Film ohne Medium - Rudolf Arnheims Neuer Laokoon und die Kritik am Sprechfilm


Seminararbeit, 2008

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Konjunktur des Laokoon

2. Rudolf Arnheims Neuer Laokoon und die Kritik am SprechfilmS
2.1. Produktion
2.2. Werk
2.3. Rezeption

3. Der Neue Laokoon, der Sprechfilm und der Pessimismus

4. Bibliographie

1. Konjunktur des Laokoon

Beinahe 200 Jahre nach der Veröffentlichung von Lessings Laokoon scheint eine Neuformulierung ästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten unter modernen Gesichtspunkten virulent zu werden. Denn völlig unabhängig voneinander erscheinen zunächst 1938 Rudolf Arnheims Neuer Laokoon[1], der über die relativ neue mediale Form des Sprechfilms reflektiert, und im Jahre 1940 die Schrift Towards a newer Laokoon[2] des amerikanischen Kunstkritikers Clement Greenberg, der versucht, eine historische Affirmation der abstrakten Malerei abzuleiten. Was beide Texte mit dem Laokoon der Aufklärung verbindet ist die Methode, die ästhetischen Möglichkeiten und Grenzen der jeweils einzelnen Darstellungsform auf semiotischer und medialer Ebene zu bestimmen. Greenberg geht wie Lessing von einer „practical as well as theoretical confusion of the arts“[3] aus, um daraus die puristische Selbstreflexion der modernen Malerei aufgrund ihrer medialen Bedingungen zu rechtfertigen.[4] Während hier also stärker der mediale Aspekt der Malerei hervorgekehrt wird, man könnte von einer Analogie der theoretischen Kritik zu der praktischen Kunstproduktion sprechen, so verharrt Arnheim in seiner Argumentation auf der semiotischen Ebene des Films. Das Ausbleiben einer Reflexion der medialen Bedingungen muss bei einem Autor wie Arnheim jedoch verwundern, da er bereits zuvor ausführlich genau jene zu systematisieren versuchte.[5] Die Beschränkung auf die Semiotik des Films lässt sich jedoch mit der Tendenz des Neuen Laokoon erklären. Denn Arnheims „Gefühl des Unbehangens“ (S. 81) am Sprechfilm entrollt eine Argumentation, die Belege dafür liefern will, „den Bereich des Dialogs künstlich“ (S. 108) einzuschränken und damit den Sprechfilm auf die Funktion des „getreuen Festhalten[s] der von Natur und Mensch hervorgebrachten optischen und akustischen Erscheinungen“ (S. 110) zu reduzieren. Oder von der Warte des Kunstanspruchs heraus formuliert: der Sprechfilm könne aufgrund seiner unmöglichen sinnvollen Verknüpfung von Wort und Bild keine Kunst sein. Im Folgenden wird nun zu zeigen sein, wie diese normative Tendenz unter Berücksichtigung der materiell-medialen Bedingungen nicht aufrecht zu halten wäre. Arnheims semiotisch fundierte Beschneidung des Sprechfilms soll deshalb anhand der drei Bereiche Produktion, Werk und Rezeption mit einer damals schon möglichen Reflexion über die Medialität des Films abgeglichen werden, die in Form von Walter Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit[6] vorliegt. Dieser Ausschluss einer Reflexion über die Medialität befördert also bei Arnheim die Vorbehalte gegenüber dem Sprechfilm, die um 1930 auch bei anderen Theoretikern zu verzeichnen sind.[7] 1938 jedoch, im Erscheinungsjahr des Neuen Laokoon, kommt die intendierte Abwertung des Sprechfilms einem rückwärtsgewandten Wiederbelebungsversuch der durchaus künstlerischen Avantgarden der 20er Jahre gleich, die gegenüber der industrialisierten Massenware Tonfilm abgehoben werden soll. Arnheim wiederholt im Neuen Laokoon somit abermals eine Nostalgie für die Ära des Stummfilms, die er bereits 1932 in seinem Buch Film als Kunst[8] formuliert hat.[9]

2. Rudolf Arnheims Neuer Laokoon und die Kritik am Sprechfilm

2.1. Produktion

Um Kunst beschreiben zu können, braucht man Begriffe, die den ästhetischen Standards eines Künstlers, verschiedener Werke oder einer Epoche angemessen erscheinen. Bei der Moderne verhält es sich da nicht anders. Silvio Vietta schlägt deshalb in Abgrenzung zu Niklas Luhmanns Begriff der „Beobachtung“ folgende Paradigmen vor: „Der eigentliche Schlüsselbegriff für die Ästhetische Moderne ist […] der Begriff der Produktion und der Konstruktion.“[10] Auch Arnheim räumt diesen Begriffen bezüglich des Films einen großen Stellenwert ein, wenn er z. B. vom „Kunstschaffen“ (S. 101) oder vom „schöpferischen Menschen“ (S. 111) spricht. Der Unterschied zwischen Viettas „Ästhetik der Moderne“ und Arnheims Laokoon besteht allerdings darin, dass sich Vietta auf Malerei und Literatur bezieht, während Arnheims Produktionsbegriff auf das Medium Film abzielt. Diese einfache, aber fundamentale Unterscheidung hat jedoch weit reichende Konsequenzen für den Begriff der Produktion. Vietta kann von der romantischen Selbstreflexivität der Literatur auf den „permanenten Prozeß der experimentellen Selbsterforschung der Subjektivität[11] in der literarischen Moderne schließen. Dies ist jedoch nur möglich, da zwischen Subjektivität und der Medialität der Literatur ein enger Zusammenhang besteht: Von möglichen experimentellen Versuchen einmal abgesehen produziert in der Regel ein Subjekt einen literarischen Text. Beim Film hingegen muss prinzipiell von einem arbeitsteiligen, höchst ausdifferenzierten Herstellungsprozess ausgegangen werden, der noch weniger Rückschlüsse auf die Subjektivität der Autoren zulässt als ein literarischer Text. Arnheim hintergeht jedoch dieses mediale A priori des Films jedes Mal, wenn er bei der Produktion vom singulären „Künstler“[12] spricht. Hier wird nicht nur die mangelnde mediale, sondern auch eine eingeengte epistemologische Reflexion sichtbar; ein Umstand, der von Greenberg ebenfalls an Lessing kritisiert wird: „He saw its ill effects [der Künste, F. D.] exclusively in terms of literature.“[13] Dass der Literat Lessing die ihm vertrauten Kategorien auch auf andere Künste appliziert, scheint nicht weiter bemerkenswert. Dass jedoch Arnheim als Filmtheoretiker von einem einzelnen Subjekt ausgeht, dass das Werk alleine produziert,[14] muss angesichts der medialen Bedingungen des Films doch verwundern. Das grundlegende Problem in dieser Hinsicht stellt die Tatsache dar, dass Arnheim mehrere Male relativ abstrakt von einem autonomen Künstler ausgeht, dem entweder „gelegentlich das Wort als ein unzureichendes Werkzeug“ (S. 95) erscheint oder der sich dadurch auszeichnet, dass er „von dem sicheren Gefühl für das von der Eigenart seines Darstellungsmaterials Geforderte geleitet wird“ (S. 103). Dieses Künstlersubjekt hat auch durchaus seine wenn auch leicht antiquierte[15] Relevanz im Bezug auf die Medien Literatur, Drama oder Malerei. Arnheim setzt dieses Subjekt jedoch in den Produktionsprozess des Films ein, und damit werden die Implikationen des singulären schaffenden Künstlers auf die medialen Bedingungen des Films übertragen. Diese unterstellte Subjektzentrierung der Produktion hat jedoch bei aller Verleugnung der Medialität des Films einen Zweck: erst durch sie kann Arnheim den Film mit der in der Weimarer Zeit vorherrschenden filmischen Kunstauffassung in Einklang bringen. Seit dem Beginn der 20er Jahre implizierte diese nämlich, „that the outside world had to be filtered through human subjectivity in order to present an idiosycratic or subjective interpretation of reality.“[16] Würde jedoch das Künstlersubjekt aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen, so würde sich anstelle der vermuteten Subjektivität nicht anderes schieben als der kinematographische Apparat. Die bloße technische Apparatur, die die Subjektivität negiert, negiert damit gleichzeitig auch den Anspruch, den Arnheim bereits 1932 formuliert hat: „Film als Kunst“. Genau diese Kunstauffassung treibt Arnheim letztendlich auch zur Ablehnung des Sprechfilms, denn mit diesem siege „das mechanische Mittel über den schöpferischen Menschen“ (S. 111). Arnheim unterstellt also für den Film einen aus der Tradition der Avantgarden der verschiedenen Künste gewachsenen „Anspruch auf Originalität“[17], der jedoch einerseits von der materiellen Produktion des Films als auch von den (technischen) Beschleunigungen der Moderne unterlaufen wird. Die Inflation an bewegten Bildern, bedingt durch die technische wie wirtschaftliche Perfektionierung der Kameras nach dem ersten Weltkrieg, hat nicht nur zur Konsequenz, dass „jeder heutige Mensch [ ] den Anspruch vorbringen [kann], gefilmt zu werden“[18], sondern auch eine Destabilisierung des Autorbegriffs: „Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren.“[19] Arnheims Neuer Laokoon setzt jedoch genau auf diese Unterscheidung, die mit der romantischen Vorstellung der Darstellung von Ich und Welt im Werk verbunden ist und bei der die Filmemacher nicht abhängig sind von „a variety of factors, which are beyond their control.“[20] Die Ablehnung der damals neuen Technik des Tonfilms beruht im Bereich der Produktion bei Arnheim also auf einer Verleugnung der medialen Produktionsbedingungen des Films; einer Kunstauffassung, die ein schöpferisches Ich als zentrale Instanz bei der Herstellung setzt sowie durch die Ignorierung der durch die technischen Möglichkeiten geschaffenen Veränderungen in sozialer wie auch in künstlerischer Hinsicht.

[...]


[1] Rudolf Arnheim: Neuer Laokoon. Die Verkoppelung der künstlerischen Mittel, untersucht anläßlich des Sprechfilms, in: Helmut H. Diederichs (Hg.): Rudolf Arnheim. Kritiken und Aufsätze zum Film, München, Wien 1977, S. 81-112. Im Folgenden werden alle direkten Zitate dieser Ausgabe entnommen und direkt im Text in Klammern wiedergegeben.

[2] Clement Greenberg: Towards a Newer Laokoon, in: John O’Brian (Hg.): Clement Greenberg. The Collected Essays And Criticism, Chicago 1986, S. 23-37.

[3] Ebd. S. 25.

[4] Vgl. ebd. S. 32: „Purity in art consists in the acceptance, willing acceptance, of the limitations of the medium of the specific art.“

[5] Vgl. Rudolf Arnheim: Systematik der frühen kinematographischen Erfindungen, in: Helmut H. Diederichs (Hg.): Rudolf Arnheim. Kritiken und Aufsätze zum Film, München, Wien 1977, S. 25-40.

[6] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser (Hgg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Band 2, Frankfurt a. M. 1978, 2. Aufl., S. 471-509.

[7] Vgl. Béla Balázs: Der Geist des Films, Frankfurt a. M. 2001, S. 113, Bertolt Brecht: Tonfilm ‚Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt?’, in: Ders.: Schriften zum Theater 2. 1918-1933, Frankfurt a. M. 1963, S. 223 sowie René Clair: Kino. Vom Stummfilm zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920-1950, Zürich 1995. Die drei Autoren bedauern entweder die Absenkung des künstlerischen Niveaus gegenüber dem Stummfilm (Balázs, Clair) oder die Industrialisierung und den Warencharakter des Films (Brecht).

[8] Rudolf Arnheim: Film als Kunst, Frankfurt a. M. 2002.

[9] Vgl. Malte Hagener: Moving forward, looking back. The European Avant-Garde and the Invention of Film Culture 1919-1939, Amsterdam 2007, S. 127.

[10] Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild, München 2001, S. 28.

[11] Ebd. S. 38.

[12] Vgl. Rudolf Arnheim: Neuer Laokoon, a. a. O., S. 90, 95, 103, 111.

[13] Clement Greenberg: Towards a Newer Laokoon, a. a. O., S. 25.

[14] Wenn mehrere Autoren an der Produktion beteiligt sind, bedeutet das für Arnheim „sicherlich schon eine bedenkliche Eigenschaft für ein Kunstwerk!“ Rudolf Arnheim: Neuer Laokoon, a. a. O., S. 101.

[15] In Anbetracht der Tatsache, dass Avantgardebewegungen wie der Surrealismus oder der Dadaismus gerade die Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten des künstlerischen Subjektes forciert haben, wirkt Arnheims Idee des schöpferischen Subjektes mehr als ein Konstrukt des Sturm und Drangs oder der Romantik als der klassischen Moderne.

[16] Malte Hagener: Moving forward, looking back, a. a. O., S. 54.

[17] Rosalind E. Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam, Dresden 2000, S. 205.

[18] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a. a. O., S. 493.

[19] Ebd. S. 493.

[20] Malte Hagener: Moving forward, looking back, a. a. O., S. 44.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Film ohne Medium - Rudolf Arnheims Neuer Laokoon und die Kritik am Sprechfilm
Hochschule
Universität Konstanz
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
20
Katalognummer
V88486
ISBN (eBook)
9783638024785
ISBN (Buch)
9783638924351
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit wird untersucht, warum Rudolf Arnheims Versuch, die medial neue Form des Sprechfilms abzuwerten, auch im damaligen Kontext nicht aufrechtzuhalten ist. Da Arnheim eine schon 1938 möglich Reflexion über die Medialität des Films unterlässt, wird er erstens nicht dem Film gerecht und zweitens drückt sich darin die rückwärtsgewandte Kunst- und Medienauffassung eines modernen Kritikers aus, die mit den Phänomenen der Moderne jedoch nicht mehr vereinbar sind.
Schlagworte
Film, Medium, Rudolf, Arnheims, Neuer, Laokoon, Kritik, Sprechfilm
Arbeit zitieren
Frank Dersch (Autor:in), 2008, Film ohne Medium - Rudolf Arnheims Neuer Laokoon und die Kritik am Sprechfilm, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88486

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