Zu: Robert Musil 'Die Amsel'

Azweis Flucht aus der Wirklichkeit: Versuch eines Individuationsprozesses


Seminararbeit, 2007

18 Seiten, Note: 5.5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung:

2 Der andere Zustand: auf dem Weg zur Individuation:
2.1 Definitionen: Realzustand und anderer Zustand
2.1.1 Erste Schritte zur Individuation
2.2 Azweis Flucht aus seinem monotonen Leben
2.2.1 Azweis Versuch eines Individuationsprozesses
2.3 Azweis Erlebnis mit dem Fliegerpfeil
2.3.1 Azweis Schwierigkeit, die Individuation zu erreichen
2.4 Azweis Reise zurück in die Kindheit
2.4.1 Scheitern der Individuation

3 Fazit:

4 Bibliographie:

1 Einleitung:

Die vom österreichischen Autor Robert Musil geschriebene Novelle Die Amsel wurde in Der Neuen Rundschau im Jahre 1928 veröffentlicht. Die Niederschrift der Novelle zog sich über 10 Jahre hinaus. Robert Musil schrieb Die Amsel nicht in einem Zug, sondern bearbeite sie mehrmals. In den Tagebüchern kann der Leser die Spur von in Der Amsel aufgenommenen und von Musil beliebten Themen oder gar wortwörtliche Übertragungen verfolgen; beide bieten die Basisstruktur für die Novelle. Insgesamt sind vier Fassungen entstanden: Fassung A, Fassung B, Erstdruck (in der Neuen Rundschau, Heft 39) und die Ausgabe aus letzter Hand (‚Nachlass zu Lebzeiten)[1]. Die Amsel muss also als ein mehrfach überarbeiteter Text betrachtet werden, wo der Autor seine Persönlichkeit und sein Erlebte einfliessen lässt.

Die Novelle fängt mit der Einführung der zwei Hauptfiguren Aeins und Azwei durch einen Ich-Erzähler an, der die Jugend von den beiden Figuren in einem religiösen Institut in groben Zügen darstellt und geht sowohl auf ihre frühere Freundschaft ein, als auch auf ihre Trennung nach dem Verlassen des Instituts. In dieser kurzen Einleitung erfährt der Leser mehr über Azweis Studentenzeit und seine „beträchtliche[n] Fehlschläge[n]“ (Amsel, S.133). Die drei Geschichten, die dieser Einführung folgen, werden von Azwei selber erzählt. Der Grund dieser Erzählung ist am Anfang der Novelle nicht ganz klar aber der folgende Satz weist auf einen gewissen Befreiungs- und Verständnisbedarf von Azwei hin: „ Azwei erzählte das nun Folgende in der Art, wie man vor einem Freund einen Sack mit Erinnerungen ausschüttet, um mit der leeren Leinwand weiterzugehen“ (Amsel, S.134) . Wie ein Maler, der vor der leeren Leinwand steht und nicht weiss, wie er weitergehen soll, steht Azwei vor einer leeren Leinwand, bzw. vor seiner bedeutungslosen Existenz. Obwohl er viele Bilder im Kopf hat (in Form von Erinnerungen), ist er nicht in der Lage, etwas mit ihnen anzufangen. Azwei erzählt seinem Freund Geschichten aus seinem Leben in der Hoffnung, dass sein Vertrauter dann ihren Sinn verstehen kann. Dieser Erzählsituation folgt jedoch kein Dialog zwischen den beiden Figuren, sondern nur eine Art Selbstgespräch. In seiner im Jahre 1972 veröffentlichen Analyse über Die Amsel betrachtet Friedrich Krotz dieses Selbstgespräch als eine Anamnese, die Vorgeschichte einer Krankheit. Er fährt dann mit seiner Analyse fort und stellt eine Diagnose über Azweis mögliche Krankheit. Aus Azweis Erzählungen folgert Krotz, dass Azwei einem schizophrenen Patienten ähnelt. Meines Erachtens geht es hier nicht um einen schizophrenen Patienten, sondern um einen Menschen, der an seinem Leben zerbricht und in den von Robert Musil selber so genannten anderen Zustand gerät, um dieser Existenz zu entfliehen. Dieser Zustand ermöglicht es ihm, ein Glücksgefühl zu empfinden.

In meiner Analyse geht es darum, Geschehnisse, die sich um Azwei herum ereignen, unter die Lupe zu nehmen und sie im Hinblick auf den von Robert Musil beschriebenen anderen Zustand zu analysieren. Azwei gerät in so einen Zustand, denn er kann sein alltägliches Leben (den Realzustand) nicht geniessen und will dieser Existenz bzw. Wirklichkeit entfliehen. In der ersten Geschichte ermöglicht ihm seine Reise in den anderen Zustand, die Monotonie und Farblosigkeit seines Lebens wahrzunehmen. Nachdem er diesen Zustand erlebt hat, versucht er seinem Leben eine andere Gestalt zu geben. Er findet sich in dieser Massengesellschaft als Individuum nicht ab und versucht einen Individuationsprozess einzutreten. Mehrmals versucht Azwei, einen solchen Prozess, einen Prozess der Selbstverwirklichung, einzuleiten und zu durchlaufen. Ziel meiner Analyse wird also sein, die Gegenstände dieses Individuationsprozesses zu untersuchen. Wird es Azwei gelingen, sich selbst zu verwirklichen und sich mit der Gesellschaft abzufinden? Auf diese Frage möchte ich in dieser Arbeit näher eingehen.

2 Der andere Zustand: auf dem Weg zur Individuation:

2.1 Definitionen: Realzustand und anderer Zustand

Nach Robert Musils Vorstellung kann sich der Mensch in zwei Zuständen befinden: im Realzustand und im anderen Zustand. Der Realzustand bezeichnet einen Zustand, der „dem Individuum in seinem gewöhnlichen Alltag von der Gesellschaft vorgeschrieben wird“ (Erdmann 1992, S. 1). Darunter versteht man eine rationale, objektive und reale Welt. Dem gegenüber steht der andere Zustand als ein Zustand, der Raum für Irrationales und Subjektives lässt. Robert Musil betrachtet den anderen Zustand als „zum Gebiet der Mystik und nicht dem Ratio“ (Hoppler, 1984, S.190) gehörend. Moralische und soziale Zwänge, Einengungen sowie Unfreiheit gehören zum Realenzustand, während der andere Zustand eine Welt der Freiheit und Ungebundenheit anbietet. Die Unterscheidung dieser beiden Zustände spielt nicht nur eine grosse Rolle in Der Amsel, sondern auch in seinem Gesamtwerk und zwar besonders in Dem Mann ohne Eigenschaften. Die Wurzel der Theorie des anderen Zustands ist „das Brüten in der Melancholie des Zimmers“ (Albertsen, S.43) während Musils Kinderzeit. „Das Leere, Unglückliche, das Kindsein, wie es Musil in seiner Vorarbeit zum Roman beschreibt, wird für Robert zu einer Quelle der Phantasie“ (Albertsen, S. 50). In Dem Mann ohne Eigenschaften vergleicht Musil den anderen Zustand mit dem Traum. „[Der Traum ist] Analogon zum anderen Zustand. [I]n ihm verändern sich die Beziehungen zwischen Menschen und Welt.[…] Die einschränkenden Bedingungen der Wirklichkeit fallen fort“. (RM TB, Anm. Heft 21: S. 443). In der Erzählung ist es tatsächlich schwierig, zwischen dem anderen Zustand und dem Traum zu unterscheiden. Beide bieten eine Alternative zur monotonen Realwelt.

2.1.1 Erste Schritte zur Individuation

Azwei glaubt nicht mehr an die „Veränderbarkeit der Gesellschaft mit politischen Mitteln“ (Hoppler, 1980, S.47). Er hatte sich anfänglich für die russische Revolution engagiert, kehrt aber zurück nach Deutschland, da er dann auf die russische Revolution mit Skepsis reagiert.

Er findet also keine Erfüllung im politischen Engagement. Die Erfüllung muss er irgendwo anders suchen und zwar bei sich selbst. In der ersten Geschichte übt er Kritik an dem „Geist der Massenhaftigkeit“ (Amsel, S.134) und charakterisiert Aeins Engagement für die Arbeiterbewegung als eine „Schwärmerei“ (Amsel, S.133). Mit Politik verbindet er „Verlogenheit und Korruption“ (Hoppler, 1984, S.45) und kann sich damit nicht mehr identifizieren. Azwei will sich also nicht mehr um das kollektive Schicksal, sondern um sein eigenes kümmern. Es setzt sich mit sich selbst auseinander und nicht mehr mit der gesellschaftlich-politischen Umgebung, die sich nicht als erfolgreich entlarvt hatte. Azwei hat zwar „mit Elternhaus, Internat, Beruf, russische Revolution, Krieg und Massengesellschaft, die unterschiedlichsten Sozialisierungsformen durchlaufen“ (Hoppler, 1980, S.186), kann aber keinen Platz für seine Individualität finden. Für Azwei ist also die Zeit reif für eine Begegnung mit sich selbst. Azwei erreicht diese dank der Erfahrung des anderen Zustands. Dadurch kann er in einen Prozess der Selbstverwirklichung bzw. Individuation übergehen. Der Begriff Individuation wurde zuerst in der Biologie verwendet, um ein Wesen zu bezeichnen, das sich von allen anderen Wesen derselben Spezies unterscheidet. Er wurde dann vom schweizerischen Psychologen Carl Gustav Jung (1875-1861) auf das Gebiet der Psychologie übertragen. Carl Gustav Jung ist ein wichtiger Vertreter der analytischen Psychologie; er gehört zu den Tiefenpsychologen, die das Selbst (bzw. die Selbstwerdung) ins Zentrum der Psychoanalyse stellen. Das Selbst ist Ziel des Individuationsprozesses. Um diesen Begriff zu erklären, möchte ich Jungs Definition aufgreifen:

Die Individuation ist allgemein der Vorgang der Bildung und Besonderung von Einzelwesen ["principium individuationis", d. Verf.], speziell die Entwicklung des psychologischen Individuums als eines vom Allgemeinen, von der Kollektivpsychologie unterschiedenen Wesens. Die Individuation ist daher ein Differenzierungsprozess, der die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zum Ziele hat. Die Notwendigkeit der Individuation ist insofern eine natürliche als eine Verhinderung der Individuation durch überwiegende oder gar ausschließliche Normierung an Kollektivmaßstäben eine Beeinträchtigung der individuellen Lebenstätigkeit bedeutet. Die Individualität ist aber schon physisch und physiologisch gegeben und drückt sich dementsprechend auch psychologisch aus. Eine wesentliche Behinderung der Individualität bedeutet daher eine künstliche Verkrüppelung. Es ist ohne weiteres klar, dass eine soziale Gruppe, die aus verkrüppelten Individuen besteht, keine gesunde und auf die Dauer lebensfähige Institution sein kann; denn nur diejenige Sozietät, welche ihren inneren Zusammenhang und ihre Kollektivwerte bei größtmöglicher Freiheit des Einzelnen bewahren kann, hat eine Anwartschaft auf dauerhafte Lebendigkeit. Da das Individuum nicht nur Einzelwesen ist, sondern auch kollektive Beziehung zu seiner Existenz voraussetzt, so führt auch der Prozess der Individuation nicht in die Vereinzelung, sondern in einen intensiveren und allgemeineren Kollektivzusammenhang[2].

Die Individuation setzt also nicht nur voraus, dass die individuelle Persönlichkeit entwickelt wird, sondern auch dass sich der Mensch mit der Gesellschaft abfindet.

2.2 Azweis Flucht aus seinem monotonen Leben

Zum Zeitpunkt der ersten Geschichte steht Azwei an der Schwelle einer Lebenskrise. Er führt eine äusserst monotone Existenz, die verhindert, heiter und ausgeglichen zu leben. Die Schilderung der Berliner Mietskaserne, in der er wohnt, besagt viel über Azweis Unwohlsein:

Zu den sonderbarsten Orten der Welt – sagte Azwei – gehören jene Berliner Höfe, wo zwei, drei, oder vier Häuser einander den Hintern zeigen. Köchinnen sitzen mitten in den Wänden, in viereckigen Löchern, und singen. (…) Da hinaus und hinab sehen nun die Küchen und die Schlafzimmer; nahe beieinander liegen sie, wie Liebe und Verdauung am menschlichen Körper. Etagenweise sind die Ehebetten übereinander geschichtet; denn alle Schlafzimmer haben im Haus die gleiche Lage, und Fensterwand, Badezimmerwand, Schrankwand bestimmen den Platz des Bettes fast auf den halben Meter genau. Ebenso etagenweise türmen sich die Speisezimmer übereinander, das Bad mit den weissen Kacheln und der Balkon mit dem roten Lampenschirm. Liebe, Schlaf, Geburt, Verdauung, unerwartete Wiedersehen, sorgenvolle und gesellige Nächte liegen in diesen Häusern übereinander wie die Säulen der Brötchen in einem Automatenbüffet[3].

Anhand dieser Stelle kann festgestellt werden, dass Azwei wenig Raum für Phantasie übrig bleibt. Die Wohnungen wurden so konzipiert, dass die Anordnung der Möbel schon im Voraus bestimmt wurde („auf den halben Meter genau“. Amsel, S.135). Es besteht fast keine Möglichkeit sie zu ändern. Azwei zufolge verursacht dieser Mangel an Freiraum auch, dass alle menschlichen Gesten wie zum Beispiel Schlaf, Geburt, Liebe oder Geburt irgendwie schon vorgerichtet sind „wie die Saülen der Brötchen in einem Automatenbüffet“ (Amsel, S.135). Aus diesem Grund fühlt sich Azwei wie ein Gefangener, der nach Freiheit sucht. Ausserdem sucht er nach einer Existenz, in der keine Instanz – sei es der Architekt (Anordnung der Wohnung), die Eltern oder egal wer - ihn diktiert, wie er sein Leben führen soll. Dieses Leben bietet Azwei keinen Platz für Phantasie und Individualität. Er findet seine Rolle in so einer Gesellschaft nicht; er kann sich nicht als Individuum fühlen in einer solchen Gesellschaft, die immer mehr zu einer Massengesellschaft wird und die dem Individuum wenig Freiraum zugesteht. Er muss also versuchen, sich zu differenzieren und seinem Leben eine andere Perspektive zu geben.

[...]


[1] Für genauere Informationen über die verschiedenen Fassungen und die Entstehung des Textes empfehle ich folgende Lektüre: Hoppler, Rudolf: Robert Musils Novelle „Die Amsel“Die Wiederentdeckung des Paradiesvogels. Zürich, Zentralstelle der Studentenschaft. S. 21-38.

[2] JUNG, C. G. : Psychologische Typen, S.477

[3] Robert Musil, Die Amsel, S. 134-135.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Zu: Robert Musil 'Die Amsel'
Untertitel
Azweis Flucht aus der Wirklichkeit: Versuch eines Individuationsprozesses
Veranstaltung
Krieg und Dichtung
Note
5.5
Autor
Jahr
2007
Seiten
18
Katalognummer
V112367
ISBN (eBook)
9783640119660
ISBN (Buch)
9783640119691
Dateigröße
449 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Robert, Musil, Amsel, Krieg, Dichtung
Arbeit zitieren
Séverine Gonin (Autor:in), 2007, Zu: Robert Musil 'Die Amsel', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112367

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Zu: Robert Musil 'Die Amsel'



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden