Nietzsches Sprachphilosophie, Hermeneutik und Dekonstruktion


Magisterarbeit, 2006

97 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Der einleitende Text

1. Der lügende Text (Nietzsche)
1.1 Unsere fabelhafte Welt
1.2 Getriebenes Bewusstsein
1.3 Begreifliche Nerven
1.4 Begriffene Metaphern
1.5 Begreifende Wahrheit
1.6 Schützende Abstraktion
1.7 Perspektivische Perzeptionen
1.8 Getriebene Begriffe
1.9 Nietzsches Sprache
1.10 Literaturtheorie ‚über Wahrheit und Lüge’
1.11 Im Dialog (mit Gadamer)

2. Der wahre Text (Gadamer)
2.1 Transzendierter Sinn
2.2 Abgelöster Vollzug
2.3 Der herme(neu)tische Zirkel
2.4 Fließender Schluss
2.5 Wirkende Horizonte
2.6 Der hermeneutische Text
2.7 Gewalttätige Einheit

3. Der ambivalente Text (de Man)
3.1 Theoretische Praxis
3.2 Fragliche Rhetorik
3.3 Praktizierte Predigt
3.4 Rhetorische Einheit
3.5 Konflikt der Generationen
3.6 Gespiegelter Spiegel
3.7 Sprache an sich (?)
3.8 Paradoxe Katharsis
3.9 Diskursive Logik

4. Der schließende Text
4.1 Traditionslose Literatur
4.2 Literarische Wissenschaft
4.3 Sinnliche Struktur
4.4 Paradoxer Zirkel

5. Literaturliste

0. Der einleitende Text

„Language is a virus from outer space.”

(William S. Burroughs)

Die folgende Arbeit handelt über Nietzsches Sprachphilosophie, Hermeneutik und Dekon-struktion. Dies wäre aber ein zu umfassendes Thema für eine Magisterarbeit. Auch sind die Begriffe zu allgemein gehalten, als dass man sich, ohne nähere Erläuterung, etwas Genaueres darunter vorstellen könnte. Da ich nur von Nietzsches Sprachphilosophie sprechen werde, enge ich das Thema der Hermeneutik auf Gadamers Hermeneutik und die Dekonstruktion auf de Mans Dekonstruktion ein. Des Weiteren werde ich nur jeweils einem Text der drei Autoren meine hauptsächliche Beachtung zukommen lassen. Bei Nietzsche ist dies der Text „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, bei Gadamer widme ich mich einigen Kapiteln aus „Wahrheit und Methode“, bei de Man ist es der Text „Allegorien des Lesens“.

Somit ist auch gesagt, dass es nicht um Hermeneutik, Dekonstruktion und Sprachphilosophie im Allgemeinen geht, sondern um die ausgewählten Texte, die man im Allgemeinen aber den jeweiligen Richtungen zuordnen wird. Hier besteht aber auch schon ein Problem, das in der Arbeit (besonders im ersten Kapitel über Nietzsche) behandelt werden wird. Es geht um die abstrakten, verallgemeinernden Begriffe, die am Individuellen entstanden sind, es durch ihre Verallgemeinerung aber wieder ausklammern.[1] Bei der Dekonstruktion wird dies am deutlichsten, da ihr ausgewählter Vertreter Paul de Man explizit sagt, dass er kein einheitliches Theoriegebäude aufbauen will.[2] Dennoch sind Verallgemeinerungen (bei der Lektüre von Nietzsches Text werden wir vielleicht merken, dass Verallgemeinerungen schon verallgemeinerte Verallgemeinerungen sind) notwendige Arbeitshypothesen, Hypostasierungen, ohne die keine Kommunikation möglich wäre. Sie entstehen, wie auch jeder Begriff, „durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.“ (KGW 3;2: 374) Durch solch eine begriffene Begrifflichkeit entsteht so manches Paradox der Selbstrelativierung, welches besonders bei Nietzsche und de Man, aber auch bei Gadamer auftreten wird.

Das erste Kapitel wird „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ behandeln. Ich stelle Nietzsches Gedanken über Funktion und Wahrheit von Sprache und Erkenntnis dar. Seine Gedanken bilden die sprachliche Erkenntnis des Menschen heraus. Am Schluss des zu behandelnden Textes wird selbst ein Gegensatz von Vernunft und Kunst, also Wissenschaft und Literatur aufgestellt.[3] Dieser wird das Thema der Arbeit von erkenntnistheoretischer Sprachphilosophie zur Literaturwissenschaft überleiten. So werde ich am Schluss des Kapitels eine mögliche Literaturwissenschaft im Sinne Nietzsches aufstellen, die die folgenden zwei Kapitel über Gadamers Hermeneutik und de Mans Dekonstruktion konstruktiv vorbereiten soll.

Gadamers (philosophische) Hermeneutik ist das Thema des zweiten Kapitels. Obwohl es sich bei seiner philosophischen Hermeneutik um Verstehen im Allgemeinen handelt, da es „keinen Standort außerhalb der sprachlichen Welterfahrung“ (WM I: 456) gibt, nimmt nun das Verstehen „seine eigentliche Wendung ins Hermeneutische, wo es sich um das Verstehen von Texten handelt.“ (WM I: 389) Das resultierende (hermeneutische) Problem lässt sich dann mit Nietzsches festsetzenden, angleichenden Begriffen erklären, die im hermeneutischen Dialog wieder zu (gemeinsamen) Sinn erweckt werden müssen. Besondere Aufmerksamkeit gilt schließlich der Auslegung von literarischen Texten.[4] Dort wird der Gebrauch des hermeneutischen Zirkels und der wirkungsgeschichtlichen Horizontverschmelzung noch einmal explizit auf Literatur bezogen. Es werden auch immer wieder Bezüge zu ‚über Wahrheit und Lüge’ hergestellt werden. Diese erscheinen im Text sinnvoller und verständlicher, als sie komplett an den Schluss zu verlegen.

Die Dekonstruktion von de Man ist das Thema des dritten Kapitels. Die Bezüge zur Hermeneutik stellt er selbst immer wieder in seinen „Allegorien des Lesens“ her. Auch zu Nietzsche gibt es drei Kapitel in diesem Buch, die ich jedoch nicht behandeln werde, ‚denn wir können nicht a priori sicher sein, zu dem, was auch immer [de Man] über [Nietzsche] zu sagen hat, ausgerechnet dadurch Zugang zu erhalten, dass wir eine Szene, die von [Nietzsche] handelt, lesen.’[5] Diese Bezüge erscheinen in der (unbewussten) ‚Praxis’ der „Allegorien des Lesens“ viel deutlicher. So wird dieses dritte Kapitel meiner Arbeit, durch die vermehrten Bezüge zu Gadamer und Nietzsche, das schließende Kapitel schon vorbereiten.

In diesem versuche ich noch einmal, die in der Arbeit entfalteten Erkenntnisse knapp zusammenzustellen, ohne jedoch allzu wiederholend zu wirken. Besondere Aufmerksamkeit widme ich dann im schließenden Abschnitt des Kapitels dem Paradox und der Tautologie. Beide tauchen in allen drei behandelten Texten mehr oder weniger offensichtlich auf, und können als zentral für deren Argumentation angesehen werden.

1. Der lügende Text (Nietzsche)

(Nietzsche)

Schon die Überschrift des im Folgenden behandelten Textes: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“[6] sagt uns, worüber dieses Kapitel handeln soll. Es geht hauptsächlich um Wahrheit, Lüge, ihre moralischen Verpflichtungen und um die Struktur von Sprache. Am Schluss dieses Kapitel werde ich fragen, wie diese sehr sprachphilosophischen Betrachtungen Nietzsches auf die Literaturwissenschaft angewandt werden können. Hilfreich dabei ist, dass der behandelte Text auch einige Ansichten über Kunst und (sprachliche) Künstler, also auch über Literatur und Literaten zur Schau stellt. Des Weiteren ist er selbst in einem >literarischen< Stil verfasst, kann sozusagen als seine Selbstreflexion und damit auch als Reflexion der Literatur gelesen werden.

1.1 Unsere fabelhafte Welt

Der Text von Nietzsche fängt mit einer kleinen Geschichte an, die den Menschen mit wissenschaftlicher (kosmologischer) Erkenntnis entwertet. Als Kopernikanische Wende gilt verkürzt gesagt die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei, welcher eine „Entthronung des Menschen als Herrn der Schöpfung“ (NEUis: 546) folgte. Die Erde ist nur ein zufälliges Gestirn, „in irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls“ (KGW 3;2: 369). Auf dieser Erde leben nun die Menschen, welche aber seit Darwin nicht mehr, als weiterentwickelte, mit Vernunft begabte Affen, also „kluge Thiere“ (KGW 3;2: 369) sind. Dieses >hochmütige< Leben der Menschen ist nun auch begrenzt. Es ist geradezu nichtig, im Vergleich mit der überwältigenden ‚Weltgeschichte’, dem Weltalter. „Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war“ (KGW 3;2: 369). Er ist unmächtig, sich gegen die Möglichkeit zu wehren, dass „nach wenigen Athemzügen der Natur […] das Gestirn“ (KGW 3;2: 369) erstarrt, und mit ihm er selbst vergeht. Das alles macht den Menschen zu einer kläglichen Figur. Es könnte jemand aus diesen Erkenntnissen eine „Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt“ (KGW 3;2: 369).

Nietzsches kurzer Entwurf einer ‚Fabel’ ist in der Tat sehr literarisch verfasst, nicht dem Stil einer wissenschaftlichen, philosophischen Analyse angemessen. Auch die Wertung, die mit diesen Erkenntnissen des Menschen über den Menschen betrieben wird, ist nicht gerade wissenschaftlich. Andererseits ist es bemerkenswert, dass Nietzsche die Geschichte eine Fabel nennt. Fabeln sind im Allgemeinen Tiergeschichten mit einer >und-was-ist-die-Moral-von-der-Geschicht<-Moral am Schluss. Es geht in ihnen also weniger um (wissenschaftliche) Wahrheit, als um Moral. Komisch ist dabei, dass gerade die Vernunft, die traditionell den Menschen vom Tiere trennt und über es erhebt, zur Erkenntnis führte, dass der Mensch nichts weiter als ein hoch entwickelter Affe sei. Die (wissenschaftliche) Geschichte des Menschen handelt also von Tieren, ist somit eine Fabel, von fabelhaften Wesen verfasst. Die Welt ist dann etwas, „das erzählt wird, ein erzähltes Ereignis und folglich eine Interpretation: die Religion, die Kunst, die Wissenschaft, die Geschichte – ebenso viele verschiedene Interpretationen der Welt, oder besser: ebenso viele Varianten der Fabel.“ (P. Klossowski in HAMnf: 32)

Hier zeigt sich ein Paradox, das im ganzen Text von Nietzsche zu finden ist. Einerseits benutzt er Wahrheiten, um andere Wahrheit zu entwerten. Meistens sind es wissenschaftliche Erkenntnisse, die moralische, traditionelle Werte kritisierten. Andererseits sind für ihn diese wissenschaftlichen Erkenntnisse auch nichts weiter als (moralische) Fabeln.[7] Ihre Wahrheit hält sich also auch in Grenzen, entspricht nicht dem wissenschaftlichen Ideal, objektive Wahr-heiten zu finden.[8] So ist „gleich mit den ersten Worten […] der sinnlogische Ort der nachfolgenden Ausführungen demonstriert.“ (FIEmp: 186) Auch diese wollen also nicht allzu viel Wahrheit (an sich) beanspruchen.

Genauer betrachtet kritisiert Nietzsche nicht den Menschen (an sich), sondern nur den menschlichen Intellekt. „Es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten.“ (KGW 3;2: 369) Es wird also auch nicht der Intellekt (an sich) kritisiert, sondern „jener mit dem Erkennen und Empfinden verbundene Hochmuth“ der ihn „über den Werth des Daseins“ (KGW 3;2: 370) täuscht. Gemeint ist die hochmütige Meinung, der Mensch, sein Intellekt, wäre fähig, Wahrheiten zu finden, die über den Menschen hinaus Gültigkeit besäßen. Wahrheiten für den Menschen, Wahrheiten, die für den Menschen gültig sind, müssten demnach aber möglich sein. Die beschränkte Gültigkeit der menschlichen Wahrheit hat dann zwar auch nur beschränkte Gültigkeit, was aber innerhalb der menschlichen Gesellschaft nicht weiter schlimm ist.[9]

Schwieriger wird es bei der Betrachtung der Fabel. Fabeln wird im Allgemeinen eher kein naturwissenschaftlich erkenntnistheoretischer Wert zugeschrieben. Nietzsche scheint den Be-griff auch >rhetorisch<, eben als Gegensatz zu jener Form der Erkenntnis zu gebrauchen. Was ist aber nun mit der menschlichen Erkenntnis gesagt, die ihn, seinen Intellekt ins Unbedeutende der Weltgeschichte degradiert? Die unbedeutende Weltgeschichte ist selbst nur Fabel, menschlich, Sprache. Der klägliche ‚menschliche Intellekt innerhalb der Natur’ ist auch nur Fabel. Wir scheinen gefangen in „den Gefängnisswänden dieses Glaubens“ (KGW 3;2: 377). Es ist ein Glaube, denn es ist nur menschliche Erkenntnis. Problematisch ist, dass diese Begriffe, so gebraucht, doch irgendeine Relation beanspruchen, auf welche sie dann relativ sein können. Die menschliche Erkenntnis der menschlichen Erkenntnis ist selbst nur menschliche Erkenntnis. Wenn es nichts weiter gibt, bleibt sie dann nicht doch Erkenntnis?

Um zu versuchen, diese noch sehr verworrenen Gedanken etwas zu entwirren, werde ich nun weiter lesen, was uns Nietzsche noch zu sagen hat. Interessant wäre wohl, eine genauere Vorstellung von Nietzsches Vorstellung von Erkenntnis, Vernunft, Wissenschaft, Kunst, Wahrheit und Lüge zu gewinnen.

1.2 Getriebenes Bewusstsein

„Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung“ (KGW 3;2: 370). Als schwächstes Tier hat der Mensch keine anderen Mittel, sich gegen kräftigere Artgenossen zu schützen, als sie zu täuschen. Dies tun die Menschen dann auch untereinander, in einem fortwährenden „Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit“ (KGW 3;2: 370). Bei all dieser Lüge ist „fast nichts unbegreiflicher […], als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.“ (KGW 3;2: 370) Gemeint ist der „Begriff der Wahrheit im traditionellen Sinne“ (MÜLni: 100), als der „adäquate Ausdruck aller Realitäten“ (KGW 3;2: 372), die „ontische Adäquation zwischen dem Begriff und der Sache.“ (V. Gerhardt in SIMn1: 10) Dies wäre also eine Erkenntnis der >Dinge an sich<, die nicht nur ihre „Relationen […] zu den Menschen“ (KGW 3;2: 373) begreifen würde.[10] Der Mensch ist aber „in Illusionen und Traumbilder“ (KGW 3;2: 370) gefangen. Er empfängt nur Reize von „der Oberfläche der Dinge“ (KGW 3;2: 370), die nicht in die Wahrheit (an sich) führen. Selbst über sich selbst verschweigt ihm „die Natur […] das Allermeiste“ (KGW 3;2: 371). Sein „stolzes gauklerisches Bewusstsein“ (KGW 3;2: 371) (ver)mag in seiner Gleichgültigkeit nicht zu erkennen, dass es auf „dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen“ (KGW 3;2: 371) unbeherrscht wilden >Es< ruht. Um so mehr ist also nach dem Ursprung des Triebs zur Wahrheit zu fragen.

Auch in diesen Bemerkungen, die Feststellungen Nietzsches mitteilen[11], gibt es wieder eine bemerkenswerte Erkenntnis von der beschränkten Erkenntnis. Sie ist kein Wert an sich mehr, sondern erhält praktischen Wert im Überlebenskampf. So will sie also nicht mehr „die reine folgenlose Wahrheit“ (KGW 3;2: 373) finden, sondern ist nur daran interessiert, Macht auszuüben, kontrollieren zu können. So müsste auch Nietzsches Erkenntnis erst einmal praktischen Wert haben, und keine ‚reine folgenlose’ Erkenntnis an sich sein, auch wenn sie durch ihren überredenden Pathos uns als solche zu erscheinen gewillt ist. Fraglich ist, wie bei all dieser beschränkten Erkenntnis trotzdem vom ‚mörderischen’, wilden Grund des Menschen die Rede sein kann. Kontextueller Folgerichtigkeit entsprechend, ist dieser wichtig, denn irgendetwas Ungeheueres muss da sein, gegen das mangelnde Erkenntnis besteht. Ohne dieses Unbegriffene, Verleugnete wäre es unsinnig von genau ihrer Verleugnung zu sprechen. Das Reden von diesem Ungeheuer des Menschen, das er selbst verleugnet, setzt also diese volle, adäquate Erkenntnis voraus. Diese Voraussetzung des nicht Definierbaren wird im Laufe des Textes noch häufiger auftreten.

„Der erste Schritt zur Erlangung jenes räthselhaften Wahrheitstriebes“ (KGW 3;2: 371) hängt nun mit dem „Friedensschluss“ des Menschen zusammen, der aus „Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will“ (KGW 3;2: 371). Der Urzustand des ‚mörderischen’ Menschen scheint „das allergröbste bellum omnium contra omnes“ (KGW 3;2: 371) gewesen zu sein. Wahrheit wird nun durch eine „gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden“ (KGW 3;2: 371). Genauer gesagt entsteht sie durch den Kontrast zum Lügner. Dieser „missbraucht die festen Conventionen durch beliebige Vertauschung oder gar Umkehrung der Namen.“ (KGW 3;2: 371-372) Wahrheit ist also Gesetz, ist Konvention. Sie ist nicht rein, sondern traditionell richtiger Gebrauch von Sprache. Sie ist erfunden, zum Zwecke des Friedensschlusses der stärkenden Gemeinschaft. Die Menschen waren ihre individuellen Schwächen leid, und wollten durch die konventionelle Gesellschaft stärker werden. Der ‚Trieb zur Wahrheit’ ist also der ‚Wille zur Macht’, gesellschaftlicher Schutz vor der Schwäche, der Trieb zur „Abwehr des Uebels“ (KGW 3;2: 383). Der Mensch „begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit“ (KGW 3;2: 372).[12] Auch die Lüge wird mehr im praktischen, nützlichen Sinne verurteilt. „Die Menschen fliehen dabei das Betrogenwerden nicht so sehr, als das Beschädigtwerden durch Betrug.“ (KGW 3;2: 372) So gäbe es auch keine ‚reine, folgenlose’ Lüge? Das ‚Beschädigtwerden’ flieht der Mensch auch bei der Wahrheit. Bei die friedliche Gemeinschaft, das ‚Gefängnis des Glaubens’ „zerstörenden Wahrheiten“ (KGW 3;2: 372), wie denen in der anfangs dargestellten Fabel, wird er „sogar feindlich gestimmt.“ (KGW 3;2: 372)[13] So gesehen ist „der adäquate Ausdruck aller Realitäten“ (KGW 3;2: 372) nicht der Grund der sprachlichen Wahrheits(er)findung. Ist dieser Anspruch trotzdem zu vertreten? „Ist mit der […] lebenserleichternden Funktion von Wahrheiten nicht der Ansatzpunkt wenigstens für eine mögliche Übereinstimmung der menschlichen Fest-stellungen gegeben?“ (MÜLni: 101)

1.3 Begreifliche Nerven

„Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen: er besitze eine Wahrheit in dem eben bezeichneten Grade.“ (KGW 3;2: 372) Wenn Wahrheit sprachlich ist, und Sprache durch Begriffe zusammengesetzt ist, dann ist erst einmal danach zu fragen, wie Begriffe entstehen. Dabei ist jedoch vergessen worden, dass Sprache nicht einfach die Summe zusammenhangloser Begriffe ist, sondern mehr als die Summe ihrer einzelnen Teile ist. Es gibt noch grammatikalische Regeln, Syntax, Logik, kontextuelle Folgerichtigkeit.[14] Da all diese Phänomene aber sprachlich verfasst sind und sich unser gesamtes Wirklichkeitskonzept hauptsächlich auf die Unterscheidung einzelner Dinge stützt (sehr vereinfacht gesehen), scheint die ursächliche Betrachtung von Begriffen der objektivste, reinste Weg zu sein. Dabei ist aber schon eine bestimmte Perspektive, eine bestimmte Interpretation der Sprache vorausgesetzt.

Ein Begriff entsteht durch zwei Metaphorisierungsprozesse. Nietzsche versteht Metapher hier aber eher im wörtlichen Sinne (welch Paradox), also als Übertragung von etwas ‚anderswohin’.[15] „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“ (KGW 3;2: 373) Wieder arbeitet Nietzsche mit wissenschaftlicher (physiologischer) Erkenntnis, die ihren Ausdruck in Sprache findet, um die Beschränktheit dieser Erkenntnis selbst zu begreifen. Die Ursache eines Begriffes ist also erst mal ein Nervenreiz, der ein Bild verursacht, das sich dann als metaphorischer Laut auswirkt. Der Nervenreiz, selbst Begriff, ist demnach auch die Wirkung zweier Ursachen, zweier Metaphern, bezeichnet also nichts als „die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe.“ (KGW 3;2: 373) Genau das Gleiche gilt dann auch für die Sphären und sonstige Begriffe.

Von einem absoluten Standpunkt aus betrachtet ist dies ein Paradox, welches keine Wahrheit beanspruchen darf.[16] Die Begriffe z.B. des Nervenreizes und der Sphären scheinen als adäquate Wahrheiten (an sich) gebraucht. Die Selbstrelativierung der Argumentation scheint nun auch die Argumentation zu verfälschen. Die Aussage scheint nichtig, da sie eben auch nur menschliche Erkenntnis ist. Andererseits ergibt sich die Selbstrelativierung nur von einem absoluten Standpunkt aus. Ein Standpunkt, der geleugnet wird. Wenn die menschliche Erkenntnis der menschlichen Erkenntnis selbst nur menschlich ist, dann widerspricht sie sich in anderer Sicht nicht selbst, sondern beweist sich geradezu selbst. Wenn es nur menschliche Erkenntnis geben kann, dann wäre es gerade ein Widerspruch, wenn diese Erkenntnis selbst nicht menschlich wäre. Logisch gesehen begnügen wir uns aber so „mit der Wahrheit in der Form der Tautologie d.h. mit leeren Hülsen“ (KGW 3;2: 372). Wer damit nicht zufrieden ist, wird sich „ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln.“ (KGW 3;2: 372)

Es ist nun noch immer nicht gesagt, warum die Sprache nicht ‚der adäquate Ausdruck aller Realitäten’ sein kann. Es gibt also den Nervenreiz, dessen Ursache, wenn wir eine annehmen wollen, noch unbekannt ist. Er selbst ist aber „eine ganz subjektive Reizung!“ (KGW 3;2: 372) Sein Verhältnis „zu dem hervorgebrachten Bilde ist an sich kein nothwendiges“ (KGW 3;2: 378). Wenn der gleiche Nervenreiz aber immer dasselbe Bild hervorbringt, und dieses Verhältnis „durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt“ (KGW 3;2: 378) wird, dann bekommt es schließlich den Anschein von Notwendigkeit, „als ob jenes Verhältniss des ursprünglichen Nervenreizes zu dem hergebrachten Bilde ein strenges Causalitätsverhältniss sei“ (KGW 3;2: 378). Woher wir bei all dieser Ungewissheit jedoch wissen, dass es immer der gleiche Nervenreiz ist, der das gleiche Bild hervorbringt, bleibt fraglich. Es wäre wohl sinnvoller, hier von einer wechselseitigen Beeinflussung, einem (Regel-)Kreislauf zu sprechen, gerade weil der Nervenreiz selbst ja schon Begriff, Metapher, Nervenreiz war. So scheint mir Nietzsches Argumentation hier fast „das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde.“ (KGW 3;2: 372)

Diese falsche Anwendung besteht aber besonders, wenn wir von dem Nervenreiz, in der Tradition des Ursache/Wirkung-Denkens und der Subjekt/Objekt-Spaltung, weiterschließen „auf eine Ursache ausser uns“ (KGW 3;2: 372).[17] Außer uns Menschen gibt es keine Ursache für den Nervenreiz. Wären wir nicht da, könnten >unsere Nerven< auch nicht gereizt werden. Diese Deutung ist hier aber wohl nicht ausgesagt. Vielmehr ist die Ursache außerhalb von uns fraglich. Der Körper müsste demnach zu uns gehören, denn in ihm werden ja noch die Nerven gereizt. Psyche ist für Nietzsche also auch Neurologie und nicht nur Psychologie.[18] An anderer Stelle ist dieser hier sehr kurz dargestellte Gedanke weiter erläutert. Wie wir gesehen haben, ist der Nervenreiz selbst erst Resultat einer ausgebildeten, wissenschaftlichen Begriffsprache. Erst erfahren wir also den Begriff, von dem wir dann auf einen Nervenreiz schließen. Nun ist es aber auch noch so, „daß die Sinnesempfindung, welche man naiv als bedingt durch die Außenwelt ansetzt, vielmehr durch die Innenwelt bedingt ist: daß die eigentliche Aktion der Außenwelt immer unbewußt verläuft“ (SCH: 804). Auch wenn es eine äußere Ursache zu geben scheint, ist das Bild der „Außenwelt, das uns bewußt wird, […] nachgeboren nach der Wirkung, die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projiziert als deren >>Ursache<< ...“ (SCH: 804) Der Nervenreiz hat an sich keine ‚strenges Kausalitätsverhältnis’ zu seinem hervorgebrachten Bilde. So ist es dann unwahrscheinlich, dass dieses Bild einer ‚subjektiven Reizung’ der ‚adäquate Ausdruck aller Realitäten’ ist. „Wo Welt allererst ein Effekt ihrer zeichenhaften Interpretation ist, […] kann sie nicht Gegenstand und Maßstab ihrer wahren (adäquaten) Abbildung sein.“ (FIEmp: 161) Die Außenwelt ist also nachkonstruiert nach den inneren Bildern der schematischen Konvention der menschlich beschränkten Wahrnehmung, der menschlichen Sprache. Auch wenn der Nervenreiz, ausgelöst von der Welt an sich(?), „den ursprünglichen Wesenheiten“ (KGW 3;2: 373) dann noch am nächsten zu sein scheint, kann er selbst nicht mehr Wahrheit beanspruchen, als der spätere Begriff.[19] Noch weniger, wenn er selbst schon Begriff ist.[20] „Die Entlarvung des metaphorischen Ursprungs von Sprache“ führt so „nicht zurück zu einem eigentlichen Ursprung […], sondern immer tiefer hinein in die textuellen Verstrickungen.“ (FIEmp: 187.) „Die Worte sind selbst nichts anderes als Interpretationen; in ihrer ganzen Geschichte sind sie Interpretationen, bevor sie Zeichen sind, und sie haben nur deshalb eine Bedeutung, weil sie Interpretationen sind.“ (M. Foucault in HAMnf: 66)

1.4 Begriffene Metaphern

Die fehlende Logik bei der Einordnung von Dingen in grammatikalische Kategorien wie Geschlecht, scheint Nietzsches Glaube an die adäquate Wahrheit von Sprache auch zu verunsichern. „Wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welch willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Kanon der Gewissheit!“ (KGW 3;2: 372) Sehr einheitlich ist diese geschlechtliche Zuordnung nicht. Fraglich ist aber, woher wir wissen, dass sie nicht richtig ist? Auch wenn Nietzsche sie nicht als falsch bezeichnet, denn das wäre „ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil“ (KGW 3;2: 374), sondern nur die Ungewissheit bemerkt, haben wir doch keinen Bezugspunkt, diese Ungewissheit zu untermauern. Die einheitliche Einteilung der „Dinge nach Geschlechtern“ (KGW 3;2: 372) wäre wahrscheinlich praktikabler, nützlicher, logischer. Dies würde dann dem gesellschaftlichen Vertrag zugute kommen, der die Sprache gemeinschaftlich ordnet. Da dies aber gerade kein Anzeichen für die Suche nach adäquater Wahrheit war, ist fraglich, warum Nietzsche genau jenes Beispiel nimmt.

„Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. (KGW 3;2: 373) Und wieder ist fraglich, wie wir wissen können, dass uns „das räthselhafte X des Dings“ (KGW 3;2: 373) völlig unzugänglich ist. Wenn es unzugänglich ist, wie können wir dann von seiner Existenz sprechen? „Hier wird also in Sprache überhaupt erst so etwas wie ein bedeutender ‚außersprachlicher Ort’ geschaffen, während uns zugleich die Satzaussage davon zu unterrichten versucht, daß es keinen sprachlichen Zugang zu diesem Ort geben kann.“ (THAhm: 73)

„Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern […] durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.“ (KGW 3;2: 373-374) Es kommt etwa durch das Gleichsetzen „von zahlreichen individualisirten, somit ungleichen Handlungen“ (KGW 3;2: 374) der Begriff der Ehrlichkeit zustande. Dieser dient dann als Ideal, eine Handlung als ehrlich zu bezeichnen, als ob es eine jenem Ideal entsprechende Eigenschaft in der Natur gäbe. Dies ist aber nicht so, der Begriff ist durch und durch ‚anthropomorph’. Er setzt schon eine moralische Gesellschaft voraus, in der das Ideal der Ehrlichkeit entstehen konnte. Also gibt uns „das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen […] den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinirbares X.“ (KGW 3;2: 374) Selbst die Einteilung der Natur in Dinge[21] ist also keine adäquate Wahrheit, weshalb es dann auch müßig ist zu fragen, ob Begriffe die Dinge adäquat abbilden.[22] Andererseits wagen wir auch nicht zu sagen, dass der Begriff dem Wesen der Dinge „nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil.“ (KGW 3;2: 374)

Das Paradox, das entsteht, wenn man begrifflich die Unwahrheit von Begriffen reklamiert, ist Nietzsche also bewusst. Die Sprache, die die Falschheit der Sprache ausspricht, ist selbst Sprache, also falsch.[23] Weiter oben hatten wir nun schon gesehen, dass dieses Paradox eigentlich nur sich selbst bestätigt. Da die Sprache aber immer genau dann wahr sein muss, wenn sie falsch sein soll, und umgekehrt, ist dies doch nicht so einfach. Es ist eben nur unsicher, ob die Begriffe ‚der adäquate Ausdruck aller Realitäten’ sind oder nicht. Genau diese Unsicherheit drückt das Paradox aus. Ihm ist kein eindeutiger Wahrheitswert zuzuordnen. Das Paradox entsteht nicht so sehr aus den Aussagen selbst, als aus der Struktur dieser Aussagen, falls man das trennen kann. Es ist nicht zu verleugnen, dass Nietzsche erst einmal von der Falschheit der Sprache auszugehen scheint, gleichzeitig aber richtige Aussagen machen will. Das ‚undefinierbare X’ ist schon überdefiniert. Es setzt schon die mögliche Erkenntnis mit Sprache voraus, setzt also ‚adäquate Wahrheit’ der Sprache voraus, mit der diese dann geleugnet wird.

Die wahre Behauptung der lügenden Sprache könnte man nun der sprachlichen Struktur zuschreiben, die sich sozusagen selbst verteidigt.[24] Die Selbstkritik lässt sich in ihr nur paradox ausdrücken.[25] Fraglich ist, ob es die Intention von Nietzsche war, die paradoxe Struktur der Sprache zu gebrachen. War er sich dessen bewusst, oder interpretiere ich nur etwas in den Text hinein, was die >eigentliche< Aussage überschreitet. Einerseits dürfte es die eigentliche Aussage (an sich) des Textes gar nicht geben, wie es auch die Natur an sich nicht gibt. Andererseits ist es noch fraglich, ob die Struktur der Sprache von der Intention des Autors zu trennen ist? Es sind beides selbst nur sprachlich gefilterte Begriffe der ‚Gleichsetzung des Nicht-Gleichen’. Ein sprachlicher Text kann sich der Struktur der Sprache nicht entziehen, so kann sich auch die Intention des Autors der Sprache und ihrer Struktur nicht entziehen. Wollte er sich der sprachlichen Struktur völlig entziehen, würde er nicht schreiben, nicht Autor sein. Es wäre unsinnig, die Struktur der Sprache ganz aufgeben können zu glauben, wenn diese gerade als eine ihrer Eigenschaften dargestellt wurde, die nicht zu hintergehen ist.

1.5 Begreifende Wahrheit

Da Wahrheit nun nicht der ‚adäquate Ausdruck aller Realitäten’ ist, muss sie etwas anderes sein. Sie ist

„ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind“ (KGW 3;2: 374-375).

Hier fasst Nietzsche also noch mal die vorigen Betrachtungen bündig zusammen. Der Trieb zur Wahrheit entsteht dann durch die moralische Verpflichtung, „nach einer festen Conven-tion zu lügen, schaarenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen.“ (KGW 3;2: 375) Nun wird doch das Wort der Lüge, also der Falschheit benutzt, welches sich Nietzsche weiter oben nicht getraute zu benutzen. Er meint aber wohl, dass der Mensch sich traditionell belügt, in dem Glauben, sicher eine adäquate Wahrheit zu besitzen. Dies wurde aber als unsicher, wenn nicht sogar als unwahrscheinlich begriffen. Durch das Vergessen dieser Unsicherheit, durch „das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit“ (NEUis: 543), die die Gesellschaft bietet, kommt der Mensch nun in den Glauben, er besäße eine adäquate Wahrheit von den Dingen. Er lügt also „in der bezeichneten Weise unbewusst und nach hundertjährigen Gewöhnungen“ (KGW 3;2: 375). Wahrheit ist dann traditionelle, gewohnte Sicherheit, die der Gebrauch der Sprache bietet. Sie ist der Nutzten, die Erleichterung des Lebens, die heute durch die Naturwissenschaften so weit verbreitet ist.[26] Andererseits muss man schon eine sehr >künstlerische<, zum guten Schein verstellte Ansicht vertreten, wenn man die technischen Neuerungen ohne weiteres als nützliche, keineswegs schädliche Erleichterungen des Lebens ansieht.[27] Die Tradition der Sprache schafft ein Gefühl der Verpflichtung, in ihr zu leben, da man sonst nicht verstanden wird und aus der schützenden Gemeinschaft ausgestoßen wird. Der Trieb zur Wahrheit ist so eine „moralische […] Regung“ (KGW 3;2: 375), die durch ein ‚Heer von Metaphern’ bewacht wird. Es geht um Macht. Doch scheint die den Menschen ermächtigende, stärkende Funktion der gesellschaftlichen Sprache auf diese Gesellschaft selbst zurückzuschlagen und sie zu kontrollieren. Fast scheint das „Zeichen eine gewisse Bösartigkeit zu erlangen, das heißt, das Zeichen selbst legt ein mehrdeutiges und feindseliges oder >>böswilliges<< Verhalten an den Tag. Und zwar insofern, als das Zeichen bereits eine Interpretation ist, die sich nicht als solche zu erkenn gibt. (M. Foucault in HAMnf: 67) Es ist unbeherrschbar, schematisiert verfälschend die menschliche Wahrnehmung und verleugnet seine Lüge.

1.6 Schützende Abstraktion

Der Mensch „stellt jetzt sein Handeln als v e r n ü n f t i g e s Wesen unter die Herrschaft der Abstractionen“ (KGW 3;2: 375). Die Begriffe ermöglichen es, durch das ‚Gleichsetzten des Nicht-Gleichen’, eine festere, bekanntere Welt den „ersten Eindrücke[n]“ (KGW 3;2: 375) und Anschauungen entgegenzustellen.[28] Die undefinierbare, unbekannte Natur scheint nach Nietzsche etwas bewegliches, fließendes, werdendes zu sein, durch welches dem Menschen droht, „fortgerissen zu werden“ (KGW 3;2: 375).[29] „Das Werden ist die erste, einzige und alles umfassende Gegebenheit. Werden ist alles; alles wird, alles ist nur, sofern es wird.“ (V. Gerhardt in SIMn1: 20) Die „starre Regelmässigkeit“ (KGW 3;2: 376) der Begriffe scheint diesem Unbeherrschbaren und dem daraus resultierenden „Gefühl der Bedrohlichkeit“ (VOLgs: 30) entgegentreten zu wollen, es doch beherrschen zu wollen, es gerade töten zu wollen. Den wenigsten von uns wird wohl die Erfahrung von Zeit und Raum, von Sommer und Winter, also die Erfahrung des ‚Werdens’ fremd sein. Nennt Nietzsche dies ‚plötzliche Eindrücke’ und ‚Anschauungen’, dann ist damit auch nichts über dem Menschen Unzugängliches ausgesagt. Doch scheint er diese plötzliche Unordnung der Anschauungen geradezu mit dem ‚undefinierbaren X’ selbst gleichzusetzen. Dies ist dann doch eine unberechtigte Aussage[30], auch wenn sie einigermaßen folgerichtig ist.[31] Sind die Begriffe falsch, in ihrer Ordnung, Herrschaft, Abstraktion, in ihrem ‚Gleichsetzen des Nicht-Gleichen’, sind die Dinge selbst nur vom Menschen geschaffen, dann ist die Annahme wahrscheinlich, dass die Natur eben nicht aus geordneten Dingen besteht. Sie ist dann wild, im Flusse, im Werden, unbekannt, ungeordnet etc. Störend ist nur, dass diese Ungeordnetheit schon vorausgesetzt werden muss, um die Ordnung zu kritisieren.[32] Es ist also folgerichtig, sie vorauszusetzen, in dieser Tautologie. Jedoch ist selbst der Begriff Natur schon Sprache. Sprachliche Aussagen über sie können also eigentlich nur richtig sein (sofern sie sich an die Tradition der Sprache halten). Jegliche Aussagen über eine außersprachliche Natur sind sinnlos, da es sie gar nicht gibt. Wenn geben aber selbst nur sprachlicher Begriff ist, was nimmt uns dann diese Argumentation?

Wenn man nun diesen mehr oder weniger spitzfindigen Gedanken weglässt, könnte man sagen, dass die nicht-sprachlich erfasste Welt eben noch keine geordnete, beherrschte Welt war. Die nicht-sprachliche Erfahrung dieser Welt trug zu ihrer Übermacht bei. Sie war dann auch keine Welt an sich, sondern nur eine nicht-sprachlich erfahrene menschliche Welt: gesellschaftliche Unordnung, verschiedene Bilder aus Nervenreizen. Durch die >Erfindung< der Sprache wurde dann auch die Welt geordnet (oder erst erschaffen). Ihr starrer, berechenbarer Nutzen misst sich an der möglichen Kontrolle der ‚ganz und gar individualisierten Urerlebnisse’, die sie nicht ganz zu verdecken scheint. Wird der Bau zu fest, bricht er, und muss repariert werden. Es muss „ein Bau, wie aus Spinnenfäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden.“ (KGW 3;2: 376) Die Begriffe ändern sich, Sprache lebt. Natur bedeutet dann immer schon: kontrollierte Natur.

Jedenfalls leben wir in dem großen „Bau der Begriffe“ (KGW 3;2: 376) ganz gut und ruhig, doch hängen an den „Gefängnisswänden dieses Glaubens“ (KGW 3;2: 377) nur metaphorische Bilder, es gibt höchstens das Licht brechende Fensterscheiben, aber keine offenen Fenster oder gar Türen, die nach draußen führen. Die behagliche Ruhe der Ordnung der Begriffe (die gar nicht so ordentlich sind, wie wir weiter oben gehört haben) soll nun nichts stören. Der Mensch vergisst sich „als k ü n s t l e r i s c h s c h a f f e n d e s Subjekt“ (KGW 3;2: 377). Erkenntnis ist demnach nur das Wiederfinden von etwas vorher Verstecktem.[33] Man findet sich in dem Gefängnis zurecht, baut es aus und formt es. Man ist gezwungen, „alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen“ (KGW 3;2: 379). Unsere schematische Wahrnehmung, unsere „Zeit- und Raum-Vorstellungen“ (KGW 3;2: 379), die wir vorher an die Dinge (welche Dinge?) heranbringen, finden wir nachher auch wieder. Die räumliche Welt ist nur eine räumlich erfahrene Welt, sie ist nicht Welt an sich. Sie ist nur die Relation von irgend etwas auf den Menschen. „Genau darin aber liegt für Nietzsche die Verlogenheit des Wahrheitstriebes des Menschen, dem es eben nicht um die Wahrheit ‚an sich’, sondern einzig um diejenige ‚für sich’, d.h. für ihn und einzig in bezug auf ihn selbst geht“ (VOLgs: 43). Alle Wahrheiten sind nicht wahr an sich, sondern Tautologien, ‚leere Hülsen’.

Dennoch ist das ‚Baugenie’ des „Columbarium[s] der Begriffe, der Begräbnissstätte der Anschauung“ (KGW 3;2: 380) zu bewundern. Seine Fähigkeit, „auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Be-griffsdomes“ (KGW 3;2: 376) gelingen zu lassen[34], ist eine Glanzleistung. Noch mehr, weil ihm dies ohne fremde Stoffe gelingt. Er produziert die Begriffe aus sich selber heraus. „Diese Bewunderung kann sich jedoch lediglich auf die gestalterische Begabung des kollektiven menschlichen Intellekts erstrecken, nicht auf seine Fähigkeit, die Wahrheit im konventionellen Sinne zu entdecken“ (DANnp: 52). Ein sehr ironisches Lob, das Nietzsche hier fabriziert. Gerade weil die Sprache des Menschen nicht der ‚adäquate Ausdruck aller Realitäten’ ist, sie also nicht aus fremden Stoffen aufgebaut ist, ist ihr Erbauer zu bewundern. Er ist wohl in seinem ruhigen, glücklichen Schlaf der vergessenen Illusionen zu bewundern, aus dem er sich nicht erwecken lässt. Die Bändigung der fortreißenden Eindrücke der ‚Urerlebnisse’ durch die ‚Gefängniswände des Glaubens’ eines ‚Begriffsdomes’ schafft es, die Welt zu ordnen (im be-grifflichen Sinne). „Die Metamorphose der Welt in den Menschen“ (KGW 3;2: 377) ist dann schon sprachliche Welt, also geordnet. Man kann wiederfinden, was man vorher versteckt hat. So wie auch Nietzsche all das in der Sprache wiederfindet, was er vorher hineingelegt hat, und mit strategisch gewählten Prämissen, die Wahrnehmung zu filtern, aufbaute. Das Haus war also schon da, bevor es gebaut wurde? Oder war es nur seine Architektur, der Entwurf, die Logik, welcher Sprache? Durch diese konnte man erst an den ‚Gefängniswänden des Glaubens’ bauen. Das Bauen ist der Glaube selbst. Beides ist nicht zu trennen. Das werdende Bauen eines festen Begriffsgebäudes ist der träumende Schlaf von Ewigkeit der Illusionen.

1.7 Perspektivische Perzeptionen

Der Mensch trägt sich „als Maass an alle Dinge“ (KGW 3;2: 377) heran. Dadurch findet er nur ‚die Metamorphose der Welt’ in sich selbst und hat nicht die „Dinge unmittelbar als reine Objekte vor sich.“ (KGW 3;2: 377) Es ist also eine durch und durch menschliche Welt, die sich von der Welt verschiedener Tiere, die jeweils „eine ganz andere Welt percipiren“ (KGW 3;2: 378), unterscheidet. Es ist nun sinnlos zu fragen, welche Welt die richtige ist, „da hierzu bereits mit dem Maassstabe der r i c h t i g e n P e r c e p t i o n d.h. mit einem n i c h t v o r h a n d e n e n Maassstabe gemessen werden müsste.“ (KGW 3;2: 378)[35] Andererseits ist die Erkenntnis von den verschiedenen Perzeptionen verschiedener Lebewesen auch mit einem ‚nicht vorhandenen Maßstabe’ gemessen worden.[36] Sie ist eben auch nur menschlich. Prinzipiell ist es dann genauso möglich, dass Tiere eine der menschlichen gleiche Welt perzipieren. Aus meiner menschlichen Perspektive kann ich ja eigentlich schon gar nicht erkennen, dass diese >nur< menschlich ist. Genau wenn sie es ist, habe ich keinen Maßstab, keine Relation mehr, dies zu erkennen. Wie könnte ich da noch Aussagen über die Weltperzeption von Tieren machen, die selbst nur menschliche Begriffe sind. Als solche sind sie also schon keine Tiere (an sich) mehr, sondern assimilierte Metamorphosen, fabelhafte Anthropomorphismen.

„Die richtige Perception – das würde heissen der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt – [ist] ein widerspruchsvolles Unding“ (KGW 3;2: 378). Subjekt und Objekt sind „zwei absolut verschieden[e] Sphären“ deren „nachstammelnde Übersetzung“ keine „Causalität, keine Richtigkeit“ (KGW 3;2: 378) beanspruchen darf. Es ist nicht das „Wesen der Dinge in der empirischen Welt“ (KGW 3;2: 378), das uns als Erscheinung erscheint. Sondern wir sind ‚künstlerisch schaffende Subjekte’ und in diesem interpretierenden Schaffen verfälschen wir notwendig das ‚ursprüngliche X der undefinierten Wesenheiten’. „ Jede Interpretation ist eine Verzerrung, einmal abgesehen davon, daß es nichts gibt, was überhaupt zu verzerren wäre.“ (DANnp: 98) Denn „rechnet man die Perspektiven und damit die Relativität ab, so bleibt keine Welt mehr übrig.“ (MÜLni: 101) Welt ist schon interpretierte Einteilung in Dinge. In anderen Texten hört Nietzsches Gedanke hier auch nicht auf, sondern zweifelt folgerichtig noch die Richtigkeit der Subjekt/Objekt-Spaltung an, die ja selbst nur eine menschliche Perspektive der Wahrnehmung darstellt, verführt durch die Grammatik der Sprache.[37] So gibt es also stets „ lediglich rivalisierende Interpretationen“ (DANnp: 98) (der Welt). „Von daher scheint es vernünftig, nicht mehr auf dem Gedanken starrer, letzter definitiver, allgemein verbindlicher, umfassender […] Prinzipien, gar auf der Unterstellung >Des Einen und überhaupt einzigen Prinzips< zu bestehen.“ (G. Abel in DJUnp: 109) Eins darf dabei jedoch nicht übersehen werden: „Wenn alles Interpretation ist, ist auch dieser Satz über die Universalität von Interpretation eine Interpretation.“ (V. Gerhardt in SIMn1: 11) So ist auch das Wort Interpretation eine Interpretation.

Trotz dieses frei schaffenden, interpretierenden künstlerischen Subjekts, scheint die menschliche Wahrnehmung doch nicht in absoluten Relativismus, Konstruktivismus oder gar Solipsismus aufzugehen.[38] Es ist immer noch der Nervenreiz, der das Bild der Wahrnehmung zu verursachen scheint, der sich selbst einer unkontrollierbaren (äußeren?) Ursache zu verdanken scheint. Es ist nicht Langeweile, die den Menschen zu dem Aufbau der Sprache, der Gesellschaft und seinem Bild der Wahrnehmung treibt, sondern die Not des Daseins (welche aber ebenfalls >nur< Interpretation sein könnte). Auch scheinen die menschlichen Perzeptionen untereinander doch relativ ähnlich zu sein.[39] Nicht erst die Sprache schafft diese Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit, treibt sie aber doch weiter voran, da die Ähnlichkeit prinzipiell nicht notwendig ist.[40] Die Sprache erst ermöglicht es, diese mögliche Ähnlichkeit der ‚ganz und gar individualisierten Urerlebnisse’ mitteilend zu vergleichen. So beschreibt Nietzsche also einen Wahrnehmungsrelativismus, der sich zwischen den Menschen aber in Grenzen hält, da sie gerade durch die Sprache diesem zu begegnen wissen. Auch Nietzsche scheint ja vorauszusetzen, dass man ihn (wenigstens teilweise, in späteren Zeiten) verstehen wird, wenn er Bücher schreibt. Andererseits ist diese ‚Gleichsetzung des Nicht-Gleichen’ nicht so weit fortgeschritten, dass alle Menschen nur noch dieselben Wahrnehmungen hätten, „denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen.“ (KGW 3;2: 373)[41] Diese müssen ja auch noch mal alle als verschiedene Perspektiven der Welt aufgefasst werden. So wäre also auch die Verständigung unter Menschen, in der Sprache ein aktives Geschehen, da der ‚Begriffsdom’ eben von den ‚Wellen’ ‚ganz und gar individualisierter Urerlebnisse’ mit fortgetragen wird. So muss man sich immer andächtig in einem Zimmer finden, dessen Form der gegenseitigen Wahrnehmung entspricht. Dieses Zimmer wird Gadamer mit dem hermeneutischen Dialog versuchen auszubauen.

1.8 Getriebene Begriffe

Außer den traditionellen, in der sprachlichen Gesellschaft verankerten allgemeinen (wissenschaftlichen) Wahrheiten, gibt es noch „ganz anders geartete ‚Wahrheiten’“ (KGW 3;2: 380). Diese entstehen durch den „Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde“ (KGW 3;2: 381). Die starre und regelmäßige Welt des sprachlich begriffenen Menschen ist trotz seiner Vorteile und ‚Erleichterung des Daseins’ eine „Zwingburg“ (KGW 3;2: 381). Der Mensch fühlt sich unfrei im ständigen Aufenthalt zwischen den ‚Gefängniswänden des Glaubens’ und sucht seine Befreiung „im Mythus und überhaupt in der Kunst.“ (KGW 3;2: 381) Dort kann er sich frei austoben, indem er die starre Regelmäßigkeit der ‚Begräbnisstätte der Anschauung’ durch fortwährend begierige Umordnung der Begriffe neu gestaltet, so „folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu […], wie es die Welt des Traumes ist.“ (KGW 3;2: 381) Der Traum ist dadurch Traum, dass seine Sprache nicht der allgemeinen Ordnung, dem allgemeinen Gebrauch der Begriffe entspricht. Er spricht viel individueller, mehr in Bildern, noch lebenden Metaphern, als in starren Begriffen. Daher unterscheidet er sich nicht prinzipiell, qualitativ von der Realität. „Der wache Tag eines mythisch erregten Volkes, etwa der älteren Griechen, ist […] in der That dem Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers.“ (KGW 3;2: 381) So ist aber auch ‚der Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers’ vielleicht nur der Traum von >Captain Piccard< im Weltraum unendlicher Weiten. Es ist nur eine Wertzuweisung, wenn ich von Realität oder Traum, Begriff oder Metapher spreche, die sich an aktueller gesellschaftlicher Praktikabilität (auch der Worte selbst) orientiert. „Der Unterschied zwischen einer Metapher und einer nicht-metaphorischen Äußerung hängt nur von der relativen Stellung inmitten eines Begriffssystems ab“ (DANnp: 53). Es ist „eine bloß graduelle Unterscheidung.“ (FIEmp: 214)

Der Künstler (wozu auch der Literat gehört) handelt nun ähnlich dem Traum und dem Lügner. „Er missbraucht die festen Conventionen“ (KGW 3;2: 371) der Begriffe und täuscht den Menschen. Dieser „hat einen unbesiegbaren Hang, sich täuschen zu lassen und ist wie bezaubert vor Glück“ (KGW 3;2: 382), wenn er durch den Künstler, ohne beschädigt zu werden, belogen wird. „Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei, und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zu s c h a d e n“ (KGW 3;2: 382). Die Not des Daseins vergessend, die den Menschen in die starre ‚Zwingburg’ der Sprache getrieben hat, die von ihm fortwährenden Ernst abverlangt, kann durch die Kunst vergessen werden. Wenn er das „ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe […] zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht“ (KGW 3;2: 382). Dann erntet er auch „eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung.“ (KGW 3;2: 383) Er ist nun nicht mehr „von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet“ (KGW 3;2: 382). Diese geben sich dem ‚Trieb zu Metaphernbildung’ hin und „spielen mit dem Ernste“ (KGW 3;2: 383). Neben der Freiheit ist es auch das Glück, das sich durch ‚Herrschaft der Abstraktionen’, der Vernunft nicht erzwingen lässt.

Die vernünftige Begrifflichkeit der Sprache dient eben mehr zur ‚Abwehr des Übels’, was sie allerdings ganz gut schafft. Durch die regelmäßige Ordnung, durch die ‚Gleichsetzung des Nicht-Gleichen’ entsteht eine berechenbare Welt. Erfahrungen werden vergleichbar, da sie nicht mehr völlig verschiedene ‚ganz und gar individualisierte Urerlebnisse’ sind. Dadurch entsteht eine zeitliche Welt, in der das Gleiche immer wiederkehrt und nicht mehr überrascht. Auch entsteht erst durch diese Ordnung das Gefühl von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit.

[...]


[1] Vgl. etwa Kapitel 1.4 dieser Arbeit.

[2] Vgl. Kapitel 3.1 dieser Arbeit.

[3] Vgl. KGW 3;2: 380ff.

[4] Vgl. Kapitel 2.6 dieser Arbeit.

[5] Vgl. AL: 91.

[6] Zu finden in KGW 3;2: 369-384.

[7] Vgl. dazu auch AL: 125.

[8] Vgl. etwa NEUis: 546f.

[9] Nietzsche stellt „nicht in Abrede, daß wir uns in der Sprache verläßlich verständigen können.“ (V. Gerhardt in SIMn1: 10)

[10] Andererseits scheint „spätestens seit Kant, aber im Grunde schon seit Sokrates begriffen, daß endliche Geister ihre Vorstellungen und Wörter nicht mit äußeren, vorstellungs- und sprach-transzendenten Objekten und Ereignissen, sondern stets nur mit anderen Vorstellungen und Wörtern vergleichen.“ (G. Abel in DJUnp: 108)

[11] „Natürlich weiß Nietzsche, daß die Einsicht in die das Wirkliche verfälschende und verdinglichende Rolle von Sprache und Logik nicht über die Notwendigkeit hinweghilft, sie zu benutzen.“ (A. Schmidt in SALni: 133)

[12] Vgl. etwa MÜLni: 110 o. VOLgs: 44.

[13] Ein Beispiel wäre der Kampf der >Kirche< gegen die kopernikanischen oder darwinistischen Meinungen.

[14] Auch wenn er diese in anderen Texten (z.B. in KGW 6;2: 292ff, SCH: 534f., 540f) mit bedenkt, zeigt sich hier wie dort, „wie sehr Nietzsche selbst einem bestimmten Sprachbegriff verhaftet bleibt“ (J. Simon in SALni: 210).

[15]Metapher [griech. Metaphérein >anderswohin tragen<]“ (BUSls: 484).

[16] Kein Wahrheitsanspruch bedeutet aber nicht, falsch zu sein. Es bedeutet, logisch weder wahr noch falsch sein zu können, dauernd zwischen diesen Polen zu wechseln. Das Paradox entsteht aus dem Satz vom Widerspruch. Für Nietzsches Betrachtungen zu diesem siehe KGW 8;2: 53ff und AL: 164ff.

[17] Vgl. dazu auch AL: 150ff.

[18] Vgl. etwa THAhm: 71. Dies ist im Vergleich mit Descartes interessant, der eine strikte Trennung von ‚res cogitans’ und ‚res extensa’ vertrat und damit das folgende wissenschaftlichen Denken sehr beeinflusste.

[19] Vgl. auch etwa NEUis: 542, ZITnp: 48.

[20] Wie auch Begriff als Begriff begriffen werden müsste. Er „ist sowenig reiner Begriff, so wenig vom Signifikanten unberührtes und unberührbares Signfikat wie jeder andere Begriff auch.“ (FIEmp: 214)

[21] Vgl. auch SCH: 534 oder dazu etwa F. Kaulbach in SIMn2: 90f.

[22] Wobei aber die Beziehung von Begriffen und Dingen sehr interessant erscheint. Trennen einzelne, isolierte Begriffe die ungeteilte Natur in Dinge, oder ist diese schon geteilt, und motiviert so den Begriff zu ihrem Ausdruck. Wie verhält sich dann dazu die offensichtlich auch kontextuelle Struktur (z.B. Syntax und Grammatik) von Sprache?

[23] Vgl. dazu auch etwa DANnp: 58.

[24] Vgl. dazu auch AL: 170.

[25] Dies entspricht aber auch eher einem Erfahrungswert, als adäquater Erkenntnis.

[26] „Wenn man von der Wissenschaft verlangt, wahr zu sein, setzt man sich damit zugleich der Frage aus, ob denn >>Wahrheit<< mehr als nur die Erleichterung des Daseins meint.“ (DANnp: 93) Vgl. auch FIEmp: 160.

[27] Man denke an Atombomben und Naturverschmutzung.

[28] Vgl. auch etwa ZITnp: 48.

[29] Vgl. auch etwa A. Schmidt in SALni: 134, THAhm: 88.

[30] Vgl. auch etwa V. Gerhardt in SIMn1: 20

[31] „Weil er zeigen wollte, daß all unsere Überzeugungen falsch sind, sah er sich eine Welt zu postulieren genötigt, der gegenüber sie falsch sein sollten“ (DANnp: 122).

[32] „Somit stehen bei Nietzsche aber die ‚ursprünglichen Wesenheiten’ in einem Verwendungszweck, der wiederum gerade auf eine außersprachliche Wirklichkeit als bedeutende verweisen will. Der Satz führt also genau an den Ort zurück, von dem er fortführen wollte.“ (THAhm: 73)

[33] Vgl. KGW 3;2: 377.

[34] Man ist hier wohl nicht umsonst an den biblischen Turmbau zu Babel erinnert. Auch diese ‚Baugenies’ wollten zur Wahrheit, zu Gott vordringen, redeten aber schließlich in „lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen“ (KGW 3;2: 383) und lösten ihre verständige Gemeinschaft auf.

[35] Vgl. auch etwas NEUis: 542, 566f, DANnp: 99.

[36] Vgl. auch etwa DANnp: 100.

[37] Vgl. etwa KGW 6;2: 292ff, SCH: 534f., 540f. Dazu vgl. auch W. Hamacher in HAMnf: 7ff, THAhm: 86, DANnp: 107, AL: 172..

[38] Vgl. dazu etwa DANnp: 122, A. Schmidt in SALni: 137.

[39] Vgl. KGW 3;2: 380.

[40] Vgl. KGW 3;2: 378f. Fügen wir aber weitere naturwissenschaftliche (wahrnehmungspsychologische) Erkenntnisse hinzu, so könnten wir doch eine relative Gleichheit des physiologischen menschlichen Wahrnehmungsapparats erkennen, der dann wenigstens jedem Menschen ziemlich ähnliche Bedingungen und Möglichkeiten eröffnet, die Welt wahrzunehmen. Andererseits ist dies auch wieder nur menschliche, sprachliche Erkenntnis, Interpretation, Fabel, ‚Gleichsetzung des Nicht-Gleichen’.

[41] Es gäbe auch nicht so viele Wörter.

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Nietzsches Sprachphilosophie, Hermeneutik und Dekonstruktion
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Note
2,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
97
Katalognummer
V87917
ISBN (eBook)
9783638023337
ISBN (Buch)
9783638926652
Dateigröße
801 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nietzsches, Sprachphilosophie, Hermeneutik, Dekonstruktion
Arbeit zitieren
Magister Henning Braun (Autor:in), 2006, Nietzsches Sprachphilosophie, Hermeneutik und Dekonstruktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87917

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