Schicksal und Schicksalslosigkeit in Imre Kertész’ "Roman eines Schicksallosen"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

17 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung in die Thematik und Struktur der Arbeit

2. Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“

3. Schicksal und Schicksallosigkeit
3.1 Der Schicksalsbegriff
3.2 Schicksal und Schicksallosigkeit bei Imre Kertész
3.2.1 Kertész und das Schicksal
3.2.2 Der Romanheld György und das Schicksal
3.2.3 Freiheit und Schicksal

4. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einführung in die Thematik und Struktur der Arbeit

Bereits der Titel von Imre Kertész’ Werk „Roman eines Schicksallosen“[1] wirft Fragen nach der Bedeutung des Schicksals im Leben des Menschen auf. Gleichzeitig verwirrt der Titel, gilt allgemein im heutigen Sprachgebrauch doch jedes Dasein als das Leben eines bestimmten Schicksals. Die Schicksallosigkeit und noch viel mehr die originale Übersetzung des Romantitels aus dem Ungarischen „Mensch ohne Schicksal“ erschließt sich dem Leser nur schwer und mutet auf den ersten Blick wie ein Oxymoron an.

Wie soll menschliches Leben ohne Schicksal, also ohne einen persönlichen Lebensweg möglich sein? Diese – für den Leser des Romans geradezu selbstverständliche – Fragestellung ist durch eine bestimmte Sichtweise auf den Schicksalsbegriff motiviert, die sich Kertész nicht zu Eigen macht. Bei der Betrachtung von Schicksallosigkeit wird daher zunächst die traditionelle Vorstellung von „Schicksal“ ebenso Eingang finden müssen wie die Umdeutung, die der Begriff bei Imre Kertész erfährt.

Dazu werden neben dem „Roman eines Schicksallosen“ auch das „Galeerentagebuch“,[2] eine Sammlung von Tagebucheinträgen des Autors, die die Grundüberlegungen beim Schreiben des „Romans eines Schicksallosen“ dokumentieren, und ein weiterer Roman, „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind,“[3] herangezogen.

Die Person und der Lebensweg des Autors, ebenso wie die Tatsache, dass die Hauptfigur des Romans zweifellos autobiographische Züge in sich trägt – muss doch „das Ich des Romans den selben Weg gehen […], den sein Verfasser ging“[4] – lassen Schicksal und Schicksallosigkeit zum Zentralbegriff für das Verständnis Kertész’ von der Vernichtung der europäischen Juden werden. Die Verknüpfung vom Holocaust mit den Vorstellungen des Autors vom Schicksal wirken für den Leser – dies wird noch zu zeigen sein – zutiefst verstörend.

In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, den Schicksalsbegriff bei Imre Kertész zu erklären und zu bewerten. Das Roman-Ich spricht zwar jedem Außenstehenden, der das Vernichtungslager nicht selbst erlebt hat, die Kompetenz ab, eine solche Bewertung vorzunehmen, da ihm zum vollständigen Durchdringen der Materie die persönliche Erfahrung schlichtweg fehle,[5] dennoch erscheint es für eine kritische Betrachtung des Werkes für die Literaturwissenschaft unerlässlich.

2. Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“

In Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“ schildert der 15-jährige jüdischstämmige György Köves aus Budapest seine Erlebnisse in Ungarn während des Zweiten Weltkrieges und seine Deportation nach Auschwitz und weiter ins Konzentrationslager Buchenwald, wo er 1945 befreit wird. Das Ich des Romans erzählt seine Geschichte in einer vollkommen unprätentiösen Sprache und ohne ein Anzeichen von Trauer, Entsetzen oder Wut.[6]

Vielmehr erstaunt das erzählende Ich durch eine scheinbar vollkommene Einsicht in die Geschehnisse, die es mit Interesse und Erstaunen, keinesfalls aber mit Empörung wahrnimmt. Es versucht das Erlebte zu analysieren und dahinter einen tieferen Sinn zu entdecken. Das Grauen des Konzentrationslagers wird als völlig normal empfunden – ebenso wie die vorangegangenen Schritte der Diskriminierung und Deportation. Der Logik des Systems „Konzentrationslager“ folgend, schildert György die Ereignisse, deren Zeuge er wird und deren Opfer er selbst ist, als „natürlich“ und „selbstverständlich“! Es scheint mitunter gar so, als ob das Roman-Ich die gegebenen Verhältnisse nicht nur akzeptiere, sondern für sich selbst den „fremden Blickwinkel“[7] seiner Peiniger übernehme. So ziehen sich diese „Natürlichkeit“ markierende Vokabeln durch den gesamten Roman[8] – verbunden mit einer Sprache, die jegliche Emotion beim Erzähler vermissen lässt.

Dieses neutrale Erzählverhalten, die Akzeptanz des Grauens und das Anerkennen der Folgerichtigkeit des Geschehens führen zu tiefster Verstörung des Lesers eines Romans, der in einem „unerbittlichen Stil“[9] jegliche Norm des standardisierten Berichtens über diesen Abgrund der Menschheitsgeschichte sprengt. Während György sich voller Zuversicht auf seine „Reise“ nach Deutschland vorbereitet und sich auf die ihm dort versprochene Arbeit freut, die Landschaft in Auschwitz bewundert und selbst im bittersten Elend – nun in Buchenwald – noch ein bisschen leben möchte „in diesem schönen Konzentrationslager,“[10] weiß der Leser bereits um die noch kommenden Grausamkeiten, die dem Jungen widerfahren werden, und muss die scheinbar unendliche Duldungsbereitschaft und Zuversicht des Protagonisten als unerträglich empfinden. Im Roman ist an keiner Stelle die Stimme des Gepeinigten und Verzweifelten, sondern stets „die vorurteillose Stimme eines Nicht-Wissenden, dem der Leser Schritt für Schritt folgen kann“[11] zu hören. Györgys kindliche Sprache und die ohne jede moralische Implikation wiedergegebene Wirklichkeit[12] erscheinen als Zynismus des Autors. So ist es nicht verwunderlich, dass Kertész’ Werk – bereits 1975 in Ungarn erschienen – „als Skandal empfunden und sofort wieder aus den Buchhandlungen entfernt“[13] wurde.

Doch nicht allein der Schreibstil hat zum Befremden der Leserschaft beigetragen. Nach der Befreiung aus Buchenwald macht das Roman-Ich eine „Metamorphose“[14] durch: Seine Naivität ist einem Wissen gewichen, dass ihn auch außerhalb des Konzentrationslagers zu einem Andersartigen werden lässt. Er empfindet daher nur noch „Hass auf alle.“[15] Diese Andersartigkeit ist auch dem Leser des Romans nicht leicht eingängig: Sie erklärt sich durch das Erkennen der eigenen Schicksallosigkeit. Dieses Erkennen führt zum neuerlichen Verstören des Publikums. Denn das Ich insistiert darauf, zwar ein fremdbestimmtes Schicksal gelebt zu haben, aber dieses zu seinem eigenen Schicksal gemacht zu haben.[16] Dies impliziert, dass in diesem Schicksal nicht nur das Leiden und die Not, sondern auch das Glück und die Freude ihren Platz finden müssen – selbst im Konzentrationslager. Mit dem für den Leser undenkbaren „Glück der Konzentrationslager“[17] endet der Roman. Die diesem Glück zugrunde liegende Schicksallosigkeit soll im Folgenden untersucht werden.

3. Schicksal und Schicksallosigkeit

Das „Schicksal“ durchzieht den „Roman eines Schicksallosen“ vom Titel bis zur letzten Seite. Erst am Ende wird jedoch deutlich, was Imre Kertész mit dem Begriff verbindet. Seine Schicksalsdefinition ist dabei alles andere als selbsterklärend, zumal sie sich von der gängigen Vorstellung von „Schicksal“ deutlich unterscheidet.

[...]


[1] Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh, Hamburg 1998.

[2] Kertész, Imre: Galeerentagebuch, Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm, Hamburg 1999.

[3] Kertész, Imre: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Aus dem Ungarischen von György Buda und Kristin Schwamm, Hamburg 1996.

[4] Reemtsma, Jan Philipp: Überleben als erzwungenes Einverständnis. Gedanken bei der Lektüre von Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“, in: Mauser, Wolfram u. Pietzcker, Carl (Hgg.): Trauma. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 19, Würzburg 2000 [Reemtsma], S. 55.

[5] „[…] über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren, um es so zu sagen.“, Roman eines Schicksallosen, S. 271.

[6] Vgl. Pfeiffer, Joachim: Unfähigkeit zu trauern? Zu Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen, in: Mauser, Wolfram u. Pfeiffer, Joachim (Hgg.): Trauer. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 22, Würzburg 2003 [Pfeiffer], S. 263.

[7] Rudtke, Tanja: „Eine kuriose Geschichte“. Die Pikaro-Perspektive im Holocaustroman am Beispiel von Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen, in: arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 36, 2001 [Rudtke], S. 53 f.

[8] Ebd.

[9] Ackermann, Zeno: Imre Kertész und sein Roman eines Schicksallosen. Die Literatur der radikalen Selbsttäuschung. http://www.shoa.de/content/view/175/190, eingesehen am: 25.04.2008 [Ackermann].

[10] Roman eines Schicksallosen, S. 209.

[11] Abt, Christine: Der wortlose Suizid. Die literarische Gestaltung der Sprachverlassenheit als Herausforderung für die Ethik, München 2007, S. 116.

[12] Vgl. Reemtsma, S. 69.

[13] Pfeiffer, S. 263.

[14] Rudkte, S. 56.

[15] Roman eines Schicksallosen, S. 270.

[16] „Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt“, Roman eines Schicksallosen, S. 285.

[17] Roman eines Schicksallosen, S. 287.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Schicksal und Schicksalslosigkeit in Imre Kertész’ "Roman eines Schicksallosen"
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur I)
Veranstaltung
KZ- und Holocaustliteratur
Note
2,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
17
Katalognummer
V112692
ISBN (eBook)
9783640122424
ISBN (Buch)
9783640123834
Dateigröße
483 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schicksal, Schicksalslosigkeit, Imre, Kerész, Roman, Schicksallosen, Holocaustliteratur
Arbeit zitieren
Philipp Robens (Autor:in), 2008, Schicksal und Schicksalslosigkeit in Imre Kertész’ "Roman eines Schicksallosen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112692

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