das staatliche Strafzweckdenken gebunden und in dieser Hinsicht ein Bestandteil der generalund spezialpräventiven Ausrichtung des Strafrechts (Pütter, 2007, S. 5). In dieser Ausformung findet das Strafrecht seinen Fluchtpunkt in einer erstrebten Wirkung und der Legitimation über den Gedanken der kriminalpräventiven Wirksamkeit. Prävention ist in diesem Sinne die vornehmste Aufgabe des Strafrechts, wie es im Sinne seiner Konstrukteure Beccaria, Bentham und Feuerbach konzipiert wurde (vgl. Sack, 1995, S. 437).

Demnach soll allein die Existenz des Strafrechts ein antizipatorisches Wirkungspotenzial auf den sich selbst noch nicht als solchen manifestierten, mit Vernunft und Rationalität ausgestatteten Täter entfalten und ihn von der Begehung einer Straftat abschrecken. Diese Form der Kriminalprävention richtet sich also nicht auf Subjekte oder Objekte innerhalb einer materiellen Wirklichkeit, sondern sie liegt eher im Bereich des psychischen und symbolischen Einflusses des Normenwirkungsgefüges auf die ihm zugehörigen Gesellschaftsmitglieder (vgl. Sack, 1995, S. 438).

Die Generalprävention des Strafrechtes bezieht sich auf eine angenommene präventive Wirkkraft der Strafe. Nach dieser Theorie, welche Teil einer relativen Straftheorie ist, wird der Täter sanktioniert, um andere potenzielle Abweichler von der Begehung einer Straftat abzuhalten. Der Zweck der Strafe besteht in diesem Sinne nicht allein in der Vergeltung einer Rechtsbrechung, sondern ebenso in einer Verhinderung zukünftiger Straftaten. Die angenommene generalpräventive Wirkung des Strafrechts beruht auf der Annahme, dass der Mensch als rationaler Akteur (homo oeconomicus) durch die Möglichkeit der strafrechtlichen Sanktionierung im Falle eines Normbruches, von der Begehung einer Straftat abgehalten wird (Lim, 1999, S. 6ff). Damit spielt die Strafe selbst eine wichtige Rolle innerhalb des traditionellen Verständnisses der Kriminalprävention. Der generalpräventive Effekt der Strafe resultiert dabei nicht nur aus seinem angenommenen Abschreckungseffekt, sondern ebenso in der Erhaltung und Stärkung des Vertrauens der Bürger in die Bestandsund Durchsetzungskraft der bestehenden Rechtsordnung (vgl. Pütter, 2007, S. 5).

Generalprävention existiert in diesem Kontext sowohl in einer negativen als auch in einer positiven Variante. In ihrer negativen Ausprägung zielt sie auf den der Sanktionsandrohung und der Sanktionspraxis innewohnenden Abschreckungseffekt auf den potenziellen Normbrecher. Demnach müsste eine Intensivierung der polizeilichen Kontrolldichte und eine damit zusammenhängende erhöhte Entdeckungswahrscheinlichkeit, oder aber eine Verschärfung der Sanktionshärte (Sack, 1995, S. 430) einen generalpräventiven Effekt (in seiner negativen Ausprägung) haben.

Die positive Generalprävention des Strafrechts zielt darauf ab, dass diese Auswirkungen auf die Normverdeutlichung und die Normbindung der Gesellschaftsmitglieder an die vorhandene Rechtsordnung hat. So verstanden wirkt sie konformitätsfördernd, indem sie das strafrechtliche Normengefüge verdeutlicht und durch deren Anwendung und Durchsetzung die Rechtstreue der Bevölkerung verstärkt (vgl. Albrecht, 1985, S. 132f).

Das Ausbleiben eines generalpräventiven Effektes führt zu einer institutionellen Anwendung der Gesetze durch die Instanzen des Strafrechts, zu denen auch die Polizei in ihrer funktionalen Rolle innerhalb der Strafverfolgung gehört (vgl. Sack, 1995, S. 438). Vor diesem Hintergrund ist polizeiliches Agieren nur in sofern als kriminalpräventiv zu begreifen, als das es der Ermittlung und Zuführung des Normbrechers in das Strafjustizsystem dient.

Im Kontext eines klassischaufklärerischen Strafrechts war Prä- vention daher über seine repressiven Strukturen und Funktionen herzustellen. Ein auf dieser Grundlage basierendes präventives Geschehen hatte demnach bei den Adressaten des Strafrechts seinen Ort der Verwirklichung und Exekution (Sack, 1995, S. 438) und weniger bei den Instanzen des Strafverfolgungsapparates.

Die präventiv ausgerichteten Aspekte des Strafrechts blieben damit Teil einer repressiven Logik. Das Strafrecht indiziert zwar einen Strafverfolgungszwang, insbesondere durch das in Deutschland geltende Offizialprinzip[1] und das Legalitätsprinzip[2], unbeachtet dessen basiert die Funktionslogik des Strafrechtes darauf, dass seine institutionellen Träger erst auf Nachfrage und Anstoß von außen tätig werden. Auf der Ebene der Polizei zeigt sich dies z. B. dadurch, dass 90% der polizeilich registrierten Kriminalität auf eine Anzeigenaufgabe vonseiten der Bevölkerung zurückzuführen sind (Hohmeyer, Kant, & Pütter, 2001, S. 156).

Die reaktive Struktur des Strafrechts ist gleichsam als die Balance zwischen den beiden für moderne Staatlichkeit und Vergesellschaftung konstitutiven Bereiche des Privaten und des Öffentlichen anzusehen, also als eine juridisch normierte Grenze zwischen Staat und Gesellschaft. Daher markiert der reaktive Charakter der strafrechtlichen sozialen Kontrolle die Differenz zwischen Polizeiund Verfassungsstaat (vgl. Sack, 1995, S. 440). In institutioneller Hinsicht ist es daher die Struktur und Funktion der Polizei, an denen sich der Grad der Reaktivität der strafrechtlichen sozialen Kontrolle bemessen lässt und sie ist daher das institutionelle staatliche Scharnier in die Gesellschaft hinein. Deshalb ist die Ausgestaltung der Organisation und die Rolle der Polizei ein entscheidender Indikator für eine freiheitsoder polizeistaatlich verfasste Gesellschaft geworden (Sack, 1995, S. 440).

Der reaktive Charakter einer liberal – rechtsstaatlich geprägten Prävention zeigt sich des weiteren an der Funktion des Strafrechts als Ausgangspunkt einer retrospektiven Steuerungslogik. Denn das Strafrecht bezieht sich auf vergangene und abgeschlossene Taten. Daher liegt der hierin verankerte zentrale Blickwinkel auf der Abwicklung, Bereinigung und Sanktionierung von vollzogenem Handeln und nicht in der aktiven Gestaltung von zukünftigem Geschehen (Sack, 1995, S. 440). Insofern lässt sich von Steuerung nur in indirekter Weise sprechen. Das Strafrecht in seiner klassischen Ausprägung setzt daher auf einem Konditionalprogramm (wenn-dann) auf.

Die bis hierhin aufgezeigten Implikationen, einer sich an der strafrechtlich orientierten reaktiven Kriminalprävention, veränderten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts und differenzierten sich weiter aus:

Im Zuge des Aufbaus und der Bildung des modernen Wohlfahrtsund Sozialstaates, kam es sowohl zu der Integration sozial schwachen Schichten über die Implementation sozial wirksamer Rahmenprogramme, als auch zu einer gesellschaftlichen Konstituierung und Konstruktion des rein individualistisch reduzierten und pathologisierten Kriminellen im Sinne einer positivistisch ausgerichteten Kriminologie. Doch auch die in diesem Zusammenhang im Strafrecht verankerten Maßregeln zur Besserung und Sicherung stellen keine Abkehr vom reaktiven Kern strafrechtlicher Kriminalprävention dar, sondern erweiterten diese um die sogenannte Spezialprävention (vgl. Sack, 1995, S. 441ff):

Unter den Begriff der Spezialprävention fallen alle Maßnahmen, die der Vorbeugung von erneuten Straftaten dienen. Diese zielen entweder auf den bereits als solchen ausgewiesenen Straftäter, oder aber auf die dem registrierten Opfer zuteilwerdenden schutzbezogenen Maßnahmen (Eisenberg, 1995, S. 727). In erster Linie zielt die Spezialprävention aber auf die Verhütung künftiger Straftaten durch unmittelbares Einwirken auf den Täter ab (Lim, 1999, S. 9). Genau wie die Generalprävention existiert sie in einer positiven und einer negativen Ausformung. Die negative Spezialprävention dient der Abschreckung des Täters vor einer erneuten Begehung einer Straftat und der Sicherung der Allgemeinheit vor dem Delinquenten. Als ausschlaggebend hierfür können das Strafmaß inklusive Strafdauer und der abschreckende Effekt der Strafverbüßung angesehen werden (vgl. Kaiser, 1996, S. 265). Die positive Spezialprävention beinhaltet die Resozialisierung des Straftäters über die Elemente der Erziehung, der Besserung und der Wiedergutmachung. So soll zum Beispiel der Gefangene mit dem Vollzug einer Freiheitsstrafe im Sinne des (noch) geltenden §2 des Strafvollzuggesetzes[3] befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (StVollzg, 2007§2).

Im Kontext dieser Entwicklungen kommt es schließlich zu einer Zweckbindung der sich entwickelnden institutionell orientierten Rahmenprogramme des aufkommenden Sozialstaates, als Leistungsträger ihrer inhärenten kriminalpräventiven Möglichkeiten, mit anderen Worten zu einer außerstrafrechtlichen Kriminalprä- vention (vgl. Sack, 1995, S. 443). Dementsprechend erweitert sich der Kreis institutioneller Träger und staatlicher und nichtstaatlicher Akteure auf diesem Gebiet. Es entsteht ein gesamtgesellschaftliches Präventionsmodell, welches sich in Anlehnung an den Mediziner Georges Caplan (Caplan, 1964) in ein drei Stufen Prozessmodel einteilen lässt. Diesem liegt ein zeitliches Verlaufsmodell steigender Intensitätsund Verfestigungsgrade von Problemlagen zugrunde (Ziegler, 2006, S. 147), auf deren Basis sich aussagen über die institutionellen Zuständigkeiten (und dementsprechend auch Nicht-Zuständigkeiten) von Kontrollorganen innerhalb des staatlichen und nichtstaatlichen Kontrollgefüges zur Vermeidung von abweichendem Verhalten ableiten lassen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die einzelnen Präventionsebenen nicht isoliert voneinander betrachtet werden dürfen, sondern in ein gesellschaftliches Grundkonzept von Prävention eingebunden sind: Die sogenannte primäre Prävention stellt den Versuch dar, die tieferen Ursachen delinquenter Verhaltensweisen zu beseitigen und somit die Entstehung von Kriminalität an ihren Wurzeln zu bekämpfen, indem sie sich zum Beispiel mit Fragen des Abbaus von sozialstrukturellen Defiziten auseinandersetzt (Koch & Kube, 1997, S. 9). Die Adressaten dieses Präventionstypus stellen die Allgemeinheit oder bestimmte Bevölkerungsgruppen dar, da es bei dieser Art der Prävention um die Beseitigung von oder die Unterstützung bei defizitären schichtenspezifischen Strukturen und übergeordneten gesellschaftlichen Mängellagen geht. „Dieser Ansatz bezieht sich auf Erziehung und Sozialisation in Familie, Schule und Freizeit, auf die Wohnund Arbeitssituation, quasi auf alle Bereiche, die bei Kindern und Jugendlichen für deren psychosoziale Entwicklung von Bedeutung sind. Bei Erwachsenen geht es generell um die Bedingungen, unter denen sie ihr Leben gestalten (können)“ (Feltes, 2006b, S. 1). Primäre Prävention kann vor diesem Hintergrund nicht allein durch eine einzelne Institution geleistet werden, sondern bedarf der Kooperation unterschiedlicher Akteure und entspricht in diesem Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe (vgl. Jehle, 1996, S. 23f). Vor diesem Hintergrund stellt sie aber dennoch kein ordinäres kriminalpräventives Aktionsfeld der Polizei in ihrem klassischen Aufgabenverständnis dar, obgleich es nunmehr, z. B. im Bereich der kommunalen Kriminalprä- vention, auch zu einem polizeilichen Mitwirken im primären Prä- ventionssektor kommt (vgl. Pütter, 2007, S. 7).

Die sekundäre Prävention unterscheidet sich grundsätzlich von der primären Prävention, da sie sich explizit mit der Verfolgung und Abschreckung von potenziellen Straftätern beschäftigt (Feltes, 2006b, S. 1). In kriminologischer Lesart geht es dabei ganz allgemein ausgedrückt um eine Verschlechterung der Gelegenheitsstrukturen von Straftaten, was alle Anstrengungen, die prinzipiell tatgeneigte und tatbereite Personen von der tatsächlichen Aus- übung einer Straftat abhalten soll, beinhaltet. Dies kann dabei sowohl über die Erhöhung des Tataufwands, z. B. durch die Beratung und Unterstützung potenzieller Opfer hinsichtlich ihrer Eigentumssicherung, als auch durch eine Erhöhung des Entdeckungsrisikos (verstärkter polizeilicher Kontrolldruck) und eine Veränderung der Tatgelegenheitsstrukturen (z. B. Einbruchsschutz, Sicherung von Waren) geschehen. Die sekundäre Prävention ist die am meisten Verbreitete traditionelle Art der polizeilichen kriminalpräventiven Bemühungen. „Ihr Interesse richtet sich auf die Bestimmung und Beeinflussung von potentiell [sic!] delinquenten Personen und kriminogenen Situationen“ (Lim, 1999, S. 13). Die Aufgaben der Polizei beziehen sich hierbei auf die Früherkennung und Prognose krimineller Entwicklungen im Rahmen der Gefahrenabwehr. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein präventives polizeiliches Vorgehen unter dem in dieser Arbeit verwendeten Verständnis von Kriminalprävention eine aus rechtsstaatlicher Sicht zu beanstandende Problematik mit sich führt:

Denn jedwede kriminalpräventive polizeiliche Maßnahme bezieht sich auf eine antizipierte und noch nicht abgeschlossene Handlung bzw. Entwicklung. Das bedeutet, dass die Gegenwart im Sinne der präventiven Maßgaben normativ auf die Zukunft projiziert wird und somit ihr eigenes Aktionsfeld konstruiert (Bröckling, 2002, S. 39f). Umso intensiver die kriminalpräventive Ausrichtung der von der Polizei durchgeführten Maßnahmen sind, um so mehr richtet sich ihr Fokus daher weg von „tatsächlich“ delinquenten Personen, die als solche z. B. im Rahmen eines Strafprozesses „produziert“ werden, hin zu einer viel größeren Zahl von potenziell Delinquenten, weitgehend sogar auf ganze Gruppen, Bevölkerungsteile, bis hin auf die Gesellschaft als Ganzes (vgl. Gössner, 1991, S. 66; Wambach, 1990, S. 779).

Die tertiäre Kriminalprävention bezieht sich vor allem auf die strafrechtliche und polizeiliche Rückfallbekämpfung und –verhinderung. Ihr Anspruch ist es, bereits überführte Straftäter vor einem Rückfall zu bewahren, insbesondere durch die ausgesprochene Sanktion und die Behandlung und Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft im Rahmen des (noch geltenden) Resozialisierungsanspruches des Kriminaljustizsystems (Lim, 1999, S. 13f). Die Polizei ist hierbei durch Aufklärungsund Beratungsarbeit sowie ständige Erreichbarkeit präventiv tätig (Koch & Kube, 1997, S. 8ff).

Zusammenfassend lässt sich zu diesem Zeitpunkt feststellen, dass das „alte“ Verständnis von Kriminalprävention im traditionellen Rechtsund Sozialstaat kein autonomes Handlungsfeld, sondern lediglich eine Funktionsebene des staatlichen Handelns in den einzelnen Sektoren darstellt, welche ansonsten getrennt voneinander organisiert sind. Auf der einen Seite befindet sich das System der sozialstaatlichen Leistungsgewahrung und der Gesellschaftsgestaltung und auf der anderen das System der rechtsstaatlich gebundenen und mit hohen Eingriffsschwellen versehenen Strafverfolgung und Gefahrenabwehr (Lehne, 1998, S. 120f).

1.3 Das „neue“ Verständnis von Kriminalprävention

Zu Beginn der 70´er Jahre startete in den USA innerhalb der Kriminalpolitik, aber auch in der Kriminologie selbst, eine Auseinandersetzung über die Strategien zur Kontrolle und Bekämpfung von Kriminalität, die seinerzeit als präventive Maßnahmen und präventive Programme begriffen wurden. Im Zuge der Wiederkehr eines politischen Konservativismus und einem sich zeitgleich entwickelndem Misstrauen gegenüber den Machtpotenzialen und der Steuerungsfähigkeit des Staates, die zu einem „Primat der institutionellen und ideologischen Strukturen von Ökonomie und Markt [...]“ (Sack, 1995, S. 429f) führten, kam es zu einem radikalen Abbau von staatlichen Steuerungsfunktionen insgesamt, insbesondere auf der Ebene der Einrichtungen und der dogmatischen Überzeugungen eines Sozialund Wohlfahrtsstaates und einem immer stärker werdenden (neo-) liberalen Staatsverständnisses, das auf Individualisierung und Verantwortungsabgabe setzte. Von dem hierin verankerten Menschenbild des homo oeconomicus, dem rational kalkulierenden Menschen ausgehend, war es nunmehr die Aufgabe der Kriminalpolitik, die Kosten- Nutzen-Relation einer Straftat aus der Perspektive eines potenziellen Täters dahingehen zu verschieben, dass die antizipierten Kosten, den erwarteten Nutzen übersteigen (vgl. Sack, 1995, S. 430ff).

Die bis hierhin beschrieben Veränderungen können zusammenfassend als ein Wechsel von einer nachfrageorientierten Kriminalpolitik verstanden werden, welche die ökonomischen, sozialen und beruflichen Situationen eines potenziellen Delinquenten in den Mittelpunkt ihrer Präventionsbemühungen stellten, zu einer angebotsorientierten präventiven Kriminalpolitik, mit den beschriebenen inhärenten Prämissen und der Focussierung und Restriktion der Kriminalprävention auf Maßnahmen der Beeinflussung der unmittelbaren Einflussfaktoren einer kriminellen Handlung (Sack, 1995, S. 433). Aus dieser Verschiebung des (zeitlichen und räumlichen) Ansatzpunktes kriminalpräventiver Maßnahmen ergibt sich allein schon aus der hierbei immanenten Logik, ein vollkommen neues Verständnis für die Aufgaben und Zielsetzungen polizeilicher Arbeit, welches sich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch in Deutschland etabliert hat.

Daher ist auch bei uns seit geraumer Zeit ein Trend zu einer präventiv ausgerichteten Kriminalitätskontrolle auf polizeilicher Ebene zu verzeichnen, welche in der Terminologie einer vorbeugenden Verbrechensbekämpfung Einzug in die deutsche kriminalpolitische Diskussion seit Beginn der 70´er Jahre fand (Sack, 1995, S. 435). Dies nicht zuletzt durch die Forderungen des damaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes Horst Herold, welcher der Polizei aufgrund ihres umfassenden Informationsbestandes und ihrer alltäglichen Erfahrungen in der Kriminalitätsbekämpfung und –vorbeugung eine „gesellschaftssanitäre Aufgabe“ zusprechen wollte (vgl. Pütter, 2007, S. 8f).

Aufgrund von bestimmten nationalen Gegebenheiten (insbesondere der föderative Charakter deutscher Kriminalpolitik, einem historisch bedingten Konfliktpotenzial, der Ausprägung des deutschen Polizeibildes mit deren Hauptaufgabe im Rahmen der Straftatenund Verbrechensverfolgung) vollzog sich die Entwicklung des neuen präventiven Kontrollparadigmas zunächst schleppend. Dennoch ist festzustellen, dass die deutsche Entwicklung einer präventiven Kriminalpolitik kontinuierlich vorangeschritten ist und dazu geführt hat, dass bis dato die „Verbrechensvorbeugung – jenseits und außerhalb des gefahrenrechtlichen Ordnungsauftrags – mittlerweile zum separaten und ausdrücklichen Aufgabenkatalog der Polizei“ (Sack, 1995, S. 436) gehört.

Die Hauptmerkmale der „neuen“ Kriminalprävention, welche eine besondere Bedeutung für die in dieser Arbeit zu analysierende Organisation der Polizei haben, bestehen aus folgenden Punkten (Sack, 1995, S. 444ff):

1. Die Tendenz der Entdifferenzierung bewirkt, dass die vormals partikularisierten Träger staatlicherund nicht staatlicher Kriminalprävention nunmehr in kumulativer Denkart einen gemeinsamen Bezugspunkt als Garanten einer inneren und öffentlichen Sicherheit zugesprochen bekommen. Innerhalb der damit verbundenen Diskussion wird die Kriminalitätsfurcht, welche sich in subjektiven (Un-)Sicherheitsgefühlen und Bedrohungsängsten innerhalb der Bevölkerung zeigt, als ein eigenständiges Problem mit immenser gesellschaftlicher Relevanz verstanden. Dies führt zu einer Aufwertung des Präventionsdiskurses und bewirkt eine Mobilisierung und Aufrüstung von Gesellschaft und Kriminalpolitik im Namen der Sicherheit (siehe hierzu ausführlich Kapitel 4).

2. Die „neue“ Kriminalprävention zieht eine funktionale Verselbstständigung selbiger nach sich. Die beschriebene theoretisch – ideologische Zusammenführung präventiver Aufgaben, welche die Prävention in einen allgemeinen Kontext innerer Sicherheit stellen, verlängert sich auf der Ebene der funktionalen und strukturellen Gliederung zwischen Staat und Gesellschaft (vgl. Sack, 1995, S. 447f). Diese Autonomisierung der Prävention führt zu einer Herausbildung eines eigenen gesellschaftlichstaatlichen Subsystems, mit einem eigenen Leistungsund Durchsetzungsanspruch. Auf Ebene der Polizei zeigt sich dieser Umstand an der Diskussion um die vorbeugende Verbrechensbekämpfung und an der hier anknüpfenden Frage, ob diese ein drittes autonomes Standbein polizeilicher Aufgabenwahrnehmung (neben der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr) werden soll. Resümierend lässt sich festhalten, dass die funktionale Verselbstständigung der „neuen“ Kriminalprävention insgesamt eine höhere Flexibilität und organisatorische Variabilität auf dem gesellschaftlichstaatlichem Aktionsfeld der Prä- vention ermöglicht, als es die klassische strafrechtliche Prä- ventionsvariante erlaubte.

3. Es kommt zu einer Entpersonalisierung kriminalpräventiver Strategien (Sack, 1995, S. 448ff). Als Reaktion auf wahrgenommene Gefahren für die staatliche und gesellschaftliche Stabilität, namentlich durch Terrorismus, Betäubungsmittelkriminalität und die sogenannte organisierte Kriminalität, kristallisiert sich ein kriminalpräventiver Ansatz bei den staatlichen Ermittlungsbehörden aus, der sich als eine Vorverlagerung strafrechtlicher Sozialkontrolle bezeichnen lässt. Diese Strategie operiert aus ihrer inneren Logik heraus mehr und mehr abgekoppelt von personenbezogenen Anlässen und Kriterien und richtet ihren Fokus auf überindividuelle Zusammenhänge, Zustände und Situationen. Dieser Trend beinhaltet damit eine Abkehr von einer exekutiv – rechtlichen Eingriffsschwelle, welche die Figur des strafprozessrechtlich verankerten Angeschuldigten, bzw. den im Rahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr notwendigen „Störer“ aufgibt. (siehe hierzu ausführlich Kapitel 3)

Die soeben beschriebene „neue“ Kriminalprävention stellt einen bedeutenden Gestaltwandel hinsichtlich ihres präventiven Verständnisses dar, welcher aber nicht als völlige Abkehr von den Inhalten und Ausformungen seiner „traditionellen“ Interpretation zu verstehen ist. Vielmehr existieren beide Verständnisse weiterhin fort, es ist aber ein schleichender Prozess weg von der beschriebenen klassischen Orientierung zu verzeichnen, was zu gravierenden Ver- änderungen, insbesondere im Aufgabenverständnis und der Rolle der Polizei im Kriminalpräventionsdiskurs, führt. Nach Sack haben die zuvor beschriebenen Aspekte der „neuen“ Kriminalprävention weitreichende Auswirkungen auf Struktur und Stellung der Polizei im Gesamtkomplex strafrechtlicher Sozialkontrolle, was mit einer institutionellen Aufwertung und einer tendenziellen Re- Autonomisierung der Polizei einhergeht (Sack, 1995, S. 450f). Vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklungen und Ver- änderungen ist festzuhalten, dass die neue Kriminalprävention ein reaktives Strafrecht in ein proaktives System strafrechtlicher Sozialkontrolle transformiert, welches nicht länger die Reaktion auf einen strafrechtlichen Normbruch in den Mittelpunkt stellt, sondern aus einer antagonistischen Perspektive heraus deren Antizipation.

2. Kriminalprävention im Kontext einer neuen Kontrollkultur

Dieses Kapitel widmet sich der Frage nach einem Erklärungsansatz, vor dessen Hintergrund sich die in Kapitel 1 beschriebenen Ver- änderungen von einem „alten“ zu einem „neuen“ kriminalpräventiven Verständnis in einen umfassenderen theoretischen Kontext stellen lassen.

Im Sinne des Autors dieser Arbeit bieten die Implikationen der von David Garland entwickelten Thesen zu einer neuen Kultur der Kontrolle (Garland, 1996, 2001, 2003) einen adäquaten Erklärungsansatz, um die Entund Fortentwicklung der von der zeitgenössischen Polizei angestrebten und durchgeführten präventiven Interventionen auf Ebene der Kriminalitätskontrolle und -bekämpfung in ein theoretisches Konzept einzubetten. Garland selbst beschränkt sich in seinen Ausführungen nicht auf eine einzelne Institution, sondern formuliert seine Annahmen vor dem Hintergrund eines sich verändernden gesamtgesellschaftlichen und staatlichen Umganges mit dem Kriminalitätsphänomen. Dabei entwickelt er seine Analyse auf der Grundlage der Veränderungen der Kriminalitätskontrolltechniken in den USA und England, geht dabei allerdings davon aus, dass sich ähnliche Entwicklungen auch in anderen europäischen Ländern zeigen (Garland, 2001, S. Preface ix). Diesbezüglich herrscht innerhalb der kriminologischen Literatur weitestgehend Einigkeit darüber, dass die neue Kontrollkultur in Deutschland noch bei weitem nicht so ausgeprägt ist, wie in den von Garland untersuchten Ländern, in Ansätzen aber durchaus schon zu erkennen ist (vgl. Beste, 2000). In diesem Zusammenhang ist nach Meinung des Autors eine analytische Perspektive angebracht, die es ermöglicht, eine anzunehmende Divergenz zwischen einer kriminalpolitischen Rhetorik und einer realen Kontrollpraxis möglichst gering zu halten, was durch eine Fixierung auf ein bestimmtes Kontrollorgan (hierbei die deutsche Polizei) erreicht werden soll.

Der Ausbau einer neuen Kultur der Kriminalitätskontrolle entwickelte sich nach Garland aus einer grundlegenden Infragestellung eines wohlfahrtsstaatlichen Umganges mit Kriminalität, deren Grundvoraussetzung durch eine sich einstellende Normalität hoher Kriminalitätsraten und eine damit einhergehende kollektive Erfahrung von Kriminalität und Unsicherheit (Garland, 2003, S. 3), sowie durch eine Überbelastung des Kriminaljustizsystems gekennzeichnet sind. Im Sinne Garlands sind diese Veränderungen Auswirkungen eines übergeordneten gesellschaftlichen und staatlichen Transformationsprozesses, der sich vor dem Hintergrund der Globalisierung, der Liberalisierung und Ökonomisierung der Märkte, des Auflebens neoliberaler Theoriebildung, dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen, der Individualisierung und Pluralisierung - sprich dem Übergang von der Moderne in die Postoder Spätmoderne abzeichnet[4].

2.1 Skizzierung einer neuen Kultur der Kontrolle

Garlands Analyse beschreibt eine Transformation innerhalb des Kriminalitätskontrollkomplexes, dessen heutige Kultur sich maß- geblich von seiner traditionellen Ausprägung in Form eines „Penal Welfarism“ (Garland, 2001, S. 3f) unterscheidet, welcher in seiner deutschen Variante am ehesten den sozialliberalen Implikationen der modernen Strafrechtsschule entspricht (Kaiser, 2003, S. 235). Im Rahmen dieses Wandels kommt es dabei zu radikalen Ver- änderungen innerhalb der Organe und Institutionen des Kriminaljustizsystems, zu denen auch die Polizei gehört.

Nach Garland stellt die Bestrafung einer Rechtsbrechung auch heute noch einen wichtigen Bestandteil der Strafverfolgung und über die in Kapitel 2 beschriebenen Implikationen der generalund spezialpräventiven Wirkung des Strafrechts dar. Doch tritt dieser auf Prävention durch Repression setzende Wirkungsmechanismus zunehmend hinter den Aspekt der sozialen Kontrolle zurück (Bammann, 2002). Im Sinne Garlands kommt es daher im Feld der zeitgenössischen Kriminalitätskontrolle zu einem Paradigmenwechsel bei der Verhinderung abweichenden Verhaltens und damit gleichsam zu dem Versuch der Prävention von Straftaten, die aus einer zeitlichen Perspektive immer weiter vorverlegt wird. Demnach soll abweichendes Verhalten heutzutage nicht mehr allein nachträglich durch die Bestrafung und der hierbei angenommenen präventiven Wirkung verhindert werden, sondern schon zu einem viel früheren Zeitpunkt, nämlich bereits auf der Kontrollebene selbst (Bammann, 2002).

In seiner traditionellen Ausprägung ist die Kontrollkultur des „Penal Welfarism“, welche Garland in der Zeit vor 1970 verortet „a hybrid [...] structure, combining the liberal legalism of due process and proportionate punishment with a correctionalist commitment rehabilitation, welfare and criminological expertise” (Garland, 2001, S. 27). Unterlegt ist diese Art der Kontrollkultur von einem kriminologischen Theoriengeflecht, welches sich aus einem Mix aus Anomie-, Deprivations- Subkulturund Labelingtheorien zusammensetzt. Vor diesem Hintergrund sind die Täter einer Straftat eher die Opfer einer als problematisch erachteten Sozialisation oder rekrutieren sich aus sozial schwachen Verhältnissen (Garland, 2001, S. 15). Eine adäquate Reaktion auf eine so begründete Kriminalität „lay in individualized correctional treatment, the support and supervision of families, and in welfare-enhancing measures of social reform – particularly education and job creation” (Garland, 2001, S. 15). Die Implikationen eines solchen Verständnisses über die Kriminalitätsursachen setzen daher auf eine Prä- ventionslogik, die über Hilfeleistungen an die Delinquenten versucht, einen sozialen und psychologischen Ausgleich zu schaffen. Dabei sollen Voraussetzungen geschaffen werden, die ein konformes Leben im Sinne einer Nichtabweichung möglich machen sollen. In diesem Kontext ist die präventive Ausrichtung der Polizei eher an das in Kapitel 2 beschriebene präventive Wirken über reaktive Maßnahmen gebunden. In der englischsprachigen Literatur ist diese Polizeistrategie als „911 policing“ bekannt und entwickelt sich als ein „reactive policing style that took police officers off the street and out of communities, placed them in patrol cars, and concentrated on providing a rapid response to emergency calls” (Garland, 2001, S. 92).

Vor dem Hintergrund einer sich in den letzten 30 Jahren entwickelnden hohen Kriminalitätsrate, die zu einem normalen sozialen Fakt aller zeitgenössischen westlichen Zivilisationen wurde (Garland, 1996, S. 446), differenziert sich eine neue Form der Kriminalitätskontrolle aus, die zu Teilen einen Bruch mit den inhaltlichen Konzeptionen des „Penal Welfarism“ darstellt. Kriminalität wird zu einem Alltagsrisiko, das eher verwaltet werden muss, als dass es tatsächlich verhindert werden kann. Der Staat galt und verstand sich selbst über eine lange Zeit als der Garant innerer Sicherheit, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriminalität zu bekämpfen und damit die Sicherheit seiner Gesellschaftsmitglieder zu gewährleisten. Doch die eher auf reaktive Kontrolle ausgerichteten Strategien der staatlichen Sicherheitsproduzenten und der darin beinhaltete Resozialisierungsansatz sahen sich in den 70´ Jahren einer massiven Kritik ausgesetzt, deren Inhalt sich in dem damals aufkommenden „Nothing Works“ Slogan widerspiegelt (Garland, 1996, S. 448). Eine Auswirkung dieses Zeitgeistes war die Erkenntnis, dass die „goverment agencies cannot, by themselves, suceed in controlling crime [...]“ (Garland, 1996, S. 448). In ihrer Summe führen die wahrgenommene Normalität der hohen Kriminalitätsraten und die damit einhergehende Erkenntnis der Unzulänglichkeiten der Institutionen des Kriminaljustizsystems, zu einer Erosion des bis dato als gültig anerkannten Mythos, dass der moderne souveräne Staat in der Lage sei, allgemeine Sicherheit zu gewährleisten und Kriminalität innerhalb seiner Landesgrenzen effektiv zu bekämpfen (Garland, 1996, S. 448). Komplementär da-zu orientiert sich eine sich selbst als realistisch verstehende Polizeistrategie, nicht länger an der Zielsetzung der Abschaffung oder endgültigen Eindämmung der Kriminalität, sondern an der Etablierung und dem Ausbau einer effektiven präventiv ausgerichteten Kriminalitätskontrolle (vgl. Pütter, 2007, S. 9).

[...]


[1] Das Offizialprinzip ist der Grundsatz, nach dem die Strafverfolgung durch den Staat von Amts wegen erfolgt (§ 152 I StPO). Auf den Willen von Verfahrensbeteiligten wird hierbei keine Rücksicht genommen (Rechtswörterbuch, 2005b).

[2] Das Legalitätsprinzip beinhaltet, dass die Staatsanwaltschaft beim Vorliegen hinreichender An− haltspunkte von Amts wegen verpflichtet ist, einzuschreiten. Es handelt sich hierbei um einen gesetz− lich angeordneten Verfolgungs− und Anklagezwang (§§ 152 II, 160 I, 163 I StPO) (Rechtswörterbuch, 2005a).

[3] Der Bundestag hat am Freitag, den 30.Juni 2006 Änderungen an 20 Artikeln des Grundgesetzes zugestimmt und ein Föderalismusreform−Begleitgesetz verabschiedet. Hierdurch werden die gesetz− geberischen Zuständigkeiten von Bund und Länder neu geordnet. Hierbei kommt es zu einem Über− gang der Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug vom Bund auf die Länder. Dabei wird unter Kritikern angenommen, dass es hierdurch zu einer Reduzierung von Resozialisierungs− leistungen kommen wird und nunmehr eine Verhinderung neuer Straftaten durch Einsatz restriktiver Vollzugsmittel primäres Vollzugsziel sein wird (vgl. Brinkmann, 2006, S. 1ff).

[4] Eine explizite Darstellung dieser Hintergründe kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden, eine Übersicht, welche die Besonderheiten für die Bundesrepublik Deutschland berück− sichtigt, findet sich bei Singelstein und Stolle (Singelnstein & Stolle, 2006)

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Verständnis und Praxis polizeilicher Prävention in Deutschland
Untertitel
Analyse und Diskussion von Veränderungsprozessen kriminalpräventiver Ansätze vor dem Hintergrund einer neuen „Kultur der Kontrolle“
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für kriminologische Sozialforschung)
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
107
Katalognummer
V113811
ISBN (eBook)
9783640140947
ISBN (Buch)
9783640140992
Dateigröße
949 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verständnis, Praxis, Prävention, Deutschland
Arbeit zitieren
Dipl. Kriminologe / Dipl. Soz. Pädagoge Robert Siegl (Autor:in), 2007, Verständnis und Praxis polizeilicher Prävention in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113811

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