Der Einfluss selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) auf depressive und zwanghafte Verhaltensweisen bei adoleszenter Anorexia nervosa


Doktorarbeit / Dissertation, 2008

168 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Einführung
1.2. Beschreibung des Krankheitsbildes
1.2.1. Anorexia Nervosa
Definition
Diagnose-Kriterien
Epidemiologie
Klinik
Ätiologie
Krankheitsverlauf
Therapie
1.2.2. Komorbidität bei Anorexia Nervosa
Depression
Zwangsstörung
Anorexia Nervosa in Beziehung zu Depression und Zwangsstörung
1.3. Serotoninerges System
1.3.1. Neuroendokrine Störungen bei Anorexia Nervosa
1.3.2. Serotonin
Funktion und Wirkung
1.3.3. Bedeutung von Serotonin bei Anorexia Nervosa
Veränderungen im untergewichtigen Zustand
Veränderungen im kurzfristig gewichtsnormalisierten Zustand
Veränderungen im langfristig gewichtsnormalisierten Zustand
Veränderungen bei Bulimia Nervosa
1.3.4. Bedeutung von Serotonin bei Depression und Zwang
Veränderungen bei Depression
Veränderungen bei Zwangsstörung
1.4. Pharmakotherapie mit selektiven Serotonin
Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI)
1.4.1. Substanzen
1.4.2. Wirk-Mechanismus
1.4.3. Pharmakokinetik
1.4.4. Substanzen
1.4.5. Nebenwirkungen
1.4.6. Indikation und Einsatz bei Depression und Zwang
1.4.7. Indikation und Einsatz bei Anorexia und Bulimia Nervosa
1.5. Eigene Studie
1.6. Fragestellung und eigene Zielsetzung

2. Methodik
2.1. Probanden
2.1.1. Aufnahme von Patienten in die Schule
2.1.2. Studienteilnehmer
2.1.3. Aufklärung und Einverständnis
2.1.4. Gruppeneinteilung
2.2. Studienbeschreibung
2.2.1. Versuchsablauf
2.2.2. Messzeitpunkte
2.3. Datenerhebung
2.3.1. Fragebögen und Interviews
Anamnesebogen
Studien-Fragebogen
Depressions-Inventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ)
Anorexia Nervosa Inventar zur Selbstbeurteilung (ANIS)
Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS)
Strukturiertes Interview für anorektische und bulimische Essstörungen - Expertenbeurteilung (SIAB-EX)
Nachuntersuchungsfragebogen
Body Mass Index standard deviation scores BMI-SDS
2.3.2. Interviewer
2.4. Datenanalyse
2.4.1. Verfahren
2.4.2. Programme

3. Ergebnisse
3.1. Ergebnisse für die gesamte Untersuchungsgruppe bei Beginn
3.2. Vergleich SSRI versus Non-SSRI-Gruppe
3.2.1. Aufnahme
3.2.2. Zehnte stationäre Woche (Medikationsbeginn)
3.2.3. Stationärer Verlauf und Entlassung
3.2.4. Poststationärer Verlauf

4. Diskussion
4.1. Begründung für die Durchführung der Studie
4.2. Wirkung der SSRI auf die komorbiden Störungen bei Anorexia nervosa
4.3. Vergleich der Daten zum Verlauf
4.4. Nachteile und Einschränkungen der vorliegenden
Untersuchung
4.5. Stärken der vorliegenden Untersuchung
4.6. Schlussfolgerung

5. Zusammenfassung

Übersicht der Tabellen und Graphiken:

I. Tabellen Studien:

Tabelle 1: Komorbide Störungen bei Anorexia Nervosa-Patienten

Tabelle 2: Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia Nervosa-Patienten – Übersicht zu Studien

Tabelle 3: Veränderungen im Serotonin-System bei Bulimia Nervosa-Patienten – Übersicht zu Studien

Tabelle 4: Veränderungen im Serotonin-System bei Patienten mit weiteren psychiatrischen Erkrankungen – Übersicht zu Studien

Tabelle 5: Zusammenfassung der Veränderungen im Serotonin-System bei Patienten mit Anorexie Nervosa (in unterschiedlichen Erkrankungs-Stadien/Gewichtszustand), sowie bei Patienten mit Zwangserkrankung und Depression

Tabelle 6: Überblick SSRI und Dosierungen

Tabelle 7: SSRI (Effekte) bei Kindern und Jugendlichen mit Depression – Übersicht zu Studien

Tabelle 8: SSRI-(Effekte) bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangserkrankungen – Übersicht zu Studien

Tabelle 9: SSRI-(Effekte) bei Erwachsenen (und Jugendlichen) mit Anorexia Nervosa – Übersicht zu Studien

II. Tabellen Ergebnisse:

Tabelle 10: SSRI-Einnahme – Präparate und Dosierung zum Entlasszeitpunkt

Tabelle 11: Messzeitpunkten und Untersuchungen

Tabelle 12: Mittelwerte und t-Teste 1

Tabelle 13: Mittelwerte und t-Teste 2

Tabelle 14: ANOVA

III. Graphiken:
BMI-sds
ANIS
SIABgesamt
SIAB-sub2
DIKJ
Anankasmus (ANIS-sub3)
Y-BOCS

Anhang:

I. Abkürzungsverzeichnis

II. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1. Einführung

Die Anorexia nervosa ist eines der schwerwiegendsten Krankheitsbilder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Behandlung ist oft langwierig, außerdem muss über Jahre hinweg mit einem hohen Rückfallrisiko gerechnet werden. Auch aufgrund der steigenden Inzidenz sowie der für eine psychiatrische Erkrankung relativ hohen Mortalität, besteht bei der Magersucht ein hoher Forschungsbedarf, insbesondere an Therapiestudien.

Von Interesse ist dabei insbesondere die noch nicht geklärte Pathogenese der Anorexia nervosa. Es wird angenommen, dass unter anderem eine Vulnerabilität im serotoninergen Neurotransmittersystem ätiologisch relevant ist.

Obwohl keine evidenz-basierte medikamentöse Standardtherapie in der Langzeitbehandlung der Anorexia nervosa existiert, wurden häufig selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) angewandt, nicht zuletzt wegen der Effektivität dieser Medikamentengruppe bei Zwangs- und Depressionserkrankungen, die als komorbide Störungen bei Anorexia nervosa häufig zu beobachten sind.

So wollten wir in dieser Arbeit untersuchen, inwiefern eine additive SSRI-Behandlung positive Auswirkungen auf den Verlauf der komorbiden Symptomatik bei jugendlichen Patienten mit Anorexia nervosa hat.

1.2. Beschreibung des Krankheitsbildes

1.2.1 Anorexia nervosa

Definition

Die Anorexia nervosa wird auch als Pubertätsmagersucht bezeichnet. Das dem Kreis der Essstörungen zugehörige Krankheitsbild geht einher mit deutlichem Untergewicht, der damit verbundenen Gesundheitsgefährdung, sowie dem extremen Wunsch, einem übermäßigen Schlankheitsideal zu entsprechen (Becker et al. 1999, Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Walsh et al. 1998). Als Kriterien für ein Untergewicht gelten ein Körpergewicht von mehr als 15% unter der Norm, beziehungsweise ein Body Mass Index von weniger als 17,5 kg/m², oder – vor allem bei Jugendlichen – ein BMI kleiner der zehnten Altersperzentile (Hebebrand et al. 1994, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Kromeyer-Hauschild et al. 2001).

Trotz des Untergewichts wird der eigene Körper im Sinn einer Körperschemastörung von dem Patienten als „zu dick“ empfunden (Becker et al. 1999, Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Kaye et al. 1998a), und es besteht eine nicht nachzuvollziehende Angst vor der geringsten Gewichtszunahme (Becker et al. 1999, Kaye et al. 1998a). Eine ausreichende Krankheitseinsicht besteht häufig nicht (Becker et al. 1999, Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b). Die Anorexia nervosa zeichnet sich zudem durch eine Vielzahl somatischer Veränderungen, unter anderem auf endokrinologischer Ebene aus (Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005). Neben der hungerbedingten Amenorrhoe kann es bei frühem Krankheitsbeginn auch zu einer Störung der normalen Pubertätsentwicklung kommen (Herpertz-Dahlmann 2000b).

Diagnose-Kriterien

Die Diagnose-Kriterien für Anorexia nervosa sind nach DSM-IV (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen - vierte Auflage) und ICD-10 (International Statistical Classifikation of Disease = Internationale Klassifikation der Krankheiten - Zehnte Auflage) beschrieben; das in der vorliegenden Studie verwandte „Strukturierte Interview für anorektische und bulimische Essstörungen - für Expertenbeurteilung“, SIAB-EX (Handanweisung von Fichter et al. 1999) erfasst die Kriterien entsprechend beider Klassifikationssysteme (Remschmidt et al. 2000, Saß et al. 2003).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nach den DSM-IV-Kriterien werden bei der Anorexia nervosa aufgrund des klinischen Bildes zwei Subtypen mit unterschiedlicher Symptomatik unterschieden:

- restriktiver Typus (F50.00): Während der aktuellen Episode der Anorexia nervosa hat die Person keine regelmäßigen „Essanfälle“ oder kein „purging“-Verhalten (selbst induziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren).
- „binge-eating/purging“-Typus (F50.01): Während der aktuellen Episode der Anorexia nervosa hat die betroffene Person regelmäßige „Essanfälle“ und „purging“-Verhalten.

Entsprechend wird auch nach den ICD-10-Kriterien eine Anorexie ohne eingreifende Maßnahmen der Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen, usw.) von einer Anorexie mit eingreifenden Maßnahmen der Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen, u.U. in Verbindung mit Heißhungerattacken) unterschieden (F50.00/F50.01) (Remschmidt et al. 2000).

Epidemiologie

Die Prävalenz der Anorexia nervosa liegt in den westlichen Industrieländern bei den 15 - 24 Jahre alten Frauen zwischen 0,3 bis 1% (Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Lamprecht 2004). In bestimmten Risikogruppen kann die Häufigkeit deutlich höher liegen (z. B. Fotomodelle 25%) (Herpertz-Dahlmann 2000b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005). Frauen sind ungefähr zehnmal (bis zwanzigmal) öfter betroffen als Männer (Becker et al. 1999, Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Lucas et al. 1999, Turnbull et al. 1996).

In den 70ger und 80ger Jahren konnte eine Zunahme der Erkrankungen aus dem Kreis der Essstörungen vor allem auch bei 14 bis 15 Jährigen beobachtet werden, während die Zahlen bei höheren Altersgruppen konstant blieben (Herpertz-Dahlmann 2000b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Lucas et al. 1999, Turnbull et al. 1996).

Bezüglich des sozioökonomischen Hintergrundes lässt sich sagen, dass die Anorexia nervosa vornehmlich in westlichen Industrienationen, aber auch Japan, auftritt. Sie trifft hauptsächlich Weiße/Kaukasier. Ob die Patienten eher der Mittelklasse bis Oberschicht angehören, wird kontrovers diskutiert (Brunner et al. 2004, Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Steiner et al. 1998).

Die Anorexia nervosa kann mit bulimischen Symptomen auftreten (purging-Typ), oder sich im Verlauf zu einer Bulimia nervosa entwickeln (Fairburn und Harrison 2003, Strober et al. 1997a, Strober et al. 2000). Die Lebenszeitprävalenz der Bulimia nervosa bei Anorexia-nervosa-Patientinnen beträgt 20 - 50% (Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Strober et al. 1997a, Sullivan et al. 1998). Mit der Bulimia nervosa hat die Magersucht auch das Risiko für bestimmte komorbide Störungen (affektive Störungen, Angststörungen und Substanzmissbrauch) gemeinsam (Fairburn und Harrison 2003, Lilenfeld et al. 1997, Strober et al. 2000). Es gibt eine familiäre Häufung der beiden Essstörungen (Strober et al. 2000, Stein et al. 1999) und Hinweise auf die genetische Transmission einer Vulnerabilität für Essstörungen (klinisch oder subklinisch) sowie für ein gemeinsames Spektrum komorbider Störungen (Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Kaye 2002, Strober et al. 2000, Stein et al. 1999).

Klinik und Symptome

Eine Anorexia nervosa beginnt zumeist mit einer Diät, manchmal aufgrund von bestehendem Übergewicht oder veranlasst durch negative Bemerkungen von Freunden oder Familie. Vielfach wird die Diät auch ohne ersichtlichen äußeren Grund initiiert (Herpertz-Dahlmann 2000b). Neben einem wählerischen und eingeschränkten Essverhalten (gesunde Kost, Verzicht auf hochkalorische Nahrungsmittel) betreiben viele Patienten exzessive körperliche Aktivität (Joggen, Gymnastik, ständiges Bewegen). Es kann auch zu selbst induziertem Erbrechen oder Laxanzienmissbrauch kommen (Brunner et al. 2004, Herpertz-Dahlmann 2000b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005). Die Patienten beschäftigen sich hauptsächlich mit den Themen Essen, Gewicht und Figur. Viele zeigen eine Körperschemastörung (Brunner et al. 2004, Herpertz-Dahlmann 2000b). Außerdem zeichnen sich Anorexia-nervosa-Patienten oft durch Ehrgeiz, Fleiß und Perfektionismus aus (beispielsweise sehr ordentlich gemachte Hausaufgaben), entwickeln oft depressive Symptome oder auch Zwangssymptome (Brunner et al. 2004, Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Hueg et al. 2006).

An körperlichen Symptomen, durch den Starvationszustand und den Gewichtsverlust verursacht, treten vor allem kardiovaskuläre Probleme wie Hypotonie, Bradykardie, Akrozyanose und Herzrhythmusstörungen auf. Außerdem beobachtet man Elektrolyt- und Hormonstörungen sowie eine Amenorrhoe, auch eine Osteoporose kann im späteren Verlauf auftreten. Ebenso sind Veränderungen des Blutbildes (Anämie, Leukopenie, Thrombopenie), sowie Mineral- und Vitaminmangelzustände möglich. Des Weiteren können gastrointestinale, dermatologische und neurologische Symptome auftreten (Brunner et al. 2004, Herpertz-Dahlmann 2000b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005).

Bei Patienten mit Anorexia nervosa lassen sich regelmäßig neuroendokrine und metabolische Veränderungen und Regulationsstörungen des autonomen Nervensystems feststellen (Kaye et al. 1998a, Walsh et al. 1998). Als psychische Symptome können Depressivität, Ängstlichkeit und Persönlichkeitsstörungen auftreten oder verstärkt werden (Fairburn und Harrison 2003, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Kaye et al. 1998a, Walsh et al. 1998). Welche dieser Störungen als Folge der Mangelernährung und des Untergewichts reaktiv entstehen (State-Faktor), oder ob diese als überdauernde und vorbestehende Veränderungen und damit als mögliche Mit-Ursachen der Anorexia nervosa anzusehen sind (Trait-Faktor), ist am besten an langfristig gewichtsnormalisierten Patienten zu untersuchen. Dabei muss in diesem Stadium dann allerdings auch dass Vorliegen einer Starvations-bedingten biologischen Narbe, im Sinne einer reaktiven aber überdauernden Veränderung, diskutiert werden (Kaye et al. 1998a, Herpertz-Dahlmann 2003). Bei Anorexia-nervosa-Patienten nach längerfristig erreichter Gewichtsnormalisierung, die die Folgen des Hungerns an sich überwunden haben, können persistierende psychobiologische Auffälligkeiten sowie Persönlichkeitsmerkmale erkannt und auf die Möglichkeit einer Rolle in der Essstörungspathogenese untersucht werden. Dies würde Möglichkeiten für frühzeitige Behandlungsansätze eröffnen (Kaye et al. 1998a). Am besten untersucht ist hier das serotoninerge Neurotransmitter-System (s.u.).

Ätiologie

Hinsichtlich der Ätiologie lässt sich sagen, dass die Anorexia nervosa vermutlich aus einem Zusammenspiel multipler sozialer und biologischer Prozesse während der Entwicklung entsteht, deren Interaktion noch nicht vollständig verstanden ist (Becker et al. 1999, Fairburn und Harrison 2003, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Herpertz-Dahlmann 2003, Steiner et al. 1998). Kulturelle Einflüsse, etwa durch das herrschende Schönheitsideal in den Industrienationen, scheinen ebenfalls relevant zu sein (Herpertz-Dahlmann 2003, Kaye et al. 1998a, Walsh et al. 1998).

Die Persönlichkeit der Anorexia-nervosa-Patienten weist einige typische Merkmale auf, wie Ehrgeiz, Fleiß, Perfektionismus, Zähigkeit, Beharrlichkeit, aber auch Gehemmtheit, Ängstlichkeit, negative Selbsteinschätzung, Zwanghaftigkeit und Introvertiertheit (Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2003, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Klump et al. 2000, Lilenfeld et al. 2000). Diese Charaktereigenschaften sind in unterschiedlichem Ausprägungsgrad auch prä- und postmorbid bei Anorexia-nervosa-Patienten zu finden (Kaye et al. 1998a).

Einige Faktoren, wie das oft gleichförmige klinische Erscheinungsbild, die deutlich stärkere Betroffenheit des weiblichen Geschlechts und der relativ eng begrenzte Altersrahmen, in dem die ersten Symptome auftreten, deuten auf eine mögliche biologische Vulnerabilität hin (Frank et al. 2002, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002).

Bei den Essstörungen besteht eine deutliche Heredität (= genetisch bedingte Vulnerabilität) (Herpertz-Dahlmann 2003, Kaye 2002, Strober et al. 2000, Stein et al. 1999, Wade et al. 2004, Walsh et al. 1998).

Da das serotoninerge Neurotransmittersystem sowohl mit der Regulation von Essverhalten, als auch des Affektes in Zusammenhang gebracht wird, werden Störungen dieses Systems im Sinne einer entsprechenden biologischen Vulnerabilität bei Anorexia-nervosa-Patienten diskutiert (Fairburn und Harrison 2003, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005). Schließlich diskutiert Kaye 2002 einen möglichen Zusammenhang von Anorexia nervosa (vor allem beim restriktiven Subtyp), sowie von Zwangsstörungen mit einem bestimmten Polymorphimus in der Promoterregion des 5-HT-2A-Rezeptor-Gens. Allerdings ist über die funktionellen Auswirkungen dieses Polymorphismus nichts bekannt.

Krankheitsverlauf

Eine Magersucht beginnt in den meisten Fällen während der Pubertät (Becker et al. 1999, Herpertz-Dahlmann 2000b, Mayer 2001, Walsh et al. 1998). Die Krankheitsdauer kann Monate bis mehrere Jahre betragen (Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Lay et al. 1999, Strober et al. 1997a). Die Studien über den Langzeitverlauf zeigen, dass in den letzten Jahren etwa bei 50% der Patienten mit Anorexia nervosa eine vollständige Heilung erreicht werden konnte, während in 30% der Fälle mehr oder weniger stark ausgeprägte Reststörungen persistierten (Becker et al. 1999, Herpertz-Dahlmann 2000b, Steinhausen 1997 und 2002). Bei weiteren 10 - 20% der Patienten nimmt die Essstörung einen chronischen und kaum beeinflussbaren Verlauf (Herpertz-Dahlmann 2000b, Herzog et al. 1999, Strober et al. 1997a, Steinhausen 1997 und 2002). Bei einem längeren Beobachtungszeitraum von 10 - 12 Jahren werden günstigere Heilungsraten von 69 - 84% angegeben (Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Strober et al. 1997a, Sullivan et al. 1998, Steinhausen 2002). Allerdings weisen auch Patienten mit einem guten Langzeitergebnis einige leichte Residuen der früheren Essstörung auf, wie niedriges Körpergewicht/BMI, reduziertes Körperfett, vermehrte sportliche Aktivität und mehr gedankliche Beschäftigung mit Gewicht und Figur (Frey et al. 2000, Kaye et al. 1998a, Sullivan et al. 1998, Walsh et al. 1998). Außerdem ist das Risiko für ein breites Spektrum an körperlichen und mentalen Problemen im frühen Erwachsenenalter bei Anorexia-nervosa-Patienten erhöht (Johnson et al. 2002).

Die Anorexia nervosa hat mit 5 - 12% (einige Autoren geben bis zu 25% an) die höchste Letalität aller psychiatrischen Erkrankungen (Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Keel et al. 2003, Strober et al. 1999b, Sullivan et al. 1998, Steinhausen 2002). Allerdings gibt es Hinweise, dass durch frühe, intensive und lange Therapie Morbidität und Mortalitätsrate gesenkt werden kann (Lay et al. 1999, Strober et al. 1997a). Für Patienten aus jüngeren Altersgruppen scheint die Langzeitprognose günstiger und das Mortalitätsrisiko (0 - 1,8%) niedriger zu sein (Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Steinhausen 1997 und 2002).

Therapie

Die Behandlung der Anorexia nervosa ist oft langwierig und schwierig (Strober et al. 1999a, Strober et al. 1997a). Hauptziele bei der Therapie einer magersüchtigen Patientin sind die Behandlung körperlicher Komplikationen und die Wiederherstellung eines normalen Gewichts (Becker et al. 1999, Bergh et al. 2002, Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b). Dazu ist in der Regel eine stationäre oder intensive ambulante Betreuung nötig (Becker et al. 1999, Herpertz-Dahlmann 2000b, Holtkamp und Herpertz-Dahlmann 2005, Walsh et al. 1998). Die Standardtherapie besteht aus betreuten Mahlzeiten, Ernährungsberatung und regelmäßigen Gewichtskontrollen (Bergh et al. 2002, Bergh et al. 2003, Walsh et al. 1998), Einzel-Psychotherapie, Gruppentherapie, Familienberatung und psychosozialer Reintegration (AWMF-Leitlinien 2003&2007, Becker et al. 1999, Halmi 2005, Herpertz-Dahlmann 2000b, Robin et al. 1999, Steinhausen 2002). Mit diesem multimodalen Ansatz erreichen die meisten Patienten wieder ein normales Gewicht (Kaye et al. 1998a, Herpertz-Dahlmann 2000b, Walsh et al. 1998). Allerdings ist die Rückfallrate (vor allem im ersten Jahr) bei Anorexia nervosa sehr hoch ( 24 - 50%) (Brunner et al. 2004, Lay et al. 1999, Herpertz-Dahlmann 2000b, Herzog et al. 1999, Strober et al. 1997a, Walsh et al. 1998), so dass die poststationäre Weiterführung einer ambulanten Behandlung als Leitlinie empfohlen wird (Halmi et al. 1975a, Lay et al. 1999, Strober et al. 1997a).

Bei intensiver stationärer Therapie haben zusätzliche medikamentöse Therapieversuche mit verschiedenen Psychopharmaka bisher keinen positiven Effekt auf die Gewichtszunahme gezeigt (Kaye et al. 1998a, Walsh et al. 1998). Interessant bleibt die Frage, in wie weit eine medikamentöse Therapie bei der Behandlung von komorbiden Störungen den Verlauf einer Anorexia nervosa positiv beeinflussen kann, vor allem, da eine komorbide Psychopathologie entsprechend dem Ergebnis der meisten Studien als negativer Risikofaktor für ein schlechteres Langzeitergebnis gilt (Fichter et al. 2003, Ivarsson et al. 2000, Müller et al. 2000, Steiner et al. 1998, Steinhausen 2002). Außerdem könnten Psychopharmaka zur Verringerung der hohen Rückfallrate effektiv sein (Kaye et al. 1998a).

1.2.2 Komorbidität bei Anorexia nervosa

Psychische Erkrankungen, die bei einem Magersuchtspatienten parallel zu seiner Essstörung auftreten, werden komorbide Störungen genannt.

Patienten mit Anorexia nervosa weisen vor allem im kachektischen Zustand eine hohe Rate an psychiatrischer Komorbidität auf. Die affektiven Störungen stehen dabei an erster Stelle. Die Patienten leiden vor allem an depressiven Verstimmungen, an Zwangs- und Angststörungen ( Barbarich 2002, Brunner et al. 2004, Fairburn und Harrison 2003, Herpertz-Dahlmann 2000b, Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Herzog et al. 1999). In der vorliegenden Studie wurde die komorbide Symptomatik bei Anorexia-nervosa-Patienten entsprechend den beiden häufigsten Begleiterkrankungen, depressiven Störung und Zwangsstörungen, untersucht.

Depression

Als Depression wird eine Störung der Affektivität im Sinne einer freudlosen Verstimmung bezeichnet (Eggers et al. 2004, De Gruyter 1997). Sie kann als endogene, das heißt körperlich nicht begründbare Erkrankung, aber auch somatogen oder psychoreaktiv als Folge einer organischen Erkrankung oder eines externen Ereignisses auftreten (De Gruyter 1997, Lamprecht 2004). Das Risiko an einer depressiven Psychose zu erkranken, liegt in der Gesamtbevölkerung bei 1%, für alle depressiven Störungen zusammen liegt die Lebenszeitprävalenz allerdings bei 30% (Lamprecht 2004). Bei Kindern und Jugendlichen werden Prävalenzen von 2 - 9% für depressive Erkrankungen angegeben (Eggers et al. 2004). Die wesentlichen Symptome sind Niedergeschlagenheit, Interesselosigkeit, Energielosigkeit und Konzentrationsstörungen (Eggers et al. 2004, Remschmidt 2000, Remschmidt et al. 2001, Saß et al. 2003). Dazu kommen Erschöpfbarkeit, Schlafstörungen und andere körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Kreislaufstörungen und Gewichtsverlust sowie psychosozialer Rückzug (Saß et al. 2003, Remschmidt et al. 2001, Eggers et al. 2004). Außerdem kann es bei depressiven Verstimmungen auch zu suizidalen Gedanken und Handlungen kommen (Eggers et al. 2004, Herpertz-Dahlmann 2000b, Remschmidt et al. 2001, Saß et al. 2003).

Zwangsstörung

Die Zwangsstörung, oder englisch Obsessive - Compulsive Disorder (OCD) genannt, ist eine Erkrankung aus dem Formenkreis der Angststörungen (De Gruyter 1997, Remschmidt et al. 2001). Die Lebenszeitprävalenz wird mit 2,5% angegeben (Herpertz-Dahlmann 2000b, Lamprecht 2004), die Prävalenzen für Kinder und Jugendliche mit 0,25 - 4% (Eggers 2004). Auftretende Zwangsgedanken können nicht unterdrückt oder kontrolliert werden und werden als sinnlos, quälend und Angst auslösend empfunden (De Gruyter 1997, Eggers 2004, Remschmidt et al. 2001, Saß et al. 2003). Auch Zwangshandlungen entziehen sich der Kontrolle durch den Patienten und müssen zum Abbau von Ängsten und Zwangsgedanken durchgeführt werden. Beispiele für Handlungszwänge sind Kontrollieren, Waschzwänge und Zählzwänge (Eggers 2004, Remschmidt et al. 2001).

Anorexia nervosa in Beziehung zu Depression und Zwangsstörung

Die Depression steht bei der Anorexia nervosa unter den komorbiden Störungen an erster Stelle: 80 – 90% der Anorexia-nervosa-Patienten mit Untergewicht leiden an depressiven Verstimmungen (Ivarsson et al. 2000, Pollice et al. 1997). (Siehe Tabelle 1: Komorbide Störungen bei Anorexia nervosa)

In einer Längsschnittstudie wurde bei Patienten mit Anorexia nervosa im Alter von 16 Jahren für Depression eine Punktprävalenz von 53% und eine Lebenszeitprävalenz von 84% festgestellt (Thiel et al. 1998). Verschiedene Studien über längere Nachsorgezeiträume geben die Lebenszeitprävalenz einer Depression bei Anorexia-nervosa-Patienten mit (21-) 51 - 84% an (Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Ivarsson et al. 2000, Steiner et al. 1998, Sullivan et al. 1998, Steinhausen 2002). Außerdem zeigen 30 - 70% der an Magersucht Erkrankten Zwangsphänomene. Hiervon sind besonders Patienten mit restriktiver Anorexia nervosa betroffen (Pollice et al. 1997, Thiel et al. 1998). Die Lebenszeitprävalenz für eine Zwangsstörung beträgt bei Anorexia-nervosa-Patienten 3 - 39% (Anderluh et al. 2003, Bellodi et al. 2001, Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Halmi et al. 1991, Matsunaga et al. 1999, Thornton und Russell 1997).

Bei Anorexia nervosa häufig auftretende figur- und gewichtsbezogene Zwangsgedanken und Ängste, sowie Zwangshandlungen, die die Nahrungsaufnahme oder sportliche Aktivität betreffen sowie Folgen der Semistarvation, werden nicht zu einer komorbiden Zwangsstörung gerechnet. Sie können allerdings Ausdruck einer eher zwanghaften und ängstlichen Persönlichkeit, die zur Entwicklung und Persistenz einer Essstörung beitragen kann, sein (Strober 2004, Thornton und Russell 1997) – oder auch nur Ausdruck der Semistarvation.

Angstsymptome begleiten die Anorexia nervosa in 30 – 70% der Fälle und können ebenfalls durch die Semistarvation verstärkt werden (Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Pollice et al. 1997). Für Angststörungen wurde eine Lebenszeitprävalenz von bis zu 60% bei Anorexia-nervosa-Patienten beobachtet (Herpertz-Dahlmann et al. 2000, Sullivan et al. 1998).

Pollice et al. zeigten 1997 bei einer Untersuchung von Depression, Angst und Zwanghaftigkeit bei untergewichtigen und normalgewichtigen Anorexia-nervosa-Patienten, dass die Werte für Depression, Angst und Zwanghaftigkeit im untergewichtigen Zustand am stärksten erhöht waren; milde bis moderate Symptome persistierten jedoch auch nach langfristiger Gewichtsnormalisierung.

Wie Frank et al. (2000) feststellten, haben vor allem Anorexia-nervosa-Patientinnen, die erst kurzzeitig gewichtnormalisiert sind, erhöhte Grundwerte in Angst, Depression und Zwang gegenüber Gesunden.

Auch bei Patienten, die längerfristig ihr Normalgewicht halten konnten und bei denen eine deutliche Besserung der Essstörungssymptome erreicht wurde, sind die Merkmale Depression (15 - 58%), Zwanghaftigkeit (20%) und Ängstlichkeit (61%) noch vorhanden (Herpertz-Dahlmann und Remschmidt 1993). Insgesamt muss in 15 - 60% der Anorexia-nervosa-Fälle von weiterbestehenden Symptomen, entweder im Sinne von psychiatrischen Störungen oder als Persönlichkeitszüge ausgegangen werden (Herpertz-Dahlmann et al. 2001, Holtkamp et al. 2005b, Ivarsson et al. 2000, Müller et al. 2000, Thiel et al. 1998).

Eine der zentralen Fragen, die bezüglich der komorbiden Störungen in der Literatur diskutiert wird, ist, ob vorhandene affektive Störungen Grund beziehungsweise Auslöser einer Magersucht sind oder umgekehrt (Kaye et al. 1998a).

In einer im Jahr 2000 veröffentlichten Feldstudie von Ivarsson et al. wurde retrospektiv vor Beginn der Essstörung keine erhöhte Rate an Depression festgestellt. Es zeigte sich eher, dass das Auftreten einer Essstörung den Beginn einer Depression triggerte, welches wiederum das Risiko zukünftiger depressiver Episoden steigerte (Ivarsson et al. 2000). Außerdem wurde festgestellt, dass ein guter Heilungserfolg mit der Abwesenheit affektiver Störungen korrelierte (Ivarsson et al. 2000). Depressions- und Zwangssymptomatik scheinen demnach bei der Mehrzahl der Patienten eher begleitende Folge, als vorangehende Ursache der Anorexia nervosa zu sein (Herpertz-Dahlmann und Remschmidt 1989, Ivarsson et al. 2000).

Zu einem anderen Schluss kam allerdings die Studie über zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Komorbidität mit Zwangserkrankungen bei (stationären) Essstörungs-Patienten (35 AN und 33 BN) von Thornton und Russell (1997), in der auch das jeweilige Alter bei Symptombeginn der Essstörung beziehungsweise der Zwangsstörung untersucht wurde. Eine komorbide zwanghafte Persönlichkeitsstörung wurde bei 35% der AN (sowie 5% der BN) Patienten diagnostiziert ( Thornton und Russell 1997). Bei 37% der AN (und 3% der BN) Patienten lag eine komorbide Zwangserkrankung vor. Die Zwangssymptomatik war in 86% der Fälle vor der Essstörungs-Symptomatik aufgetreten. Dies wurde als Hinweis auf eine entsprechende zwanghafte Persönlichkeit gewertet, die unter anderem über die Entstehung von Zwängen beim Essen eine Anfälligkeit für Anorexia nervosa bedingen könnte ( Thornton und Russell 1997).

Ein ähnlicher zeitlicher Zusammenhang wurde in einer retrospektiven Erfassung von zwanghaften Persönlichkeitszügen in der Kindheit bei erwachsenen Essstörungspatientinnen und gematchten Kontrollen von Anderluh et al. (2003) festgestellt. Neben einer aktuell signifikant erhöhten Punktprävalenz für zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Zwangserkrankungen im Sinne einer Komorbidität traten auch in der Kindheit Züge einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung (Perfektionismus und Rigidität) häufig (66%) bei den Patienten mit Essstörungen (vor allem AN) auf. Außerdem ergab sich eine positive Korrelation der Züge einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung in der Kindheit mit den Werten einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung im Erwachsenen Alter (Anderluh et al. 2003).

In einer internationalen Multicenter Studie mit 322 Anorexia-nervosa-Patientinnen wurde von Halmi et al. (2000) die Rolle von Perfektionismus als ein phänotypisches Merkmal bei Patienten mit einer Anorexia-nervosa-Anamnese untersucht. Die Studie ergab, dass Perfektionismus ein beständiger Charakterzug bei Anorexia-nervosa-Patienten aller Subklassen ist. Je schwerer die Essstörungssymptomatik, desto größer war auch der Perfektionismus ausgeprägt (Halmi et al. 2000).

Perfektionismus scheint ein Charakterzug zu sein, der sowohl bei Patienten mit Essstörungen (bei akut untergewichtigen und in geringerem Ausmaß auch bei gewichtsnormalisierten Patienten), als auch bei Patienten mit Depression und Zwangserkrankung gefunden wird (Barbarich 2002).

Bulik et al. (2003) stellten eine Assoziation der Perfektionismus-Werte „Besorgtheit über Fehler“ (concern over mistakes) und „Zweifel bei Handlungen“ (doubts about action) mit Anorexia und Bulimia nervosa, nicht aber mit genereller Psychopathologie fest.

Von Zubieta et al. wurde 1995 die Beziehung zwischen Zwanghaftigkeit und klinischen Symptomen von Patienten mit Essstörungen bei akuter Erkrankung und bei Zwei-Jahres-Nachuntersuchung studiert. Es ergab sich, dass erhöhte Zwanghaftigkeit in Zusammenhang mit schwerer Essstörungssymptomatik und generell erhöhter Psychopathologie steht. In dieser Studie konnte keine signifikante Assoziation von Untergewicht mit erhöhter Zwanghaftigkeit festgestellt werden. Die initiale Zwanghaftigkeit war nicht mit dem Heilungserfolg („Outcome“) assoziiert, allerdings wurde diskutiert ob die Persistenz von Zwangssymptomatik mit einem schlechteren Langzeitergebnis zusammenhängen könnte (Zubieta et al. 1995).

Eine Studie von Thiel et al. von 1998, die die Komorbidität von Essstörungen und Zwangserkrankung über 30 Monate untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass bei geringerer Ausprägung von Zwangssymptomen ein klinisch besserer Verlauf der Anorexia nervosa festgestellt werden konnte. Da diese Beobachtungen nicht statistisch signifikant waren, ergab sich keine eindeutiger Hinweis darauf, dass Anorexia-nervosa-Patienten mit begleitender Zwangsstörung eine schlechtere Prognose haben. Allerdings wurde in dieser Querschnittsstudie mit 33 Anorexia-nervosa-Patientinnen (im Mittel 25 Jahre alt) deutlich, dass die Besserung der Essstörung mit der Reduktion der Zwangssymptomatik korrelierte. Die gesamte Gruppe der Patienten mit Anorexia nervosa (mit und ohne Zwangskomorbidität) hatte eine schlechtere Prognose als die Gruppe der Patienten mit Bulimia nervosa (Thiel et al. 1998).

Interessant in Bezug auf den Zusammenhang von Anorexia nervosa und Zwangsstörungen ist außerdem das Ergebnis einer Vergleichsuntersuchung von Anorexia-nervosa-Patienten mit Zwangserkrankungs-Patienten in Bezug auf Zwanghaftigkeit, die von Bastiani et al. (1996) durchgeführt wurde. Sie ergab, dass Patienten im Alter von 18 ( ± 8) Jahren, die im Mittel seit vier Jahren Symptome einer restriktiven Anorexia nervosa zeigten, in einer Punktstudie zwar ähnlich hohe Punktzahlen in der Y-BOCS erreichten wie Patienten mit der Diagnose Zwangserkrankung, die Quantität und die Variabilität der Zielsymptome bei Anorexia-nervosa-Patienten aber deutlich geringer war. Dabei waren die häufigsten Zwangssymptome: Symmetrie/Genauigkeit, Ordnung, exzessives Reinigen im Haushalt, mehrmaliges Lesen, Schreiben und Zählen (Bastiani et al. 1996).

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Studie von Matsunaga et al. (1999), die bei Anorexia-nervosa-Patienten mit niedrigem Gewicht die Komorbidität mit Zwangserkrankung untersuchte und ebenfalls den Schweregrad und das Symptomspektrum von komorbider Zwangserkrankung bei Anorexia-nervosa-Patienten mit Zwangserkrankungs-Patienten verglich. Bei 39% der Anorexia-nervosa-Patienten wurde eine akute Zwangserkrankung diagnostiziert. Die Anorexia-nervosa-Patienten mit komorbider Zwangserkrankung zeigten generell eine schwerere Symptomatik als Anorexia-nervosa-Patienten ohne komorbide Störung. Für Patienten mit Anorexia nervosa und komorbider Zwangserkrankungs-Diagnose wurden ähnlich hohe Y-BOCS-Werte wie für Patienten mit einer Zwangserkrankung gemessen, allerdings wiesen die Essgestörten ein eingeengtes Symptomspektrum (Symmetrie, Exaktheit, Ordnung) auf (Matsunaga et al. 1999).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Intensität der komorbiden Störungen der Anorexia nervosa durch Untergewicht und Mangelernährung erhöht wird ( Thornton und Russell 1997). Die Symptome bessern sich mit Gewichtsnormalisierung, neigen aber dazu auch lange danach auf einem geringen Ausprägungsgrad zu persistieren (Herpertz-Dahlmann und Remschmidt 1993, Barbarich 2002, Frank et al. 2002, Fairburn und Harrison 2003, Holtkamp et al. 2005b, Pollice et al. 1997). Inhaltlich bleiben die Zielsymptome auch bei Gewichtsnormalisierung gleich, lediglich der Ausprägungsgrad ändert sich (Kaye et al. 1998a). (Siehe Tabelle 1: Komorbide Störungen bei Anorexia nervosa)

Allerdings muss man bedenken, dass die meisten Studien zur Komorbidität in spezialisierten Zentren für Essstörungspatienten durchgeführt wurden, und es so zu einer Überrepräsentation von schwerer Erkrankten mit einer besonders hohen Rate an Komorbidität gekommen sein könnte (Steiner et al. 1998).

Tabelle 1: Komorbide Störungen bei Anorexia nervosa

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.3. Serotoninerges System

1.3.1 Neuroendokrine Störungen bei Anorexia nervosa

Bei Anorexia-nervosa-Patienten treten neben verschiedenen neuroendokrinen Störungen von Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, Nebenniere und Schilddrüse auch Veränderungen im Metabolismus, im autonomen Nervensystem und im Neurotransmitterstoffwechsel auf (Becker et al. 1999, Gwirtsman et al. 1989, Herpertz-Dahlmann 2000b, Kaye et al. 1998a, Walsh et al. 1998). Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Störung im serotoninergen System (Frank et al. 2001, Frank et al. 2002, Kaye et al. 1998a, Walsh et al. 1998). Andere Veränderungen der Konzentration oder der Aktivität von Neurotransmittern und Hormonen betreffen Neuropeptid Y, Leptin, Galanin, Dopamin, CRH, Vasopressin, Oxytocin, Katecholamine, LH und FSH, T3/T4, Cortisol und ACTH (Becker et al. 1999, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Kaye et al. 1990, Walsh et al. 1998).

Es besteht die Möglichkeit, dass einigen dieser Störungen eine grundsätzliche biologische und genetische Vulnerabilität zugrunde liegt und sie somit an der Pathogenese der Anorexia nervosa beteiligt sind (Kaye et al. 1998a, Kaye 2002). In dieser Hinsicht sind Störungen verschiedener Neurotransmittersysteme besonders interessant, da sie sowohl an der Regelung des Hungergefühls und des Essverhaltens beteiligt sind, als auch für andere Symptome bei magersüchtigen Patienten, wie Veränderungen im Affekt und Verhalten, verantwortlich sein könnten (Frank et al. 2001, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Walsh et al. 1998). Diese Neurotransmittersysteme können indirekt in ihrer Aktivität über Messung der Konzentration der jeweiligen Mediatorsubstanz (oder ihrer Metabolite) im Liquor sowie über Stimulation untersucht werden ( Barbarich 2002, Frank et al. 2002, Kaye 2002, Monteleone et al. 2000).

Allerdings sind viele der neuroendokrinen Störungen, die im Verlauf der Anorexia nervosa auftreten, durch den mangelernährten und untergewichtigen Zustand zu erklären, beziehungsweise verursacht (Kaye et al. 1998a, Kaye 2002). Nach einer erfolgreichen Gewichtszunahme normalisieren sich die entsprechenden Parameter (insbesondere Neuropeptide) wieder (Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Kaye et al. 1990, Walsh et al. 1998). Um Mangelernährung und Untergewicht als mögliche Ursachen für eine Änderung in neuroendokrinen Systemen auszuschließen und damit diese Änderung als einen möglichen Faktor in der Pathogenese der Anorxia nervosa zu identifizieren, untersucht man Anorexia-nervosa-Patienten in den verschiedensten Krankheitsphasen (Frank et al. 2001, Frank et al. 2002, Kaye 2002).

Besonders interessant sind Untersuchungen von geheilten, das heißt vor allem langfristig gewichtsnormalisierten Anorexia-nervosa-Patienten, da es äußerst schwierig ist, Patienten vor dem Krankheitsbeginn zu entdecken um praemorbide Zustände zu erfassen (Frank et al. 2002, Kaye 2002, Kaye et al. 1984).

Zum Beispiel sind in Bezug auf den Serotonin-Stoffwechsel mit Hilfe solcher Untersuchungen auch nach Gewichtsnormalisierung persistierende Veränderungen festzustellen (Kaye et al. 1998a, Frank et al. 2001, Frank et al. 2002, Walsh et al. 1998).

Wenngleich diese Störungen in vielen neuroendokrinen Systemen bei untergewichtigen Patientinnen mit Anorexia nervosa am ehesten durch die Mangelernährung zu erklären sind, so könnten diese Veränderungen der neuroendokrinen Aktivität doch auch, im Sinne eines Teufelskreises („downward spiral“) für eine verstärkte Ausprägung der Psychopathologie von Essstörung oder komorbider Störungen sowie für die hohe Rückfallrate mitverantwortlich sein (Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Monteleone et al. 2000). Es ist daher wichtig, diese Störungen zu erfassen und zu verstehen, um einen möglichen Therapieansatz ermitteln zu können (Kaye 2002, Walsh et al. 1998). Eines der am besten untersuchten Neurotransmittersysteme bei der Anorexia nervosa ist daher das serotoninerge System.

1.3.2 Serotonin

Summenformel: N2OC10H12

Funktion und Wirkung

Serotonin (auch 5-Hydroxytryptamin, abgekürzt 5-HT) ist ein biogenes Amin (Monoamin), das als Mediatorsubstanz und als Neurotransmitter wirkt (De Gruyter 1997, Barbarich 2002, Mann 1999). Serotonin wird aus der Aminosäure Tryptophan durch Hydroxylierung und Decarboxylierung biosynthetisiert . Der Abbau erfolgt mittels Monoaminooxidase und Aldehydoxidase zu 5-Hydroxy-Indolessigsäure (abgekürzt: 5-HIAA für englisch: 5-Hydroxy-indolacetoacid). Dieser Metabolit wird über die Nieren ausgeschieden (De Gruyter 1997, Barbarich 2002).

Serotonin kommt in verschiedenen Bereichen vor. Extraneuronal kommt 5-HT in den enterochromafinen Zellen der Darmschleimhaut vor, außerdem in zellulären Blutbestandteilen wie Thrombozyten und basophilen Granulozyten. Peripher hat Serotonin eine Funktion in verschiedenen neuroendokrinen Systemen. Neuronal kommt es im ZNS vor (vor allem in den Raphekernen) und ist im Liquor nachweisbar (De Gruyter 1997, Lucki 1998, Mann 1999).

Im ZNS nimmt Serotonin Einfluss auf die Regulation des Hungergefühls und damit der Nahrungsaufnahme, auf Stimmungsänderungen, Impulskontrolle, Schlaf-Wach-Rhythmus, Schmerzwahrnehmung und Körpertemperatur (De Gruyter 1997, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Lucki 1998, Mann 1999).

Zwar ist Serotonin an der Regelung und Koordination verschiedener Prozesse und Funktionen beteiligt, aber es ist vermutlich nicht der hauptverantwortliche Neurotransmitter für diese Systeme (Lucki 1998). Serotonin scheint eher eine generelle Rolle in der Verhaltensregulation zu spielen (Lucki 1998). So werden eine erhöhte Serotonin-Aktivität mit einer Verhaltenshemmung und eine verringerte Serotonin-Aktivität mit einer Verhaltensaktivierung in Zusammenhang gebracht (Lucki 1998). Speziellere Effekte des Serotonins werden über verschiedene Rezeptorsubtypen vermittelt (Lucki 1998, Mann 1999).

Verschiedene Untersuchungen beschäftigen sich mit den Verhaltens- und Stimmungsänderungen, die durch unterschiedliche Manipulationen des Serotonin-Systems ausgelöst werden können.

So ist die Wirkung des Serotonins auf das postprandiale Hungergefühl von besonderem Interesse in Bezug auf die Pathogenese der Essstörungen (Monteleone et al. 2000, Ward et al. 1998). Durch Erhöhung des intrasynaptischen Serotonins oder durch direkte Aktivierung der Serotonin-Rezeptoren scheint man eine Reduktion der Nahrungsaufnahme erreichen zu können (Kaye et al. 1998a, Lucki 1998, Leibowitz et al. 1998, Sargent et al. 1997, Schwartz et al. 2000, Ward et al. 1998), während man durch Dämpfung der Serotonin-Ausschüttung oder Blockade der Rezeptoren eine Gewichtszunahme durch vermehrte Nahrungsaufnahme (Hyperphagie) bewirken kann (Kaye et al. 1998a, Leibowitz et al. 1998, Monteleone et al. 2000, Smith et al. 1999, Schwartz et al. 2000). So könnten Essattacken (binging Verhalten) auf eine verminderte Serotonin-Aktivität, und damit ein geringeres Sättigungsgefühl nach einer Nahrungsaufnahme zurückzuführen sein (Monteleone et al. 2000, Smith et al. 1999). Auch bei Adipositas und der Binge Eating Disorder wird eine mögliche Beziehung zu verminderter funktioneller Aktivität des Neurotransmitters 5-HT diskutiert (Leibowitz et al. 1998, Sargent et al. 1997, Schwartz et al. 2000).

Außerdem senkt Serotonin nicht nur die Nahrungsaufnahme, sondern fördert auch parallel den Energiemetabolismus, unter anderem die Oxidation von Fettsäuren und den Blutglucosewert; während in einer Art Feedback-Mechanismus eine hohe Kohlenhydrataufnahme die zentrale Serotonin-Aktivität steigert (Leibowitz et al. 1998).

Neben der Wirkung auf den Appetit könnten Veränderungen im Serotonin-System auch für Verhaltensstörungen, die typischerweise bei Anorexia-nervosa-Patienten gefunden werden (Depressivität, Zwanghaftigkeit und Aggressivität), verantwortlich sein (Frank et al. 2002, Kaye et al. 1998a, Monteleone et al. 2000). So wird eine hohe Liquorkonzentration von 5-HIAA mit Perfektionismus, Rigidität und generell einer Hemmung beziehungsweise Überkontrolle in Zusammenhang gebracht (Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Lucki 1998, Walsh et al. 1998). Dagegen findet man eine niedrige 5-HIAA-Konzentration im Liquor bei Personen mit eher unkontrolliertem, impulsivem oder aggressivem Verhalten, wie zum Beispiel nach Suizid oder Suizidversuch ( Barbarich 2002, Clark 2003, Kaye 2002, Lucki 1998, Mann 1999). Auch wurde eine Korrelation von erniedrigtem Serotonin-Gehalt in Blutplättchen (Goveas et al. 2004) und von verringerter neuroendokriner Antwort auf serotoninerge Stimulation (D-Fenfluramin) mit Aggressivität (Coccaro et al. 1997), sowie ein Zusammenhang von reduzierter Serotonin-Aktivität mit Impulsivität und selbst schädigendem Verhalten in einigen (Steiger et al. 2001 und 2003), aber nicht in allen Studien gefunden (Askenazy et al. 2000).

Für diese Zuordnung spricht auch, dass man durch Tryptophan-Depletion, einem Verfahren, das zu einer diätinduzierten peripheren und zentralen Serotonin-Reduktion führt, verstärkte Aggressivität bei Personen mit aggressiven Verhaltensauffälligkeiten auslösen kann (Van der Does 2000). Auch bei Bulimia-nervosa-Patienten wurde eine Verringerung der Kontrolle über das Essverhalten, sowie gesteigerter Bedenken über die Figur und eine Stimmungsverschlechterung beobachtet (Smith et al. 1999, Weltzin et al. 1995, Van der Does 2001). Patienten mit geheilter oder behandelter Depression reagierten auf die Serotonin-Reduktion durch Tryptophan-Depletion mit erneuter Verschlechterung ihrer depressiven Symptomatik (Lucki 1998, Mann 1999, Van der Does 2001, Yatham et al. 2001), außerdem bewirkte dieses Verfahren auch bei Familienmitgliedern (mit s-Allel) von Patienten mit Depression eine gewisse Stimmungsverschlechterung (Neumeister et al. 2002, Van der Does 2001).

Bei gesunden Probanden dagegen führte in einigen Studien eine Tryptophan-Depletion neben einer leichten Nervosität nur selten zu geringen depressiven Effekten (Van der Does 2001, Yatham et al. 2001). Es konnte allerdings eine Erniedrigung der 5-HT-Rezeptor-Bindung ausgelöst werden, was eventuell ein Schutzmechanismus vor Depressivität bei Gesunden darstellt (Yatham et al. 2001). Bei kranken und geheilten Anorexia-nervosa-Patienten wurde nach Serotonin-Reduktion durch Tryptophan-Depletion eine Abnahme der Ängstlichkeit beobachtet (Kaye et al. 2003), während es bei Zwangsstörungs-Patienten und auch bei kranken sowie geheilten Bulimia-nervosa-Patienten nach Steigerung der Serotonin-Aktivität durch Einnahme des Serotonin-Agonisten m-CPP (Meta-Chloro-Phenylpiperazine) zu einer Zunahme der Ängstlichkeit, Nervosität oder der Zwanghaftigkeit kam ( Barbarich 2002, Broocks et al. 1998, Frank et al. 2001, Goodmann et al. 1995, Levitan et al. 1997). Allerdings konnte in anderen Studien sowohl durch m-CPP-Gabe, als auch durch Tryptophan-Depletion kein Effekt auf die Zwangs-Symptomatik bewirkt werden (Goodmann et al. 1995, Lilenfeld et al. 1997).

Veränderungen im Serotonin-Stoffwechsel werden nicht nur bei Anorexia nervosa, sondern auch bei Depression, Zwanghaftigkeit und Angststörungen als möglicher pathogenetischer Faktor diskutiert (Barr et al. 2004, Frank et al. 2001, Kaye 2002, Strober 2004, Walsh et al. 1998 ).

1.3.3 Bedeutung von Serotonin bei Anorexia nervosa

Studien, die sich mit dem Neurotransmitter Serotonin beschäftigen, haben in letzter Zeit stark zugenommen. Es werden allgemeine Funktionen und Wirkungen des Serotonin-Systems, aber auch spezielle Störungen bei bestimmten Erkrankungen untersucht. Das Interesse richtet sich vor allem auf Krankheiten, bei denen sich Medikamente, die auf das Serotonin-System einwirken, in der Therapie diskutiert werden (Kaye et al. 1998a, Kaye 2002). Ein Beispiel dafür sind die spezifische Wiederaufnahmehemmer (SSRI).

Neben Depression und Zwangserkrankung wird auch bei den Essstörungen Anorexia und Bulimia nervosa über mögliche pathogenetische Zusammenhänge zwischen den psychiatrischen Krankheitsbildern und Veränderungen der Serotonin-Funktion diskutiert (Barr et al. 2004, Fairburn und Harrison 2003, Kaye et al. 1998b).

Serotonin kommt in vielen verschiedenen Bereichen des Gehirns als Neurotransmitter vor. Es ist noch nicht bekannt, wo man innerhalb des Gehirns eine mögliche Serotonin-Pathophysiologie in Bezug auf Anorexia nervosa lokalisieren könnte, oder über welchen genauen Mechanismus sich diese Störung auswirkt (Frank et al. 2002, Monteleone et al. 2000).

Um die Effekte von Mangelernährung und Untergewicht als mögliche Ursachen für eine Änderung im Serotonin-System auszuschließen, untersucht man Anorexia-nervosa-Patienten in den verschiedenen Erkrankungsstadien. Besonders Auffälligkeiten und Veränderungen bei geheilten, das heißt vor allem langfristig gewichtsnormalisierte Anorexia-nervosa-Patienten, kommen als mögliche Faktoren in der Pathogenese der Anorexia nervosa in Frage (Frank et al. 2002). (Siehe Tabelle 2: Studien zu Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia Nervosa und Tabelle 5: Zusammenfassung der Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia nervosa, Zwangserkrankung und Depression)

Veränderungen im untergewichtigen Zustand

So haben bereits einige Studien Störungen im Serotonin-System, oder genauer eine Reduktion der Serotonin-Aktivität im ZNS, bei akut kranken Anorexia-nervosa-Patienten festgestellt (Frank et al. 2002, Kaye et al. 1998a, Walsh et al. 1998). Monteleone et al. diskutierten 2000, dass teilweise bei Patienten mit Anorexia nervosa im untergewichtigen Zustand eine verringerte Serotonin-Synthese sowie eine Verminderung der Serotonin-Aufnahmerate und des Serotonin-Metabolismus gefunden wurde. Außerdem wurde eine herabgesetzte Sensitivität des postsynaptischen Serotonin-Rezeptors gefunden (Monteleone et al. 2000), sowie ein vermindertes Rezeptor-Bindungspotential von [³H]-Imipramin, einem Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer festgestellt (Kaye et al. 1998a, Küttler 1996).

Bei Patienten mit Untergewicht sind die Basalwerte der Konzentration des 5-HT-Metaboliten 5-HIAA im Liquor erniedrigt (Barbarich 2002, Demitrack et al. 1995, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002). Auf eine reduzierte serotonerge Aktivität kann man auch im Rahmen von Stimulationstests durch die erniedrigten basalen Prolaktinspiegel und die abgeschwächte Prolaktinantwort auf Serotonin-Agonisten schließen, da das Effekthormon Prolaktin als Endpunkt des Serotonin-Systems der Hypothalamus-Adenohypohysen-Achse im peripheren Blut zu messen ist ( Barbarich 2002, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Hadigan et al. 1995, Monteleone et al. 2000).

Diese Reduktion der Serotonin-Aktivität im untergewichtigen Zustand wird auf die Mangelernährung zurückgeführt, bei der dem Körper vor allem zu wenig Tryptophan (als Serotonin Grundbaustein) und zu wenig Vitamin B6 und Vitamin B12 (als Coenzyme verschiedener Syntheseschritte) zugeführt wird ( Barbarich 2002, Demitrack et al. 1995, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002). Durch das Fehlen dieser Stoffe kommt es zu einer verringerten Serotonin-Synthese (Kaye et al. 1998a).

In einer Studie von Monteleone et al. (2000) wurde die serotonerge Dysfunktion bei Essstörungen in Zusammenhang mit Verhalten, Ernährungszustand und allgemeiner Psychopathologie untersucht. Bei untergewichtigen Anorexia-nervosa-Patientinnen und anderen Essstörungs-Patientinnen wurde die neuroendokrine Antwort auf orale Gaben von D-Fenfluramin gemessen, einem Serotonin-Agonist, der die Ausschüttung von Serotonin triggert, aber keine Wirkung an den Serotonin-Rezeptoren besitzt. Die durch D-Fenfluramin-Gabe ausgelöste Prolaktin- und Cortisol-Antwort kann als Hinweis auf die Aktivität des Serotonin-Systems im ZNS (genauer im hypothalamischen System) gewertet werden (Monteleone et al. 2000).

Die Patientinnen hatten signifikant höhere Werte in Bezug auf Essstörungssymptomatik, Depression, Ängstlichkeit, Aggressivität und essstörungsbezogene Zwänge als die gesunden Kontrollpersonen (Monteleone et al. 2000). Die primären Blutuntersuchungen der untergewichtigen Anorexia-nervosa-Patientinnen zeigten eine signifikante Verringerung der basalen Konzentration von Prolaktin, bei gleichzeitig erhöhter Basalkonzentration des Cortisol (Monteleone et al. 2000). Die weiteren Blutwerte ergaben eine signifikant erniedrigte Prolaktin-Antwort auf die Gabe von D-Fenfluramin bei untergewichtigen Anorexia-nervosa- und den Bulimia-nervosa-Patientinnen mit ausgeprägtem Binge-Verhalten (die eher mangelernährt waren), bei normalen Werten für die Binge-eating-Störung und Bulimia-nervosa-Patientinnen mit gering ausgeprägten Essattacken. Es gab keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Höhe der Prolaktin-Antwort und den vorher bestimmten basalen Hormonkonzentrationen, sowie den physischen Werten (u.a. Gewicht) und dem Schweregrad der psychopathologischen Störungen (Monteleone et al. 2000).

Die Ergebnisse der Studie bestätigten, dass bei untergewichtigen Anorexia-nervosa-Patientinnen eine Störung der durch Serotonin vermittelten neuroendokrinen Antworten vorliegt, was auf eine verringerte Aktivität an den Serotonin-Synapsen hinweist (Monteleone et al. 2000). Diese reduzierte Serotonin-Aktivität, die durch die verringerte neuroendokrine Reaktion auf D-Fenfluramin festgestellt wurde, könnte entweder auf einer verminderten Sensivität der postsynaptischen Serotonin-Rezeptoren oder auf einer Reduktion der zur Freisetzung in den Nervenenden zur Verfügung stehenden Menge an Serotonin zurückzuführen sein (Monteleone et al. 2000).

Auch durch Versuche mit dem Serotonin-Agonisten m-CPP kann die Funktion des serotoninergen Systems bei Anorexia-nervosa- Patienten untersucht werden (Kaye 2002). Dabei bewirkt m-CPP über einen selektiven Mechanismus, vergleichbar mit Serotonin, bei gesunden Kontrollpersonen eine gesteigerte Prolaktin-Sekretion. Messungen der Plasmaprolaktinkonzentration liefern also einen indirekten Wert für die zentrale Serotonin-Aktivität oder die Rezeptorsensitivität.

Die verringerte Prolaktin-Antwort in Versuchen mit Meta-Chloro-Phenyl-piperazin (m-CPP, einem Agonisten an postsynaptischen Serotonin-Rezeptoren) weisen in Kombination mit den Untersuchungsergebnissen von Monteleone et al. (2000) daher eher auf eine verminderten Sensivität der postsynaptischen Serotonin-Rezeptoren bei Anorexia-nervosa-Patienten hin ( Barbarich 2002, Frank et al. 2001, Hadigan et al. 1995), aber auch eine Reduktion der präsynaptischen Aktivität kann vor allem bei untergewichtigen Anorexia-nervosa-Patientinnen nicht gänzlich ausgeschlossen werden.

Aufgrund des Studienansatzes, der von untergewichtigen Anorexia-nervosa-Patienten ausging, konnte nicht unterschieden werden, ob die gefundene Reduktion der Serotonin-Aktivität eine der Essstörung zugrunde liegende Ursache war, oder eine durch Untergewicht und Mangelernährung sekundär hervorgerufene Erscheinung darstellte (Monteleone et al. 2000). Wenngleich die Störung im Serotonin System bei untergewichtigen Patientinnen mit Anorexia nervosa am ehesten durch die Mangelernährung zu erklären wäre, so könnte diese Reduktion der Serotonin-Aktivität doch auch (im Sinne eines Teufelskreises) für eine Verstärkung des Ausprägungsgrades der Psychopathologie der Essstörung oder komorbider Störungen sowie für die hohe Rückfallrate mitverantwortlich sein (Monteleone et al. 2000, Kaye 2002).

Allerdings konnte in der Studie von Monteleone (2000) keine signifikante Korrelation zwischen der Höhe der Prolaktin-Antwort auf D-Fenfluramin und dem Schweregrad der Psychopathologie, sowohl in Bezug auf Essstörung als auch auf komorbide Störungen festgestellt werden (Monteleone et al. 2000). Dies muss nicht ausschließen, dass es einen Zusammenhang von zentraler Serotonin-Aktivität und Essstörungspsychopathologie gibt, es könnte aber einen Hinweis auf Unterschiede zwischen Zwanghaftigkeit bei Essgestörten und Patienten mit klassischer Zwangserkrankung (Korrelation mit Prolaktin-Antwort in anderen Studien) darstellen (Monteleone et al. 2000).

Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass die gefundene Reduktion der Prolaktin-Antwort auf D-Fenfluramin bei untergewichtigen Anorexia-nervosa-Patientinnen am ehesten durch die Mangelernährung zu erklären war und keine Korrelation zu physischen (u. a. Gewicht) und psychopathologischen Werten festgestellt werden konnte (Monteleone et al. 2000). Einschränkend muss man hinzufügen, dass die Untersuchungsmethode nur einen kleinen speziellen Bereich der neuroendokrinen Aktivität von Serotonin erfasste, nämlich das serotonerge System im Hypothalamus. Denkbar ist, dass auch andere Störungen im zentralen Serotonin-System für die Pathogenese der Essstörungen, sowie den Ausprägungsgrad komorbider Störungen verantwortlich sein könnten (Monteleone et al. 2000).

(Siehe Tabelle 2: Studien zu Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia Nervosa und Tabelle 5: Zusammenfassung der Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia nervosa, Zwangserkrankung und Depression)

Veränderungen im kurzfristig gewichtsnormalisierten Zustand

Nach kurzfristigem Erreichen eines Normalgewichts zeigt die 5-HIAA-Konzentration im Liquor einen Trend zur Normalisierung ( Demitrack et al. 1995, Kaye et al. 1984). Allerdings ist der basale Prolaktin-Wert noch reduziert und die Prolaktin-Antwort auf m-CPP, einem Serotonin-Agonisten bei kurzfristiger Gewichtsnormalisierung noch verringert ( Barbarich 2002, Frank et al. 2001, Hadigan et al. 1995), was auf eine gewisse Persistenz der reduzierten Serotonin-Aktivität trotz Trend zur Normalisierung bei erst kurzfristiger Gewichtsnormalisierung hinweist ( Barbarich 2002).

Frank et al. untersuchten 2001 bei 12 stationären Anorexia-nervosa-Patientinnen (restriktiver Subtyp) mit kurzzeitig normalisiertem Gewicht die Beziehung von Appetit- und Verhaltensstörungen (Dysphorie, Hemmung und Zwanghaftigkeit) zu Veränderungen in der Serotonin-Aktivität mit Hilfe des 5-HT-Agonisten m-CPP, (Meta-Chloro-Phenylpiperazin), einem relativ selektiven Serotonin-Agonisten.

Es wurden die Werte für Plasma-Cortisol, ACTH, GH (= Growth-Hormon) und Prolaktin bestimmt.

Die Studie zeigte, dass die Anorexia-nervosa-Patientinnen primär höhere Grundwerte für Angst, Depression, Körperschemastörung und Zwangsgedanken als die gesunden Kontrollpersonen aufwiesen. Im Anschluss an die m-CPP-Gabe waren sie im Vergleich zu einer Placebo-Gabe weniger ängstlich, weniger depressiv und die Körperschemastörungen nahmen ab; sie fühlten sich freudig erregt und „merkwürdig“ (strange) (Frank et al. 2001). Diesem Befund steht eine andere Studie entgegen, die bei Patientinnen mit niedrigerem Gewicht und anderen Testverfahren eher die Tendenz zu einer Erhöhung der depressiven Stimmung bei Anorexia-nervosa-Patienten sowie gesunden Kontrollpersonen ergeben hatte (Hadigan et al. 1995).

Die Blutuntersuchungen der Studie von Frank et al. (2001) ergaben, dass Anorexia-nervosa-Patienten im Vergleich zu Gesunden initial signifikant niedrigere Prolaktin- und Cortisol-Spiegel und eher erhöhte GH-Level hatten. Auf m-CPP-Gabe konnte eine signifikant abgeschwächte Prolaktin-Antwort, bei normaler Cortisol-, ACTH- und GH-Antwort, festgestellt werden.

Allerdings muss berücksichtigt werden, dass bei langfristig gewichtsnormalisierten Patienten möglicherweise andere Reaktionen auf m-CPP zu beobachten sind (Frank et al. 2001).

Es ist bisher allerdings nicht sicher, über welchen Mechanismus m-CPP eine Stimmungsverbesserung bewirken könnte (Frank et al. 2001). Als Möglichkeit wurde von Frank et al. (2001) eine Aktivitätsverringerung des postsynaptischen 5-HT-1C- oder des 5-HT-2C-Rezeptors diskutiert, da dieser Rezeptor sowohl in der Prolaktin-Steuerung, als auch bei der Regulation des Essverhaltens und des Stimmungszustandes eine Rolle spielen könnte.

Die Studie kam zu dem Schluss, dass sich Hinweise auf persistierende Störungen im serotoninergen System nach Gewichtsnormalisierung bei Anorexia-nervosa-Patienten ergaben und auch deshalb bei Magersucht mehr als nur das Untergewicht therapiert werden müsste (Frank et al. 2001).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es Hinweise auf eine verminderte Serotonin-Aktivität und eine positive Wirkung von Serotonin-Agonisten (Frank et al. 2001) bei untergewichtigen oder kurzfristig gewichtsnormalisierten Anorexia-nervosa-Patienten gibt. Ein Zusammenhang mit bestimmten Symptomen (dysphorische Verstimmung, Körperschemastörung) der Anorexia nervosa erscheint möglich (Frank et al. 2001). Möglicherweise wird durch Gewichtsverlust bei Anorexia-nervosa-Patienten eine Veränderung im neuroendokrinologischen (beziehungsweise Neurotransmitter-) System ausgelöst, die neurobiologischen Störungen ähnelt, wie sie auch bei Patienten mit Zwangserkrankung gefunden werden ( Barbarich 2002).

(Siehe Tabelle 2: Studien zu Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia Nervosa und Tabelle 5: Zusammenfassung der Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia nervosa, Zwangserkrankung und Depression)

Veränderungen im langfristig gewichtsnormalisierten Zustand

Nach längerer Zeit mit normalem Gewicht normalisieren sich teilweise auch die Reaktionen des neuroendokrinen Systems auf die Gabe von Serotonin-Agonisten (Barbarich 2002, Ferguson et al. 1999, Kaye et al. 1998a, Ward et al. 1998).

Unter längerfristiger Gewichtsnormalisierung wurde dagegen in verschiedenen Untersuchungen eine erhöhte Konzentration an 5-HT-Metaboliten im Liquor von Essgestörten gefunden ( Barbarich 2002, Frank et al. 2001, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Walsh et al. 1998). Da nach Überwindung der Krankheit mit Normalisierung des Körpergewichts und der Nahrungsaufnahme psychobiologische Auffälligkeiten im serotoninergen System persistieren, werden diesen eine mögliche Rolle in der Pathogenese von Essstörungen zugeschrieben, oder zumindest als Vulnerabilitätsfaktoren für zentrale Verhaltensauffälligkeiten bei Essgestörten diskutiert (Kaye et al. 1998a, Kaye et al. 1991a, Walsh et al. 1998). Für diese Annahme spricht, dass parallel zu den Abnormalitäten im Serotonin-Stoffwechsel bei Anorexia-nervosa-Patienten auch Verhaltensveränderungen (Zwanghaftigkeit, Perfektionismus, Rigidität, negativer Affekt) nach der Gewichtsnormalisierung persistieren können, die ebenfalls mit einer erhöhten 5-HIAA-Konzentration im Liquor in Zusammenhang gebracht werden, und die als gegensätzlich zu Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit niedrigem Serotonin-Spiegel im Liquor (Impulsivität und Aggressivität) beschrieben werden (Barbarich 2002, Frank et al. 2001, Kaye et al. 1998a, Kaye 2002, Walsh et al. 1998).

Auch in einer weiteren Studie von Frank et al. (2002) wurden persistierende Störungen im Serotonin-System bei 16 langfristig gewichtsnormalisierten Anorexia-nervosa-Patienten (restriktiver Subtyp) untersucht. Es wurde dazu die cerebrale Positronen-Emissions-Tomographie (PET) als bildgebendes Verfahren benutzt.

Als Radioligand wurde [18F]-Altanserin, ein spezifischer 5-HT-2A-Rezeptor-Antagonist, verwendet. Es sollten persistierende Veränderungen im Bereich der Neurotransmitter und der Verhaltensauffälligkeiten im Vergleich von ehemaligen Anorexia-nervosa-Patienten (die mehr als ein Jahr gewichtsnormalisiert waren) mit gesunden Kontrollprobanden festgestellt werden (Frank et al. 2002).

Da es Studien gibt, die den Serotonin-Rezeptor 5-HT-2A mit der Auslösung von Hypophagie, Verstimmung, Ängstlichkeit und der Wirkung von Antidepressiva in Zusammenhang gebracht haben, ist dieser Rezeptor gerade bei Untersuchungen mit Anorexia-nervosa-Patienten von besonderem Interesse (Frank et al. 2002).

Die psychiatrischen Untersuchungen im Rahmen dieser Studie ergaben, dass die ehemaligen Anorexia-nervosa-Patientinnen auch nach ihrer Heilung erhöhte Werte für Depressivität, Angst, Schlankheitsstreben und Perfektionismus aufwiesen (Frank et al. 2002).

Nach Gabe des 5-HT-2A-Rezeptor-Antagonisten [18F]-Altanserin wurden bei den geheilten Anorexia-nervosa-Patientinnen im Vergleich zu den gesunden Kontrollpersonen folgende Veränderungen im serotoninergen Transmitter-System gefunden: Im medialen Temporal-Cortex (Corpus amygdaloideum, Hippokampus) und im Cingulum bestand eine signifikante und im sensomotorischen Cortex eine ansatzweise Reduktion der 5-HT-2A-Rezeptor-Bindung bei den ehemaligen Essgestörten. In verschiedenen anderen Bereichen des Cortex, sowie im Cerebellum (als Referenzregion mit unspezifischer Bindung) gab es keine Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungs-Gruppen. Auch der Metabolismus des [18F]-Altanserins war in beiden Gruppen gleich (Frank et al. 2002).

Außerdem wurde in beiden Gruppen eine negative Beziehung zwischen Alter und 5-HT-2A-Rezeptor-Bindung gefunden. Es konnte kein signifikanter Zusammenhang von momentanem BMI, Krankengeschichte mit Depression und Zwangserkrankung oder aktuellen psychopathologischen Werten mit der gemessenen 5-HT-2A-Rezeptor-Bindung festgestellt werden.

Allerdings gibt das angewandte Untersuchungsverfahren keine Auskunft darüber, ob die gefundene Reduktion der 5-HT-2A-Rezeptor-Bindung auf eine verringerte Zahl oder eine geringere Affinität der Rezeptoren zurückzuführen ist (Frank et al. 2002).

Die Studie bestätigte jedoch, dass es auch bei geheilten Patientinnen mit Anorexia nervosa Veränderungen im Serotonin-System des Gehirns, besonders des medialen Temporal-Cortex gibt. Die Autoren stellten folgende Hypothese auf: Da bei Anorexia und Bulimia nervosa im geheilten Zustand im Liquor erhöhte Werte für Serotonin gefunden wurden, könnte eine regulierende Reaktion (im Sinne einer „down regulation“) nach der Krankheit stattgefunden haben; es also zu einer Abnahme der postsynaptischen kortikalen 5-HT-2A-Rezeptor-Dichte gekommen sein, um die Serotonin-Überaktivität zu kompensieren (Frank et al. 2002).

Die in dieser Studie vor allem betroffenen Gehirnregionen waren Hippocampus und Corpus amygdaloideum im medialen Temporal-Cortex und das Cingulum (Frank et al. 2002). Diese Regionen werden mit Ängstlichkeit, Depressivität und Zwangserkrankung (Frank et al. 2002, Kahle 1991), aber auch Nahrungsaufnahme, Stimmungsregulierung und Impulskontrolle in Zusammenhang gebracht (De Gruyter 1997, Frank et al. 2002, Kahle 1991). Insgesamt scheinen Veränderungen dieser Region allgemein bei verschiedenen psychiatrischen Störungen vorzuliegen (Frank et al. 2002).

Die Autoren stellten die Theorie auf, dass die bei den ehemaligen Anorexia-nervosa-Patienten gefundenen persistierend erhöhten Werte für Depressivität, Ängstlichkeit und Perfektionismus mit den Störungen im neuronalen Serotonin-System im medialen Temporal-Cortex bei geheilten Anorexia-nervosa-Patientinnen in Zusammenhang zu bringen sind (Frank et al. 2002).

Außerdem wurden zudem bei geheilten Bulimia-nervosa-Patientinnen eine reduzierte [18F]-Altanserin-Bindung am 5-HT-2A-Rezeptor gefunden. Im Gegensatz zu der bei geheilten Anorexia-nervosa-Patientinnen betroffenen Region im Temporal-Cortex, befanden sich allerdings bei geheilten Bulimia-nervosa-Patientinnen die Veränderungen im Orbito-Frontal-Cortex. Die Tatsache, dass verschiedene Regionen betroffen waren, könnte nach Meinung der Autoren für die unterschiedlichen Symptome der Subtypen der Essstörungen verantwortlich sein (Frank et al. 2002).

Einige - jedoch nicht alle - Studien haben eine reduzierte 5-HT-2A-Rezeptor-Bindung in frontalen, temporalen, parietalen und occipitalen Cortexregionen bei depressiven Patienten gefunden (Frank et al. 2002).

Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass die Ergebnisse der Studie, wie auch andere Studien zuvor, auf Veränderungen im System des Neurotransmitters Serotonin bei geheilten Anorexia-nervosa-Patienten hinwiesen. Die gefundene reduzierte 5-HT-2A-Rezeptor-Bindung könnte entweder als eine primäre Störung („trait“) und damit als Hinweis auf einen Pathogenese-Faktor der Anorexie nervosa, aber auch als sekundäre Reaktion auf eine erhöhte Serotonin-Aktivität („state“) interpretiert werden (Bailer et al. 2004, Frank et al. 2002).

Auch in der (PET)-Studie mit dem spezifischen 5-HT-2A-Rezeptor-Radioliganden [18F]-Altanserin, die Bailer et al. 2004 bei ehemaligen Anorexia-nervosa-Patienten (länger als ein Jahr gewichtsnormalisiert) des bulimischen Subtyps durchführte, wurde eine signifikant niedrigere 5-HT-2A-Rezeptorbindung im Cingulum, sowie im parietalen und occipitalen Cortex gefunden (Bailer et al. 2004). Auffällig war auch, dass die negative Korrelation von Alter und 5-HT-2A-Rezeptorbindung, die entsprechend dem Normalbefund bei den gesunden Probanden existierte, bei den gewichtsnormalisierten Anorexia-nervosa-Patienten deutlich geringer ausgeprägt war. In dieser Studie war das 5-HT-2A-Rezeptorbindungspotential positiv korreliert mit der subjektiv eingeschätzten Eigenschaft „Schadensvermeidung“ („Harm Avoidance“), aber negativ korreliert mit „Streben nach Neuem“ („Novelty Seeking“) und „Streben nach Dünnheit“. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass persistierende Veränderungen im Serotonin-System einen Faktor in der Pathogenese der Essstörungen darstellen könnten, aber möglicherweise auch mit der hohen Lebenszeitprävalenz von depressiven Störungen in Zusammenhang zu bringen sind (Bailer et al. 2004).

Es wird diskutiert, dass Patienten durch Diät, auch kurzfristig, die Tryptophanaufnahme und damit die Serotonin-Synthese einschränken können, und über diesen Mechanismus eine Möglichkeit der Einflussnahme auf ihre Stimmung besitzen ( Barbarich 2002, Kaye et al. 1998a). Da bei Anorexia-nervosa-Patienten möglicherweise initial eine zu hohe Serotonin-Aktivität besteht, könnte diesem Zuviel an Serotonin durch eine (Tryptophan-arme) Diät gegengesteuert werden, was eine Stimmungsbesserung zur Folge hätte. Allerdings könnten dann die postsynaptischen Serotonin-Rezeptoren kompensatorisch die Reaktion auf Serotonin verstärken, so dass es erneut zu einer Stimmungsverschlechterung kommen würde ( Barbarich 2002). Nach dieser Theorie wäre bei Anorexia-nervosa-Patienten das pathologische Essverhalten eine Art „Selbstbehandlung“ einer zugrunde liegenden intrinsischen Störung im serotoninergen System. Außerdem ist möglicherweise auch das veränderte Sättigungsgefühl und der Gewichtsverlust zum Teil auf Veränderungen im Serotonin-System zurückzuführen (Frank et al. 2001). (Siehe Tabelle 2: Studien zu Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia Nervosa und Tabelle 5: Zusammenfassung der Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia nervosa, Zwangserkrankung und Depression)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz des wachsenden Interesses und der damit steigenden Zahlen an Untersuchungen des serotoninergen Systems bei Patienten mit Anorexia nervosa in unterschiedlichen Erkrankungsstadien noch zu wenige Daten für endgültige Erkenntnisse vorliegen. Bei teilweise noch widersprüchlichen Ergebnissen scheint die meistdiskutierte Theorie einen möglichen Selbstregulationsversuch der Patienten mit Anorexia nervosa in das Zentrum der Überlegungen zu stellen. Ausgehend von der Vermutung, dass der Zustand von langfristig gewichtsnormalisierten Anorexia-nervosa-Patienten auf Neurotransmitter-Ebene einem prämorbiden Zustand entspricht oder ähnelt, läge primär eine erhöhte Serotonin-Konzentration im Liquor (und damit im ZNS) vor, möglicherweise mit einer dadurch regulierten Abnahme („Down-Regulation“) der Rezeptoraktivität. Durch Einschränkung der Nahrungszufuhr, und damit der Aufnahme von Tryptophan (dem Grundstoff der Serotonin-Synthese) könnten die Betroffenen der erhöhten Serotonin-Aktivität entgegen zu steuern versuchen.

Der bei untergewichtigen Anorexia-nervosa-Patienten gefundene Zustand der reduzierten serotoninergen Aktivität mit verringerter Konzentration im Liquor wird am ehesten als diätinduziert angesehen. Im Vergleich zu einigen Studien, die bei Patienten mit depressiver Symptomatik teilweise ebenfalls eine reduzierte serotoninerge Aktivität gefunden hatten, wird eine mögliche Verstärkung der Symptomatik im Sinne eines „Teufelskreises“ bei Anorexia-nervosa-Patienten diskutiert. (Siehe Tabelle 2: Studien zu Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia Nervosa und Tabelle 5: Zusammenfassung der Veränderungen im Serotonin-System bei Anorexia nervosa, Zwangserkrankung und Depression)

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Ende der Leseprobe aus 168 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) auf depressive und zwanghafte Verhaltensweisen bei adoleszenter Anorexia nervosa
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Note
2
Autor
Jahr
2008
Seiten
168
Katalognummer
V114044
ISBN (eBook)
9783640138319
ISBN (Buch)
9783640138494
Dateigröße
1004 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Einfluss, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Verhaltensweisen, Anorexia
Arbeit zitieren
Nadja Kaiser (Autor:in), 2008, Der Einfluss selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) auf depressive und zwanghafte Verhaltensweisen bei adoleszenter Anorexia nervosa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114044

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