Am Abgrund. Jüdische Intellektuelle und die Krise der Moderne


Seminararbeit, 2006

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Schaffung einer neuen jüdischen Identität

3. Deutschtum und Judentum

4. „wir mußten uns auf unser Judentum besinnen“

5. „Schleier der Wünschbarkeiten“

6. Auf der Suche nach Erlösung

7. Der Geist des Schwertes

8. Bibliographie

1. Einleitung

Das Jahrzehnt der Weimarer Republik gilt kulturell als eine der fruchtbarsten Zeiten in der jüngeren Geschichte Europas. „Die Goldenen Zwanziger“ sind legendär – als Zeitenwende ebenso wie als letztes Aufblühen geistiger und künstlerischer Freiheit nach dem ersten Weltkrieg und vor dem Sturz in eine noch schlimmere Katastrophe, nach der für lange Zeit schon das Dichten nicht mehr möglich erscheinen mochte.

Doch gerade die Blüte der zwanziger Jahre trägt die Züge der Krise; einer Krise, die nicht erst durch den ersten Weltkrieg ausgelöst wurde und deren tiefere Gründe kaum objektiv festzumachen sind – denn sie ist nicht aus Not oder politischen Umwälzungen heraus geboren. Vielmehr steht hinter ihr ein Gefühl der Leere, der Inhaltslosigkeit der Umwelt; man könnte sagen, daß die konstatierte Krise buchstäblich „ästhetischer“ Natur war: der führende Repräsentant des Jugendstils und spätere Mitbegründer des Bauhauses Henry van de Velde schreibt um 1912 in einem Manifest: „Meine Generation hat zu Beginn ihres Mannesalters den Druck empfunden, unter Menschen von getrübter Intelligenz leben zu müssen […]. Wir empfinden noch heute mit Grauen, in einem Irrenhaus geweilt und der stumpfsinnigen Beschäftigung der Leute zugeschaut zu haben, deren Gehirn gelähmt war und die eigensinnig, wie nur Irre es sein können, darauf bestanden, auf allem, was ihnen unter die Finger kam, eine Fülle und Überfülle von Verzierungen, Blumen und nackten Frauen anzubringen.“[1]

Diese Krise zog sich durch alle Schichten der bürgerlichen Gesellschaft; besonders stark mußten sie jedoch junge Juden empfinden, denen trotz der erlangten rechtlichen Gleichstellung 1871 im Deutschen Reich der preußischen Kaiser überall die Entreebillets in die sogenannte „bessere“ Gesellschaft verwehrt blieben – sei es über eine Laufbahn als Reserveoffizier oder eine Karriere als Hochschullehrer[2] – und die sich um die Früchte jahrzehntelanger Assimilationsbemühungen betrogen fühlen mußten.

Van de Velde fordert als Konsequenz einen „erneuten Glauben“[3] – er meinte damit zwar keine Rückkehr zur Religion, dennoch zeigt er damit ein weiteres Mal die Schwierigkeit der Selbstidentifikation, der sich viele Menschen gegenübersahen. Diese Schwierigkeit besonders groß war für viele Juden, die sich zwischen den Welten befanden und oft mehr von den protestantischen Ideen und Werten der Umwelt geprägt waren als von eigener Religiosität.

Wie dieser „erneute Glaube“ für junge Juden in den Jahren um den ersten Weltkrieg aussehen konnte und wohin er sie führen konnte, will diese Arbeit zu zeigen versuchen.

2. Die Schaffung einer neuen jüdischen Identität

Die Anfänge einer explizit säkularen jüdischen Kultur liegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als in Berlin der kurzlebige „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ gegründet wurde. Auch wenn viele seiner Mitglieder konvertieren sollten – letztlich sollte der Verein nicht nur den Nachweis erbringen, daß die Juden auf kultureller Ebene mit den aufgeklärten abendländischen Völkern durchaus mithalten konnten und damit gleichwertig seien. Gerade die Arbeiten von Leopold Zunz setzten sich aktiv mit Vorurteilen nichtjüdischer Zeitgenossen auseinander und zielten auf die vollständige Emanzipation der deutschen Juden[4] – eine Arbeit, die die des CV vorwegnehmen sollte. Zugleich ging es auch um die Schaffung einer neuen eigenständigen Identität, eine „Definition des ‚Jüdischen’ […] in einer zunehmend säkularen Gesellschaft“[5]. Diese Aufgabe sollten die Vereine für jüdische Geschichte und Literatur (VJGL) übernehmen; eine Aufgabe, die allerdings auch eine gewisse Abkehr vom Judentum als Religionsgemeinschaft bedeutete – einer Abkehr, die eine kulturelle Aufsplitterung mit sich bringen sollte, ganz im Sinne des Wortes von Martin Buber, daß „die Kultur auch in der Gesellschaft nur den Einzelnen sucht.“[6]

Bezugspunkte dieser Kultur waren oft Männer, die Buber in starker Anlehnung an Nietzsche[7] als „Menschen der verfeinertsten Sinne und der zersetzbarsten Nerven, die dionysischen Lust- und Weh-Verknüpfer, die ’Fermenterreger der Menschheit’, die unbefriedigten, die Überfeinen und Überempfindlichen; die Künstler par excellence […], die Psychologen par excellence“[8] definiert.

Diese Beschreibung fällt nun vor allem durch eines ins Auge: durch ihre programmatische Offenheit. Wenn Buber vom „heroischen Menschen, der sich selber schafft und über sich selbst hinaus“[9] spricht, so verherrlicht er die individuelle Tat, die für sich selber steht und spricht. Wie diese Tat auszusehen hat, sagt er nicht. Auch damit steht Buber vollkommen im Kontext seiner Zeit. Martin Heidegger betont diese Konzentration auf die Tat, wenn er 1920 schreibt: „Ich will mindestens etwas anderes – das ist nicht viel: nämlich was ich in der heutigen faktischen Umsturzsituation lebend als ‚notwendig’ erfahre, ohne Seitenblick darauf, ob daraus eine ‚Kultur’ wird oder eine Beschleunigung des Untergangs.“[10]

Dieser Satz ist entlarvend, denn er zeigt, daß vor dem Hintergrund einer Renaissance des romantischen Idealismus eine Beliebigkeit von Kriterien steckt, deren Inhaltsleere zunächst nicht zu füllen ist, aber gleichwohl zu erbitterten Auseinandersetzungen führte. Nur so ist es zu erklären, daß die Suche nach einer „jüdischen“ Kunst in Ephraim Moses Lilien zu einer Synthese nahezu aller wichtigen künstlerischen und politischen Ausrichtungen seiner Zeit führt: um die jüdische Tradition mit der modernen Welt zu verknüpfen, wandte sich Lilien dezidiert jüdischen Themen zu und bediente sich in der Darstellung zeitgenössischen Stilrichtungen. Zugleich griff er aber auch die Ikonographie des Sozialismus auf – die aufgehende Sonne als auf Zion weisendes Symbol der Hoffnung ist ein immer wiederkehrendes Element seiner Bildsprache. Zugleich arbeitete er für sein Buch Juda mit dem Freiherrn Börries von Münchhausen zusammen, der schon damals ein Repräsentant völkischer Tendenzen in der Literatur war.

Die Tendenz der kulturellen Renaissance im Judentum um die Jahrhundertwende, sich stark am deutschen Umfeld zu orientieren liegt zum einen in der Natur der Sache: viele ihrer Protagonisten waren deutsche Juden, die sich zumindest auch als Deutsche empfanden; zugleich weist sie die Wiederbelebung jüdischer Kultur auch als ein assimilatorisches Projekt[11], aber auch als den Versuch einer Abwehr antisemitischer Stereotype zugrunde – denn während es unstrittig war, daß es eine „echt deutsche“ Kunst gab, wurde den Juden dies selbst von Gelehrten abgesprochen, die des Antisemitismus eigentlich unverdächtig sind; die Tatsache, daß es lange keine säkulare jüdische Kunst gegeben hatte, „bewies“ die Unterlegenheit der Juden[12] – bis hin zu der Behauptung, daß Juden generell nicht fähig seien, kulturschaffend zu wirken[13].

3. Deutschtum und Judentum

Dennoch läßt sich sagen, daß nach der 1871 erfolgten rechtlichen Emanzipation der Juden in weiten Teilen des deutschen Judentums das Bekenntnis zum Deutschen Reich vorherrschend war. Zwar kristallisierte sich eine eigenständige jüdische Kultur und Wissenschaftsszene heraus, aber sie war eben weitgehend säkular, am deutschen kulturellen Umfeld orientiert und hatte mit dem traditionellen Judentum so wenig zu tun, daß Brenner es als Element einer „Fragmentierung der deutschen Kultur“[14] insgesamt bezeichnet. Tatsache ist, daß die Renaissance jüdischer Kultur einen gewissen musealen Charakter hatte; denn „die jüdische Renaissance in Literatur, Kunst, Musik und Wissenschaft war keine Rückkehr zum traditionellen Judentum, sondern der Versuch, ausgewählte Aspekte dieser Tradition in den Rahmen einer modernen, säkularen Kultur einzupassen“[15]: Das bedeutete natürlich eine Trennung von den Grundlagen jüdischen Glaubens – man ging nicht mehr in die Synagoge oder legte Wert darauf, die jüdischen Glaubensgesetze einzuhalten, sondern beschäftigte sich eher auf einer intellektuellen Ebene mit der jüdischen Tradition: im Konzertsaal, in der Literatur oder im Theater.

So ist es nicht weiter verwunderlich, daß es eine starke Strömung im deutschen Judentum gab, deren „deutsche“ Identität mindestens ebenso stark ausgeprägt war wie ihre „jüdische“ – Avraham Barkai schreibt in seiner Darstellung über den CV: „für die Ideologen der Bewegung […] waren dabei ‚Deutschtum’ und ‚Judentum’ völlig gleichberechtigt Komponenten. Einzelne Sprecher konnten […] für die Unterordnung des Judentums plädieren.“[16] Und Walther Rathenau schreibt 1917: „Ich will den christlichen Staat, denn auf seinem Boden sind wir und mit uns die gesamte abendländische Welt der Gedanken und Gefühle erwachsen.“[17] Mit dieser Deutlichkeit mag Rathenau ein Einzelfall gewesen sein; doch zeigt die Stelle, wo viele Juden in diesen Jahren ihre geistige Heimat verorteten: in der abendländischen Kultur, die sie im deutschen Reich personifiziert sahen. Das mag mit der vergleichsweise erfolgreich verlaufenen Emanzipation zusammenhängen – doch das eigentlich attraktive Element für sie war die Philosophie des deutschen Idealismus. Hermann Cohen glorifiziert die Wirkung des „deutschen Humanismus und der deutschen Ethik auf das deutsche Judentum“[18] mit Worten, die an eine religiöse Lobpreisung erinnern: „Jetzt aber erstand ihnen [den Juden] der Messias im deutschen Geiste wieder. Der Völkerfrühling, den Herder heraufführte, gab ihnen ihr Eigenstes wieder, den Messias ihrer Propheten in der Humanität der Völker, in der Menschheit der deutschen Ethik.“[19]

[...]


[1] Van de Velde, Henry: Amo. Seite 8f.

[2] Vgl. Levy, Richard: The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany. Seite 11f. Über die Rolle des Militärdienstes im Deutschen Kaiserreich: Rothkrämer, Thomas: Der Militarismus der ‚kleinen Leute’. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1914. Seite 147ff. Der Aufstieg zum Reserveoffizier markierte auch die Ankunft im Bürgertum, Messerschmidt spricht von einem „Offizieradel“, der „in sich nicht eigentlich homogen, nur deutlich nach unten abgegrenzt“ gewesen sei und über den das „nationalliberale und neukonservative Bürgertum“ deinen „Klassencharakter“ definiert habe (siehe Messerschmidt, Manfred: Das preußisch-deutsche Offizierskorps 1850-1890. In: Hofmann, Hanns Hubert [Hrsg.]: Das deutsche Offizierkorps 1860-1960. Seite 37). Juden blieb diese Welt (mit Ausnahme Bayerns) prinzipiell verschlossen – daran ändert auch das Ausnahmebeispiel Walther Mossner nichts, der 1899 Generalleutnant wurde (vgl. Angress, Werner: Der jüdische Offizier 1813-1918. In: Breymayer, Ursula et al. [Hrsg.]: Willensmenschen. Über deutsche Offiziere. Seite 69)

[3] Van de Velde, Henry: Amo. Seite 11

[4] vgl. Brenner, Michael: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Seite 24f.

[5] Sieg, Ulrich: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Seite 35

[6] Buber, Martin: Kultur und Zivilisation. Einige Gedanken zu diesem Thema. In: Ders., Werkausgabe; Bd. I: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891 – 1924. Seite 158

[7] ganz allgemein an den Zarathustra; Buber zitiert in seinem eigenen Zarathustra -Aufsatz in diesem Zusammenhang aber auch Menschliches, Allzumenschliches II, KGW IV 3, Seite 243

[8] Buber, Martin: Zarathustra In: Ders., Werkausgabe; Bd. I: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891 – 1924. Seite 109f.

[9] Buber, Martin: Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte. In: Ders., Werkausgabe; Bd. I: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891 – 1924. Seite 150

[10] Zitiert nach: Löwith, Karl: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Seite 28

[11] ganz im Sinne Herzls, hinter dessen „Judenstaat“ auch ein Stück weit die Motivation steckt, den Europäern zu zeigen, daß die Juden eben doch genauso zivilisiert und „kulturfähig“ seien wie die Europäer selbst; denn sein Judenstaat baut nicht nur immer wieder auf europäischen Maximen auf – der Satz „wir haben die Toleranz in Europa gelernt“ (aus: Ders.: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Seite 93) zeigt diesen Bezug sehr deutlich –, Herzls „aristokratische Republik“ (ebd., Seite 92) idealisiert die europäischen Errungenschaften auch noch: „Jeder [wird] seine kleinen Gewohnheiten wiederfinden, nur besser, schöner, angenehmer“ (ebd., Seite 81)

[12] So schreibt der Sozialist Friedrich Muckle, für den gerade das Judentum Ausdruck „des Urphänomens, aus dem alles geschichtliche Leben herausflutet“ (Muckle, Friedrich: Der Geist der jüdischen Kultur und das Abendland. Seite 65) ist, daß „die Architektur, die Malerei, Bildnerei und Musik“ den Juden unzugänglich seien: „Auf diesen Gebieten blieb es dem jüdischen Volke versagt, Ursprüngliches zu leisten […] die Kraft des jüdischen Volkes versagte eben hier, wie es ja auch in späteren Jahrhunderten auf diesen Gebieten zurückblieb hinter den Leistungen anderer Völker“ (ebd., Seite 639)

[13] dazu Houston Steward Chamberlain: „Gerade diese Anlage nun […] mangelt den Juden in auffallendem Masse. […] Die Vernunft ist bei ihnen stark, der Wille enorm entwickelt, dagegen ist ihre Kraft der Phantasie und der Gestaltung eine eigentümlich beschränkte. Ihre spärlichen mythisch-religiösen Vorstellungen, ja, sogar ihre Gebote und Gebräuche und ihre Kultusvorschriften entlehnten sie ausnahmslos fremden Völkern, reduzierten alles auf ein Minimum und bewahrten es starr unverändert; das schöpferische Element, das eigentlich innere Leben fehlt hier fast gänzlich…“ (Aus: Ders.: Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. Seite 261). Adolf Hitler schreibt dann später: „Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude. […] Denn wenn auch der Selbsterhaltungstrieb des jüdischen Volkes nicht kleiner, sondern eher noch größer ist als der anderer Völker […] so fehlt doch vollständig die allerwesentlichste Voraussetzung für ein Kulturvolk, die idealistische Gesinnung.“ (Aus: Ders.: Mein Kampf. Seite 329f.)

[14] Brenner, Michael: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Seite 30

[15] Ebd., Seite 31

[16] Barkai, Avraham: „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893 – 1938. Seite 42

[17] Rathenau, Walter: Eine Streitschrift vom Glauben. Aus: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 5. Seite 118

[18] Cohen, Hermann: Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus. Seite 30f.

[19] Ebd., Seite 30

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Am Abgrund. Jüdische Intellektuelle und die Krise der Moderne
Hochschule
Universität Erfurt
Veranstaltung
Selbststudienmodul
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
21
Katalognummer
V92561
ISBN (eBook)
9783638064736
ISBN (Buch)
9783638951609
Dateigröße
470 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Abgrund, Jüdische, Intellektuelle, Krise, Moderne, Selbststudienmodul
Arbeit zitieren
Jan Schenkenberger (Autor:in), 2006, Am Abgrund. Jüdische Intellektuelle und die Krise der Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92561

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