Raumsemantik und Figurenkonstellation in Hermann Brochs "Die Schuldlosen"


Seminararbeit, 2006

30 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 Inhalte und Ziele der Arbeit

2 Präsentation des Textes

3 Figurenkonstellation und Raumsemantik
3.1 Der Held A
3.1.1 Aussehen und leibliche Abstammung
3.1.2 Von Holland nach Afrika und um die ganze Welt
3.1.3 Auf dem Weg zu einer neuen Heimat
3.1.4 Die Dreiecksbeziehung von Baronin W., Hildegard und Zerline
3.1.5 Melitta vs. Hildegard
3.1.6 Im Alten Jagdhaus
3.1.7 Besuch vom Großvater
3.2 Der Gegenheld Zacharias
3.2.1 Von A bis Z
3.2.2 Zacharias vs. Hildegard = Bürgertum vs. Adel
3.3. Konzeption von Mutter und Vater

4 Literaturgeschichtliche Einordnung von „Die Schuldlosen“

5 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1 Inhalte und Ziele der Arbeit

Im Rahmen dieser Hausarbeit wird der Text „Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen.“ von Hermann Broch bezüglich Figurenkonstellation und Raumsemantik untersucht. Zuerst wird ein Überblick über die äußere und innere Struktur des Textes gegeben. Anschließend wird der Held A. vorgestellt und sein Parcours durch die semantischen Räume nachgezeichnet. Die mit ihm korrespondierenden weiteren Figuren des Textes werden einbezogen und die Gruppenbildungen innerhalb der Figuren betrachtet. Speziell soll auch noch gezeigt werden, dass die Konzeption von Mutter und Vater im Werk eine zentrale Stellung einnimmt. Als Letztes wird ergründet, wie sich der Text literaturgeschichtlich einordnen lässt. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse schließt die Hausarbeit ab.

2 Präsentation des Textes

Der Text „Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen.“[1] umfasst eine Erzählzeit[2] von 281 Druckseiten. Wie der Untertitel bereits aussagt, besteht die Hauptmenge des Textes aus elf Erzählungen. Je zwei gehören zu den „Vor-„ bzw. „Nach-Geschichten“ und sieben zum Mittelteil „Die Geschichten“. Allem voran steht die „Parabel von der Stimme“ und zu Anfangs der „Geschichten“-Kapitel gibt es immer einen Abschnitt „Stimmen“ mit Zeitangaben, zwischen denen jeweils 10 Jahre liegen. „Die Vor-Geschichten“ liegen im Jahr 1913 chronologisch vor den „Geschichten“ aus 1923, diese wiederum vor den „Nach-Geschichten“, deren „Stimmen 1933“ als Handlungsjahr angeben. Die erzählte Zeit[3] des Hauptteils umfasst damit jedenfalls Ausschnitte der Jahre 1913, 1923 und 1933. Der damit dem Aufbau innewohnenden linearen zeitlichen Abfolge nach muss die Handlung der „Parabel von der Stimme“ noch VOR den „Vor-Geschichten“ liegen, ist aber trotzdem aus dem eigentlichen Erzählvorgang ausgeschlossen. Auch den „Stimmen“ kommt eine Sonderstellung zu, da sie den Abschnitt in einem bestimmten Jahr fixieren und durch ihr regelmäßiges Auftauchen den Text als Art Bindeglied zusammenhalten. Diese äußere Gliederung des Textes ist also gleichzeitig eine innere Gliederung für die erzählte Geschichte. Die Anordnung der Textteile (mit Angabe der Textseiten) hat zusammengefasst also folgendes Muster:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Äußere Struktur des Textes

Ein internes Muster lassen die elf Erzählungen erkennen. In der Mitte des Buches steht „VI. Eine leichte Enttäuschung“ und ist zugleich die Handlungsmitte. Die Erzählungen V. und VII. verweisen bereits von ihrer Betitelung her auf einen ähnlichen Inhalt. In „V. Die Erzählung der Magd Zerline“ erzählt Zerline dem A. tatsächlich in fast monologer Weise Dinge aus der Vergangenheit und in „VII. Die vier Reden des Studienrats Zacharias“ ist für Zacharias wie zuvor für Zerline der Ansprechpartner A. und wieder ergeht sich die Person aus dem Titel des Abschnitts in insgesamt vier langen Reden. Genauso verhält es sich bei „IV. Ballade vom Imker“ und „VIII. Ballade von der Kupplerin“. In ersterer Ballade wird die Geschichte des Imkers, des Großvaters von Melitta erzählt, bei letzterer wie die alte Zerline Melitta mit A. verkuppelt. Ein inhaltlicher Zusammenhang der beiden Balladen besteht also durch die Figur der Melitta. Dieses Prinzip wiederholt sich bei „III. Verlorener Sohn“ und „IX. Erkaufte Mutter“. Kommt zuerst A. mutterlos in einer Stadt an, hat er am Ende, als er aus der Stadt auszieht, sich durch den Erwerb eines Jagdhauses außerhalb der Stadt die Baronin als Mutter gewonnen. Der Kreis schließt sich sozusagen, aus den Titeln ließe sich sogar ein Satz ähnlich einer Schlagzeile in einer Zeitung bilden, wo dann über diese Geschehnisse der beiden Erzählungen berichtet wird: Verlorener Sohn erkauft sich Mutter. Alsdann aber erleidet die bisherige Kreisform der Komposition des Textes einen Bruch. Denn zwischen den Überschriften der Erzählungen I und XI kann man noch einen Bezug erkennen, nämlich der schwache Wind, der hinter beiden Vorgängen steckt, ein laues Lüftchen. Aber inhaltlich referiert „I. Mit schwacher Brise segeln“ mit „X. Steinerner Gast“. A. sieht 1913 – ohne zu wissen, dass es so geschehen wird – alles voraus, was 1933 geschehen wird, als ihn Melittas Großvaters heimsucht. Der Zusammenhang zwischen „II. Methodisch konstruiert“ und „XI. Vorüberziehende Wolke“ ist die Figur des Zacharias, die in beiden Erzählungen eine Rolle spielt. Dieser Bruch in der Kreisform des Aufbaus ist auch äußerlich kenntlich gemacht, durch die Abtrennung der „Vor-„ und „Nach-Geschichten“ von den „Geschichten“.[4] Die inhaltliche Präsentation des Textes entspricht also eher einer Pyramidenform wie im folgenden Modell vorgestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Pyramidenförmiger Aufbau der Erzählungen

Die exponierte Stellung der „Parabel von der Stimme“ sowie der „Stimmen“, die sich allein schon durch ihre lyrische Form vom Rest der Prosa des Textes unterscheiden, überragen die Erzählungen, „sie sprechen aus, was nicht erzählt wurde und nicht erzählt werden kann, und schließen die Situationstotalitäten der Novellen zu einer Zeit- und Lebenstotalität zusammen […].“[5] Der erste Vers nennt immer die Jahreszahl aus dem Titel in Worten und dann folgt der Teilsatz „warum mußt du’s dichten`?“ (DS 15, 47, 237) und schließlich ein Gedicht, das immer die historischen Geschehnisse im Hintergrund der Erzählungen zusammenfasst.

3 Figurenkonstellation und Raumsemantik

3.1 Der Held A.

3.1.1 Aussehen und leibliche Abstammung

Das äußere Erscheinungsbild des A. gibt der Text für das Jahr 1923 als „[b]lond, zarthäutig, zierlich fast, Kinn und Mund etwas zu schwächlich, dafür aber mit aufgewecktem Blick in den blauen Augen […]“ (DS 61) wieder. Außerdem trägt er einen schmalen, kurzgeschorenen Backenbart nach Biedermeierart (DS 61). 1933 hat er deutlich zugenommen, es zeigen sich rosa Flecken auf seinen Backen und er leidet unter stärker werdendem Haarausfall „[n]un nahe der Vierzigermitte […]“ (DS 245). Als er 1923 bei der Baronin einzieht gibt er sein Alter an mit „’Schon über dreißig, Frau Baronin.’“ (DS 61) und 1913 hat er die „[…] Zwanzig kaum überschritten […]“ (DS 20). A. ist folglich Anfang der 1890er Jahre geboren. Bereits beim Einsetzen der erzählten Zeit hat A. keine leiblichen Eltern mehr. Seine Mutter ist im Spital gestorben noch bevor die Ärzte eine Magenoperation hatten vornehmen können, die sie aber möglicherweise auch nicht überlebt hätte (DS 25). Das Todesdatum liegt ca. sechs Wochen vor dem Tag, als A. sich 1913 in einem Pariser Café aufhält. Da die Vater-Figur in diesem Text besetzt ist mit der Konnotation als Rächer, Prüfer, Richter und Henker – wie später noch zu zeigen sein wird – ist davon auszugehen, dass A. seinen Vater meint als er das Liebespaar im Pariser Café beruhigen will und sagt: „’Der kommt nicht. Herzschlag vor drei Jahren im Zug zwischen Amsterdam und Rotterdam.’“ (DS 24). Der Vater ist also 1910 an einem Herzinfarkt bei einer Zugfahrt verstorben. Zu Alter oder Name der Eltern gibt der Text keine Hinweise, genauso wenig finden die Vorfahren Erwähnung. Einzig an seine Großväter erinnert A. sich einmal entfernt (DS 257). Die Eltern von A. haben ihm in Holland ihre Erbschaft hinterlassen (DS 22), denn A. ist „’[…] holländischer Staatsbürger.’“ (DS 62), was beim Studienrat Zacharias die Reaktion „’Oh, ein Neutraler […]’“ (DS 146) hervorruft.

3.1.2 Von Holland nach Afrika und um die ganze Welt

Holland und Afrika sind im Text zwei oppositionelle Räume. Bis 1908 war A. nur in Holland gewesen. Er hatte dort eine höhere Schule besucht, da er befähigt gewesen wäre, die Abiturprüfungen abzulegen. Aufgrund Prüfungsangst nahm er daran aber nicht teil. Stattdessen siedelte er willentlich und aktiv nach Afrika über. Diese Tat entspricht allerdings nicht den Regularien im Raum Holland, da der Vater erbost über das Verhalten seines Sohnes gewesen war und ihm weiteren Unterhalt verwehrte (DS 95). Nach Holland zu kommen bedeutete für A. nach Hause zu kommen (DS 21), darf also mit Heimat gleichgesetzt werden. Den Gegensatz dazu stellt Afrika dar, das in weiter Ferne liegt (DS 62). Dort hatte er weder einen Vater noch eine Mutter, die beide im Raum Holland, dem sie zugeordnet sind, verblieben. Auch nach dem Tod des Vaters ist die Mutter nicht zu ihrem Sohn gekommen (DS 122), was für die Aufrechterhaltung der Grenze zwischen Holland und Afrika spricht und die besondere Verbindung von Heimat mit der Mutter betont. Als A. die Heimat verließ, behielt er das ihm eigene Charakteristikum bei, sich keinen Prüfungen unterziehen zu wollen und zieht deshalb, sobald er Rede und Antwort stehen muss, weiter (DS 95). Allerdings kommt eine neue Eigenschaft hinzu, die für Afrika typisch ist und die nun auf A. übergeht. Afrika bietet nämlich Gelegenheit zu vielerlei Geschäften. Denn ohne Geld im Kongo angekommen, leidet er fortan nicht mehr unter Geldmangel, kann Geld als Helfer in Gärten, Kellner oder Angestellter verdienen. Diesen Gegensatz zu Nicht-Kolonien macht der Text deutlich, wenn es heißt „[…] weil es jedes Mal, wie das in den Kolonien eben ist, Gelegenheit zu vielerlei Nebengeschäften gegeben hat, […]“ (DS 95). Diese Eigenschaft, Kolonie zu sein, ist dem Kongo sowie dem nächsten Land, in das A. reist, zuzuweisen: Südafrika. In diesem Fall existiert also für Südafrika und den Kongo ein gemeinsames semantisches Feld, nämlich Afrika, das im Text synonym zu Kolonie verwendet wird. Alle Örtlichkeiten in Afrika sind verknüpft mit Geld verdienen. Sätze wie „Also hast du’s doch kapiert, daß wir nach Südafrika fahren, Geld verdienen.“ (DS 25) sowie „Und schön wär’s gewesen, für sie sorgen zu können, da seine Einnahmen – da drunten in Südafrika – ständig sich mehrten.“ (DS 21) geben diese Bedeutung von Südafrika wieder. Gleiches gilt für Orte innerhalb Südafrikas. Sowohl in Kapstadt als auch in Kimberley hat sich sein Vermögen vermehrt. Da es in Südafrika tatsächlich zwei Städte dieses Namens gibt, ist anzunehmen, der Text referiert hierauf, ohne sie explizit als „südafrikanische Stadt“ auszuzeichnen. Besonders Kimberley, wo er Teilhaber eines Diamantensyndikats war (DS 95), schlägt A. vor als Ziel um Geld zu machen (DS 22). Dorthin ist A. gegangen, nachdem der Vater bereits gestorben war. Denn er hatte geplant gehabt, seine „[…] Mutter zu sich nach Kapstadt [zu] nehmen […]“ (DS 122), ihr dort ein Haus zu bauen und sie zur Großmutter zu machen, aus diesen Plänen ist aber nichts geworden (DS 122). Die Bewegungen des A. innerhalb des Raums Afrika haben sich alle aus seiner Eigenschaft der Schicksalsgläubigkeit heraus ergeben, nach der Landung in Afrika hatte er auch diese Eigenart übernommen. Tatsächlich ist dies ein unterscheidendes Merkmal zwischen Holland und Afrika. In Holland fähig sich zur Überfahrt nach Afrika zu entschließen gegen den Willen des Vaters, kommt er in Afrika entscheidungsschüchtern an, wird schicksalsgläubig und willenlos (DS 95).

Wie die Überfahrt, also mit welchem (oder welchen) Verkehrsmittel(n) bewerkstelligt wurde, lässt der Text aus. Aber die Fahrt war möglich gewesen, eine Rückfahrt allerdings unmöglich bis sich die Merkmale von Holland denen von Afrika anpassten. Als nämlich nach dem Vater auch noch die Mutter verstorben war und A. „heimfuhr“ ist das Hauptunterscheidungs­kriterium Holland = Mutter, Afrika = keine Mutter weggefallen, weil es in Holland jetzt auch keine Mutter mehr gab. Die Grenze ist also nicht mehr existent. A. hat keine Mutter und damit keine Heimat mehr, es gibt für ihn nur noch Ferne. Eine Herstellung des früheren Zustandes ist unmöglich und daher ist auch ausgeschlossen, dass er in seinen ursprünglichen Ausgangsraum zurückkehren kann. Als er nach dem Tod der Mutter nach Amsterdam fährt bleibt er auch tatsächlich nicht dort, fährt weiter nach Paris (DS 21) und in den nächsten zehn Jahren bereist er alle Kontinente. Er kehrt aber jedes Mal in seinen neuen Ausgangsraum, den ehemaligen Gegenraum Afrika, zurück und bringt jedes Mal mehr Geld mit, das er an den Börsen auf der ganzen Welt verdient hat (DS 121). Alle Ereignisse, die in diese Zeit fallen, bleiben ohne Folgen. Einzige Veränderung ist die Vermehrung des Vermögens von A., das entspricht der Beschreibung des Beuteholens von Lotman[6]. Aber schließlich verschlägt es A. 1923 in eine Stadt, die ohne Namen bleibt im Text und hier gelangt A. an einen Wendepunkt.

3.1.3 Auf dem Weg zu einer neuen Heimat

A. kommt in die namenlose Stadt mit dem Zug. Das wird zwar nicht explizit vom Text so gesagt, aber er gibt am Bahnhof „[…] seine Koffer in der Gepäckbewahrung ab […]“ (DS 50) und ist „[…] von der Fahrt ein wenig benommen […]“ (DS 50). Hier warten zu bestimmten Zeiten Bedienstete der Hotels um die ankommenden Personen zu empfangen und in hoteleigenen Omnibussen, zwei sind blau und einer braun, zum jeweiligen Hotel zu bringen (DS 50). Diese schrecken A. jedoch ab (DS 51). Als er den Platz vor dem Bahnhof betritt, verliert er, nachdem er festgestellt hat, dass es 17.11 Uhr ist – laut Text „[…] Fünf vorbei, Grenzscheide zwischen Nachmittag und Abend.“ (DS 51) – die Lust zu erfahren, was hinter dem Bahnhofsplatz liegt. Er hat „[…] mit einem Male den starken Wunsch, zu jenen Einwohnern zu zählen.“ (DS 51). Auf A. hat der Platz die Wirkung, als würden die Züge nur für die Bewohner dieses Platzes am Bahnhof stehen bleiben und abfahren. „Alles andere mußte mit Omnibussen weiterbefördert werden.“ (DS 51). A. hat sich gegen einen Aufenthalt in einem Hotel entschieden und damit auch gegen die Beförderung in einem Bus. Außerdem ist er mit dem Zug hier angekommen und wenn der nur für die Einwohner am Platz hält, sollte er zu jenen zählen. Der Text selbst setzt diesen Platz als erwecke er „[…] den Eindruck eines zwar kühlen, dennoch festlichen Vorraums, der Prächtigeres erwarten ließ.“ (DS 50). Als Art Vor- oder Zwischenraum ist dieser Platz in der Struktur des Textes auch zu werten. Gehört der Bahnhof zu den Räumen, die A. seit dem Verlust der Heimat immer ohne Folgen betreten und wieder verlassen hatte, so hat das Betreten des Vorplatzes aber zu einem Umdenken in A. geführt. Zwischen dem Platz und dem Bahnhof trennt der Text strikt. Zum Platz gehören nur Bauten, durch deren Fenster man zum Platz blicken kann. Beim Gasthof im Bahnhof ist das beispielsweise nicht der Fall, da dessen Fenster und Eingangstür auf der Gleisseite des Bahnhofs liegen (DS 51). Auf dem Bahnhof gibt es außerdem ein festes Personal, das diesen nicht verlassen darf, nämlich die Träger (DS 77). Ein Dienstmann allerdings darf das Gepäck von A. zumindest über den Vorplatz tragen, aber ab der Wohnungstüre übernimmt Zerline als Hausmädchen die Aufgabe der Hinaufbeförderung der Gepäckstücke (DS 79). Hier werden zwei Grenzen sichtbar. Zum Ersten ist es nicht jedem möglich, den Platz zu betreten und zum Zweiten ist es erst recht verwehrt, die Wohnung der Baronin zu betreten. Der Platz nimmt also hier eine Zwischenstellung ein. Die Form des Platzes vor dem Bahnhof ist die eines lang gezogenen, gleichschenkligen Dreieckes, dessen Grundlänge der Bahnhof ist. Die Spitze des Dreiecks zeigt zur Stadt hin (DS 50). Dort beginnt eine der Hauptstraßen, die in die Stadt führen (DS 50, 52). Über den dort am Stadteingang stehenden Häusern sieht man nachts eine rote Lichtreklame leuchten (DS 75). Jedenfalls zeigt sich hier ein weiterer Aspekt der Funktion des Vorplatzes als Zwischenraum, der die Menschen von der Stadt trennt und deshalb nicht zur eigentlichen Stadt gehört, jedoch mit der erhöhten Reklame an der Spitze des Dreiecks auf diese in zweifacher Weise verweist. Die Mitte des Platzes bildet eine Gartenanlage deren Rasen tiefer liegt als der Rest des Platzes, weshalb der Garten wie ein grüner Teich wirkt. Durch die Gartenanlage führen 2 Fußwege in symmetrischer S-Form (DS 51) von den Eckpunkten der Basis zur Spitze des Dreiecks (DS 52). Am Kreuzungspunkt der Wege steht ein Kiosk auf dem sich eine dreiseitige Uhr mit Minuten- und Stundenzeiger befindet, so dass die Uhrzeit von jeder Straße des Platzes aus abgelesen werden kann (DS 51). Der Kiosk ist der Ort, an dem die Leute aus der Nachbarschaft illustrierte Zeitung kaufen, u.a. auch„[…] Exemplar[e] des in dieser Stadt erscheinenden Kreisblattes.“ (DS 53), was den Kiosk zu einem zentralen Treffpunkt für die Bewohner des Platzes macht, da sich der Kiosk genau in der Mitte der Anlage befindet (DS 76). Diese Einschränkung, dass sich nur die Anwohner hier ihre Zeitungen besorgen, zeugt von einer Raumbindung der hier lebenden Personen. Tagsüber arbeitet eine junge Frau als Verkäuferin in dem Kiosk (DS 53). Diese befragt A. nachdem er als Lösung aus seiner Misere – wie oben erläutert, hatte er auf die Einquartierung in einem Hotel verzichtet und hatte aber auch keine Lust mehr, die Stadt zu erkunden – die Anmietung eines Zimmers in einem der Häuser an Platz gefunden hat und trotz systematischer Suche am ganzen Platz keinen Hinweis auf vermietbare Räume gefunden hat. Von der Kioskverkäuferin erhält er schließlich den Tipp bei der Baronin W. anzufragen. Hier befindet A. sich an seinem Wendepunkt nach Renner[7]. Genau in der Mitte dieses Platzes stehend, in der Mitte eines gleichschenkligen Dreiecks, am Schnittpunkt zweier punktsymmetrischer Wege, die durch das Dreieck führen, unter einer Uhr, die ihm die Zeit 17.11 Uhr angesichtig hatte werden lassen, zeigt die Hand des Mädchens auf das Haus in dem die Baronin wohnt. Es liegt auf der Ostseite und unterscheidet sich bereits äußerlich von den anderen Gebäuden am Platz, da es wie nur wenige andere mit einem Balkon über der Haustüre versehen ist, als besondere Auszeichnung aber sind am unteren Ende seines Eisengeländers rote Pelargonien angebracht (DS 52f.). Die Erbauung des gesamten Platzes ist zwischen 1850 und 1860 vor sich gegangen als auch die Bahn gebaut wurde (DS 50). Dem Platz werden

[...]


[1] Im Folgenden zitiert als DS; zitiert wird aus der Kommentierten Werkausgabe, Band 5, Hrsg. von Paul Michael Lützeler (1994).

[2] „Unter Erzählzeit hat man sich die Zeit vorzustellen, die ein Erzähler für das Erzählen seiner Geschichte benötigt und die sich im Fall eines Erzähltextes, der keine konkreten Angaben über die Dauer des Erzählens enthält, einfach nach dem Seitenumfang der Erzählung bemisst.“ Martinez/Scheffel (2003), 31.

[3] „Die erzählte Zeit meint […] die Dauer der erzählten Geschichte.“ Martinez/Scheffel (2003), 31.

[4] Zur Anordnung der Textteile vgl. auch Petermann (1989), 33ff.

[5] Doppler (1971), 142.

[6] Vgl. Lotman (1972), S. 339.

[7] Vgl. Renner (2004), 375f.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Raumsemantik und Figurenkonstellation in Hermann Brochs "Die Schuldlosen"
Hochschule
Universität Passau
Veranstaltung
Proseminar Erzähltexte der 50er Jahre
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
30
Katalognummer
V91641
ISBN (eBook)
9783638051996
ISBN (Buch)
9783638944847
Dateigröße
593 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Raumsemantik, Figurenkonstellation, Schuldlosen, Broch, Erzähltext, 1950er Jahre, Nachkriegsliteratur, Roman, Schlafwandler, Dreieck
Arbeit zitieren
Tanja Wagner (Autor:in), 2006, Raumsemantik und Figurenkonstellation in Hermann Brochs "Die Schuldlosen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91641

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