Zur Bedeutung von Freundschaft im Kindes- und Jugendalter


Diplomarbeit, 2006

95 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zum Begriff Freundschaft
2.1. Problemdarstellung der Freundschaftsdefinition
2.2. Definitionen von Freundschaft
2.3. Freundschaftsdefinition im Kindes- und Jugendalter
2.3.1. Stufenmodell nach Selman
2.3.2. Zum Freundschaftskonzept von Youniss
2.3.3. Zur Entwicklung des sozialen Verständnisses

3. Freundschaften im Kindes- und Jugendalter
3.1. Untersuchung von Valtin
3.1.2. Vorstellungen über einen guten Freund
3.1.1. Motive zur Freundschaft
3.1.3. Entstehung von Freundschaften…
3.1.4. Zum Ende einer Freundschaft
3.1.5. Geschlechtsspezifische Unterschiede
3.1.6. Zum Freundschaftskonzept von Jugendlichen
3.2. Auswahlkriterien eines potentiellen Freundes
3.3. Kontaktstrategien
3.3.1. Individuelle Voraussetzungen
3.3.2. Zur Bedeutung des Umfelds
3.3.3. Kontaktaufnahme
3.4. Entfaltung von Freundschaften
3.4.1. Motivation von Freundschaften
3.4.2. Formen von Freundschaften
3.4.3. Entwicklung von Freundschaften
3.4.4. Konflikte in Freundschaften
3.4.5. Geschlechtsunterschiede in Freundschaften
3.4.5.1. Mädchenfreundschaften
3.4.5.2. Jungenfreundschaften
3.4.5.3. Mädchen- und Jungenfreundschaften im Vergleich
3.5. Zur Bedeutung von Freundschaft
3.5.1. Bedeutung von Freundschaft im Kindesalter
3.5.2. Bedeutung von Freundschaft im Jugendalter

4. Außenseiter – Abgelehnte Kinder und Jugendliche
4.1. Externalisierungs- und Internalisierungsprobleme
4.2. Externe und interne Ursachen von Ablehnung
4.3. Auswirkungen von Ablehnung

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ein Großteil der Menschen hat Freunde und Freundschaft ist allgegenwärtig. Der Mensch ist als soziales Wesen darauf angewiesen, mit anderen Menschen zu interagieren und zu kommunizieren. Beziehungen zu Anderen bilden für die meisten von uns einen wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten Bestandteil unseres Lebens. Fast jeder braucht in bestimmten Zeiten und aus bestimmten Gründen andere Personen und wendet sich an sie. „Menschen sind eine sehr soziale Gattung. Sie suchen in den verschiedensten Situationen den gegenseitigen Kontakt, sie freunden sich mit anderen an und scheinen in ihren intimen Beziehungen sowohl größtes Glück als auch schlimmste Verzweiflung zu finden“ (Stroebe u.a. 2003, S. 415).

Die vorliegende Arbeit analysiert das Thema „Zur Bedeutung von Freundschaft im Kindes- und Jugendalter“. Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene haben ein allgemeines Bedürfnis nach Affiliation, nach sozialem Kontakt zu anderen. Sie streben danach sich anderen anzuschließen und verbringen einen erheblichen Teil ihres Lebens in der Gesellschaft anderer Menschen. Es wird angenommen, dass das menschliche Bedürfnis nach Affiliation zum großen Teil auf die Tatsache zurückgeht, dass der Zusammenhalt mit anderen in unserer evolutionären Vergangenheit die Überlebenschancen verbessert hat. Ein Mangel an Affiliation kann Einsamkeit, Depression und geringes Selbstwertgefühl, also psychische wie auch gesundheitliche Risiken zur Folge haben (vgl. Stroebe 2003, S. 424f). Gerade in schwierigen Situationen sucht man nach Nähe, Trost und Unterstützung. Der Mensch ist phylogenetisch so ausgestattet, dass er solche Belastungszustände kommuniziert, also Bindungsverhalten zeigt und als Reaktion Zuwendung erfährt. Dies ist bereits im Säuglingsalter beobachtbar, wenn mit etwa einem halben Jahr der Aufbau erster emotionaler Bindungen beginnt.

Die Eltern sind in der Regel die erste, aber keineswegs die einzige prägende Sozialisationsinstanz im Leben eines Menschen. Zu den wichtigsten außerfamiliären Beziehungssystemen zählen neben der Schule vor allem die Gleichaltrigengruppe, die so genannte Peergroup. Die Peergroup umfasst Freundschaftsbeziehungen, Spiel-, Nachbarschafts- und Schulgruppen, Zweierfreundschaften sowie Cliquen. Peergroups oder Gleichaltrigengruppen bezeichnen Gruppen von Menschen, die sich durch einen ähnlichen Entwicklungsstand, vergleichbaren sozialen Rang sowie gleichen Alters auszeichnen (vgl. Kolip 1993, S. 74).

Das Kindesalter erstreckt sich rechtlich wie auch entwicklungspsychologisch von der Geburt bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres beziehungsweise bis zum Beginn der Geschlechtsreife (vgl. Böhm 1994, S. 383). Bereits ab Mitte des ersten Lebensjahres nehmen Kinder schon gerne Kontakte zu Kindern auf, indem sie diese anblicken, anlächeln, berühren oder ihnen Spielzeuge zeigen. Man kann beobachten, dass Babys auf das Gesicht eines Kindes über der Wiege mit freudiger Überraschung, mit Juchzen und Lachen, mit Strampeln und Bewegungen der Hände reagieren. Wenn sie dann zu laufen beginnen, versuchen sie immer, sobald ein Kind in der Nähe ist, diesem nachzulaufen. Es sind oft zufällige Begegnungen wie ein Nebeneinanderspielen im Sandkasten mit spontanen Freundschaftsbeweisen, die darin bestehen können, dass ein Kind zu einem fremden Kind hingeht und es umarmt und küsst, aber auch, dass es einem anderen Kind ein Spielzeug aus der Hand nimmt oder es wegschubst. Die ersten Kinderfreundschaften bilden sich ab dem dritten Lebensjahr, in der Zeit des Eintritts in den Kindergarten. Nun suchen die Kinder gezielt nach Spielkameraden. Wenn sich Kinder dann öfter begegnen und miteinander spielen, bilden sich Sympathien, die zur Freundschaft werden. Allerdings werden im frühen Kindesalter nicht wirklich Gemeinschaftsspiele praktiziert, sondern vielmehr nebeneinander gespielt. Die Kinder sind oft noch mit sich selbst beschäftigt und Piaget spricht sogar von dualistischen oder kollektiven Monologen. Sie erzählen sich der Reihe nach etwas, scheinbar einander zuhörend, allerdings stellt sich bei genauerer Beobachtung heraus, „dass jeder nur für sich selbst einen Monolog hält, eine Gemeinschaftsbezogenheit noch nicht gegeben ist. Erst mit Beginn des Schulalters entwickeln sich dann Gemeinschaftsspiele, bei denen alle Kinder das gleiche tun […]“ (Spiel (Hrsg.) 1980, S. 99). Ab diesem Alter beziehen Kinder ihre Interaktion aufeinander. Aufgrund dessen richte ich mein Interesse in dieser Arbeit auf Kinder im Alter von fünf bis vierzehn Jahren, da sie ab dem Schuleintritt auch verstärkt selbstständig werden; also die Möglichkeit haben sich selbst Freunde zu suchen und selbst den Kontakt aufrecht zu erhalten. Hinzu kommt dass erst im Schulalter Interviewtechniken ermöglichen, das Freundschaftsverständnis von Kindern zu rekonstruieren. Des Weiteren beziehe ich mich auf Jugendliche im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren, da in dieser Altersgruppe, vor allem um die Pubertätszeit herum, die meisten Veränderungen in Freundschaften auftreten. Als Zeit zwischen Kindes- und Erwachsenenalter ist das Jugendalter charakterisiert durch zahlreiche körperliche, soziale und psychische Veränderungen sowie durch typische Entwicklungsaufgaben wie die Bewältigung körperlicher Veränderungen von einer kindlichen zu einer erwachsenen Person, die Ablösung vom Elternhaus, die Berufsfindung sowie den Aufbau von gleich- und gegengeschlechtlichen Freundschaften. Die Aufnahme von Freundschaften stellt eine Entwicklungsaufgabe im Jugendalter dar und gehört auch bereits im Kindesalter zu den zentralen Aspekten einer gesunden Entwicklung. In dieser Arbeit beschäftige ich mich mit der Frage: Welche Bedeutung hat Freundschaft im Kindes- und Jugendalter? Im Rahmen dessen gilt es zu klären, was die Effekte von Freundschaften im Kindes- und Jugendalter sind; welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit Freundschaften entstehen; was die Inhalte von Freundschaftsbeziehungen sind sowie welche Gründe das Fehlen von Freundschaften hat und was die Auswirkungen davon sind.

Zu Beginn der Arbeit wird die Definitionsproblematik des Begriffs Freundschaft aufgezeigt und eine Auswahl an Definitionen dargeboten. Daran anschließend wird die Freundschaftsdefinition von Kindern und Jugendlichen, anhand der Ansichten von Selman und Youniss sowie der Entwicklung des sozialen Verständnisses, untersucht. Zum Einstieg in das dritte Kapitel soll die Studie von Valtin zum Freundschaftskonzept von Kindern und Jugendlichen dienen. Danach werden die Auswahlkriterien eines potentiellen Freundes sowie die Bedeutung der individuellen Voraussetzungen und des Umfeldes bei der Kontaktaufnahme aufgezeigt. Des Weiteren wird die Entfaltung von Freundschaft in diesem Kapitel durchleuchtet. Es soll geklärt werden, weshalb Kinder und Jugendliche Freundschaften eingehen und wie sich Freundschaften entwickeln. Außerdem werden Konflikte in Freundschaften sowie geschlechtsspezifische Unterschiede untersucht. Zum Ende des dritten Kapitels erfolgt eine Analyse der Bedeutung von Freundschaft im Kindes- und Jugendalter. Das vierte Kapitel behandelt das Thema Außenseiter. Es werden verschiedene Ursachen von Ablehnung durch Gleichaltrige sowie die Auswirkungen von Ablehnung dargestellt. Im letzten Kapitel erfolgt ein Fazit der Arbeit, außerdem wird die Bedeutung von Freundschaft auch für die Gesellschaft resümiert.

2. Zum Begriff Freundschaft

Freundschaft ist eine für uns vertraute Form zwischenmenschlicher Beziehung, die in allen Lebensaltern, in allen sozialen Schichten, bei Jungen und Mädchen, Männern und Frauen vorkommt. Jeder Mensch scheint zu wissen, was Freundschaft ist, dennoch ist sie kaum in Worte zu fassen. Freundschaft ist eine Form von Liebe, so weist das lateinische Wort amicus für Freund, das von amare kommt und lieben heißt, auf die Verwandtschaft von Freundschaft und Liebe hin. Dennoch schließen wir die sexuelle Komponente aus einer Freundschaftsbeziehung aus.

Die Annäherung an das Phänomen Freundschaft ist auch eine Annäherung an die eigene Biographie, so hat jeder seine ganz persönlichen Erfahrungen zu diesem Thema gemacht, denn Freundschaft ist ein Bestandteil unseres Lebens und in jedem Menschen besteht das Bedürfnis nach sozialen Beziehungen. Freundschaften sind spezielle Beziehungen. Sie gründen sich auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit. Sie brauchen kontinuierliche Stützung. So fühlen sich trotz der Freiwilligkeit gerade beste Freunde dazu verpflichtet, in ihrer Freundschaft ein hohes Maß an Vertrauen, Hilfeleistung, Unterstützung und Verständnis zu bieten, und erwarten dies auch vom Anderen. Freunde zeichnen sich also durch eine besondere Qualität im Umgang miteinander aus. Freundschaften sind informell, sie werden nicht offiziell geregelt und haben ihre eigenen Normen und Regeln. Sie bilden sich und bestehen über einen ausgedehnten Zeitraum, dafür müssen sich die Beteiligten kennen lernen und eine Beziehung zueinander aufbauen. Wenn sich die Beziehung konstituiert hat, dauert diese auch längere Zeit an.

Freundschaft ist ein Begriff, der nie an Aktualität verliert, sich aber ständig ändert und schwer zu fassen ist. Was Freundschaft ist hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. In allen Kulturen und Epochen existierte der Begriff, wenn auch mit unterschiedlichem Verständnis. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass es durch die Vielschichtigkeit des Begriffes Freundschaft keine generelle Freundschaftsdefinition geben kann, weil Freundschaft für jeden Menschen etwas anderes ist. Außerdem erfolgt eine Darlegung des Freundschaftskonzeptes von Kindern und Jugendlichen, welches sich im Laufe der Entwicklung verändert.

2.1. Problemdarstellung der Freundschaftsdefinition

In diesem Abschnitt werden die Probleme der Begriffsbestimmung von Freundschaft aufgeführt, um die Vernachlässigung des Themas Freundschaft in der Forschung verständlich zu machen und die Komplexität des Begriffes Freundschaft zu veranschaulichen. So besteht eine große Bandbreite von Freundschaftsdefinitionen. Interpersonal und interkulturell herrscht ein unterschiedliches Verständnis von Freundschaft. Hinzu kommt, dass Freundschaft ein soziales Phänomen ist, das im Inhalt dem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Der Begriff Freundschaft wird alltagspsychologisch sehr unterschiedlich verstanden. Ein Freund kann jemand sein, mit dem man zum Fußballspiel geht, mit dem man alle intimen Gedanken austauscht oder den man schon sein ganzes Leben lang kennt. Ein Merkmal der Freundschaft ist, dass sie so wenig wirklich eindeutige Merkmale besitzt.

Die individuell unterschiedliche Wahrnehmung von Freundschaft belegt Ursula Nötzoldt-Linden mit einer Studie zur Erwachsenenfreundschaft, in der geprüft wurde, ob die im Interview angegebenen besten oder engen Freunde umgekehrt ihre Beziehung zu der jeweiligen Person genauso eingestuft haben. 64 Prozent der Befragten erwähnten die Erstinterviewten nicht einmal, da die Beziehung zu denjenigen Personen, von denen sie als beste oder enge Freunde benannt wurden, für sie keine Freundschaftsbeziehung war (vgl. Nötzholdt-Linden 1994, S. 24). Das Ergebnis verweist auf große Diskrepanzen in der Wahrnehmung und dem Erleben von Freundschaft bei Individuen.

Es gibt verschiedene Freundschaftsdefinitionen in verschiedenen Kulturen, die sich zudem noch nach Geschlechtern, Alter und Stand unterscheiden. In Amerika scheint der Begriff "friend" ein allgemeinerer Titel zu sein, als in Europa. Er bezeichnet Menschen, auf die sonst kein anderer Titel im sozialen Leben passt. Enge persönliche Beziehungen werden mit dem Begriff close betitelt (vgl. Auhagen 1991, S. 5). Diese unterschiedlichen Auffassungen der Definition von Freundschaft bringen forschungstechnische Probleme mit sich. Die Operationalisierung des Begriffes ist schwierig und aus diesem Grund widmen sich Forscher meist nur bestimmten Teilgebieten des Phänomens. Hays führt Aspekte auf, nach denen die Freundschaftsdefinitionen variieren. Diese Aspekte umfassen den Lebenszyklus, den soziokulturellen Hintergrund, die verschiedenen Geschlechter und die verschiedenen Entwicklungsstände der jeweiligen Freundschaften. Ein Freund könne ganz vieles sein: Ein Kumpel, mit dem man Federball spielt, eine intimer Vertrauter, mit dem man seine privaten Gedanken und Gefühle teilt, jemand, der in einem anderen Land lebt und mit dem man einmal im Jahr Briefe tauscht, oder jemand, den man alle paar Tage mal trifft (vgl. Hays 1988, S. 391).

Auhagen bemerkt ein wichtiges Merkmal der Freundschaft, sie macht wenig inhaltliche Vorgaben an ihre Beteiligten. Es erscheint somit fraglich, ob es überhaupt sinnvoll ist, Freundschaft definieren zu wollen (vgl. Auhagen 1993, S. 14). Eine Schwierigkeit, die sich aus dem Facettenreichtum von Freundschaft und dem Definitionsproblem für eine einheitliche Forschung ergibt, ist die Möglichkeit des eventuellen Ausschlusses bestimmter Freundschaftsformen von einer Untersuchung durch festgelegte Definitionen. Sollen beispielsweise Konflikte zwischen Freundespaaren untersucht werden, könnte es sein, dass vielleicht gegengeschlechtliche Freundespaare ausgeschlossen werden, weil sie in der Definition nicht berücksichtigt wurden. Das Problem der Definition wirkt einer einheitlichen Forschung entgegen. Freundschaft ist zu komplex, um in einer einzigen Definition vollständig erfasst werden zu können, was zu verschiedenen Definitionen des Begriffes Freundschaft führt.

2.2. Definitionen von Freundschaft

Aufgrund der Komplexität des Begriffes Freundschaft wurden viele unterschiedliche Definitionen entwickelt, die alle für sich den Anspruch erheben, die wichtigsten Dimensionen von Freundschaft zu erfassen. In diesem Abschnitt sollen einige dieser Definitionen vorgestellt werden, um sich einem Freundschaftsbegriff anzunähern und die große Bandbreite von Freundschaftsdefinitionen zu verdeutlichen. Es besteht dabei kein Anliegen, eine wissenschaftlich fundierte Definition von Freundschaft zu entwickeln. Vielmehr soll als Grundlage für diese Arbeit ein Verständnis dafür entstehen, was Freundschaft ist und bedeutet. Es werden die grundsätzlichen Charakteristika von Freundschaft aufgezeigt. So ist Freundschaft zwar komplex, aber in den verschiedenen Definitionen finden sich doch eindeutige Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen darüber, was Freundschaft ist.

Schon in der Antike spielte Freundschaft eine große Rolle und verschiedene Philosophen dieser Epoche haben sich mit ihr beschäftigt, unter anderen Aristoteles. Er betonte in seiner "Nikomachischen Ethik" drei Motive Freundschaften einzugehen: Freundschaft um des Wesens Willen, des Nutzens Willen und der Lust Willen. Für ihn ist Freundschaft eine eigenständige Sozialbeziehung, die in der Gemeinschaft höchst notwendig und nicht mit anderen Bindungen identisch ist (vgl. Aristoteles 1956, S. 170f). Er nennt die Wichtigkeit der Gleichheit der Beteiligten und dass gemeinsames Aufwachsen sowie Gleichaltrigkeit großen Einfluss auf Freundschaften habe: "Vollkommene Freundschaft von trefflichen Charakteren, die gleich sind" (Aristoteles 1956, S. 174). Treffliche seien einander gut, nützlich und angenehm: "Freundschaft hat Werte und Lust zum Ziel und beruht auf Wesensgleichheit“ ( Aristoteles 1956, S. 174).

Der Soziologe Tönnies stimmt in dem Aspekt der Gleichheit als Basis für Freundschaft mit Aristoteles überein. Er vertritt die Meinung, dass die Arbeit einander verbinde und Freundschaften entstehen lasse, wodurch ein geistiges Band der Beteiligten entsteht. Freundschaft ist laut Tönnies mentaler Natur und beruht auf Zufall oder freier Wahl (vgl. Tönnies 1926, S. 15).

Kracauer beschreibt Freundschaft als das engste geistige Verhältnis, das die loseren Beziehungen der Kameradschaft, Fachgenossenschaft und Bekanntschaft mit einfasst. Er beschreibt die wahrhafte Freundschaft, die für ihn in der Pflege ähnlicher Gesinnungen besteht und gemeinsame Entwicklungen voraussetze. Es sollte eine Übereinstimmung in den Idealen und im Begreifen der Welt und der Menschen vorhanden sein. Außerdem ist Freundschaft durch Wachstum wechselseitig geprägt (vgl. Kracauer 1971, S. 46 f).

Eine Wurzel der Freundschaft sieht Tenbruck in der Ich-Findung des Menschen. Jeder Mensch braucht ein Selbstbild von sich, das er nur über einen anderen gespiegelt bekommt. Er hebt den funktionalen Charakter für das Ich hervor und spricht in seiner Definition von einer hochpersonalisierten Beziehung, die aus eigenständigen Gefühlen hervor wächst und sich in der Konzentration auf den Anderen erfüllt, indem sie dadurch gleichzeitig die Stabilisierung des eigenen Ich leistet (vgl. Scherm 1978, S.162f).

Mielenbrink ergründet die wesensmäßigen Bestandteile einer Freundschaft und stößt auf fünf spezifische Merkmale: die Freiheit der Wahl des Freundes, die Freiheit des Freundschaftsverhältnisses von unmittelbaren Zwecken, die geistig-seelische Beziehungsform der Freundschaft, das Vertrauen in der Freundschaft und die Hervorhebung der Freundschaft als Dauerverhältnis (vgl. Scherm 1978, S. 157).

Mills bezeichnet Freundschaft als den Prototyp emotionaler Beziehungen und beschreibt sie als eine sozial ausgeglichene und ausgleichende Kontaktform. „Freundschaft ist frei von einem bestimmten Ziel, frei von zeitlichen und räumlichen Beschränkungen, ausdehnungsfähig und aufnahmefähig für positive und negative Gefühle“ (Scherm 1978, S. 162). So wird es der Gruppe ermöglicht, sich in selbstständig operierende Untergruppen zu teilen, ohne dass diese die emotionale Bindung an ihren gemeinsamen Ursprung verlieren. Andere Theoretiker sehen gerade darin eine Gefährdung der Freundschaft.

Bell sieht die Gleichheit als wichtigen Aspekt in Freundschaften. Freundschaft sei freiwillig und persönlich und die Entwicklung von Freundschaft basiere auf privaten Verhandlungen und sei nicht von kulturellen Werten oder Normen beeinflusst (vgl. Bell 1981, S. 10).

In Abgrenzung zu anderen sozialen Beziehungen erläutern Argyle und Henderson Freundschaft als eine Form der menschlichen Beziehungen, die nicht wie, die Ehe, durch eine Zeremonie begründet wird und auch nicht, wie zwischen Arbeitskollegen oder Verwandten, abhängig von irgendwelchen Rollenbezügen sei. Freundschaft umschließt Menschen, die einander mögen und gern gemeinsam bestimmte Dinge unternehmen. Des Weiteren sei Freundschaft freiwillig und ohne klar umrissene Regeln (vgl. Argyle/Henderson 1986, S. 80f).

Hays versucht die Komplexität des Begriffes Freundschaft in der Definition mitzuerfassen. Für ihn ist Freundschaft ein flexibler, dynamischer und multidimensionaler Prozess, dessen Struktur und Funktionen je nach beteiligten Individuen, dem Umfeld und dem Entwicklungsstand der Freundschaft variieren (vgl. Hays 1988, S. 391).

Freundschaft ist für Auhagen eine dyadische, persönliche und informelle Sozialbeziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht und für jeden der Freunde einen Wert besitzt, welcher unterschiedlich starkes Gewicht haben und aus verschiedenen inhaltlichen Elementen zusammengesetzt sein kann (vgl. Auhagen 1993, S. 207).

Nötzoldt-Linden definiert Freundschaft als "eine auf freiwilliger Gegenseitigkeit basierende dyadische, persönliche Beziehung zwischen nicht verwandten, gleichgeschlechtlichen Erwachsenen in einer Zeitspanne" (Nötzoldt-Linden 1994, S. 29). Damit hat sie eine sehr allgemeine Definition entwickelt, die allumfassend ist aber gegengeschlechtliche Freundschaft wiederum ausschließt.

Eine pädagogische Definition von Freundschaft lautet: “Freundschaft ist eine für den Aufbau des Sozialcharakters des Menschen notwendige personale Beziehung zwischen zwei oder mehr Personen, die ihr Gelingen einem schon in früher Kindheit einsetzenden und durch soziales Lernen beeinflussbaren Entwicklungsprozess der Freundschaftsfähigkeit verdankt und zu deren […] Bestand die Realisierung eines emotionalen, personalen, sozialen und pragmatischen Moments in einer ihr typischen Weise gehört“ (Scherm 1978, S. 262).

Die aufgeführten Definitionen von Freundschaft unterscheiden sich, indem verschiedene Aspekte der Freundschaft berücksichtigt und einbezogen oder außer Acht gelassen werden. Jedoch sind die Autoren sich in bestimmten Punkten weitgehend einig: Freundschaft ist eine persönliche Beziehung, die auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit beruht und für eine unbestimmte Dauer eingegangen wird. Sie ist nicht an bestimmte Rollenerwartungen gebunden und wird nicht von Gesetzen oder Regeln bestimmt. Einige Autoren betonen die Relevanz der Gleichheit oder Ähnlichkeit der Beteiligten. Freundschaft ist also eine persönliche, informelle Sozialbeziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht und einen individuell unterschiedlichen Wert besitzt. Freundschaft wird außerdem durch folgende Kriterien charakterisiert: Sie ist freiwillig bezüglich der Wahl, der Gestaltung sowie des Fortbestandes der Beziehung. Sie hat eine zeitliche Ausdehnung und beinhaltet somit einen Vergangenheits- und einen Zukunftsaspekt. Und schließlich ist ein positives gemeinsames Erleben unabdingbar für eine Freundschaft.

2.3.Freundschaftsdefinition im Kindes- und Jugendalter

Die Definition von Freundschaft bei Erwachsenen unterscheidet sich von der Freundschaftsdefinition bei Kindern und Jugendlichen, wobei sich die Ansicht darüber, was Freundschaft ist und was oder vielmehr wer ein Freund ist, im Zuge des Älterwerdens verändert. Unter jüngeren Kindern besteht nach deren Freundschaftsauffassung bereits Freundschaft, wenn man sich namentlich kennt, während bei Kindern im mittleren Kindesalter die Nettigkeit im Vordergrund steht. „Freunde nehmen sich nichts weg oder führen sich hochnäsig auf, und sie streiten nicht oder sind anderer Meinung. Wenn du nett zu ihnen bist, sind sie auch nett zu dir“ (Rubin 1981, S. 33). Im Teeniealter zählt vor allem die Vertrautheit: „Eine Freundin ist jemand, mit der man um drei Uhr morgens mit Clearasil im Gesicht Geheimnisse austauschen kann“ (ebd.). Jugendliche suchen in Freundschaften die interpersonale Erfahrung, gegenseitiges Verständnis und Sympathie. Es reicht nicht mehr nur einen Spielgefährten für gemeinsame Interessen zu haben. Gemeinsam haben sowohl die Definition von Erwachsenen als auch die Definition von Kindern und Jugendlichen, dass mit Freunden, Menschen außerhalb des Familienkreises gemeint sind, die ein gewisses Gefühl von Zugehörigkeit und Identität fördern.

Im Folgenden wird das Stufenmodell des Freundschaftsverständnisses von Selman sowie Youniss` Ergebnisses zum Freundschaftskonzept von Kindern und Jugendlichen vorgestellt. Im Anschluss daran erfolgt ein Vergleich beider Ansätze im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung mit der Entwicklung des sozialen Verständnisses.

2.3.1. Stufenmodell nach Selman

Der amerikanische Entwicklungspsychologe Robert Selman und seine Kollegen untersuchten die entwicklungsbedingten Veränderung des Freundschaftsverständnisses bei Kindern, dessen Wandel im Laufe der Kindheit nicht zufällig zu sein scheint. Demnach geht die Entwicklung des Freundschaftsverständnisses einher mit der Entwicklung der kognitiven Strukturen nach Piaget. Inhaltlich lehnt Selman sich an G.H. Mead an. Von ihm leitet er die zentrale Variable seiner Untersuchungen ab, die Fähigkeit zur Übernahme beziehungsweise Koordination sozialer Perspektiven, die der Entwicklung des Freundschaftsverständnisses zugrunde liegt. Selman führte 1981 Dilemmainterviews mit 93 Jungen und Mädchen im Alter von drei bis 14 Jahren durch, durch die er herauszufinden versuchte, wie das Kind selbst seine soziale Welt versteht. Dabei beschrieb er fünf Entwicklungsstufen der Freundschaft.

Auf Stufe 0 ist Freundschaft eine augenblicksbezogene Interaktion. Für das etwa drei- bis siebenjährige Kind ist ein Freund, derjenige, mit dem es gerade spielt, also ein Spielkamerad, der momentan anwesend ist. Die Freundschaft ist äußerst instabil, da die Kinder diesen Alters noch keinen Begriff von dauerhaften Beziehungen haben, die über eine aktuelle Interaktion hinausgehen. Insofern sind die psychologischen Attribute, die Charakterzüge des Spielkameraden nicht von Bedeutung. Es kann noch nicht zwischen der eigenen Perspektive und der anderer unterscheiden, ebenso wenig kann es einen Unterschied zwischen physischen und psychischen Dimensionen machen.

Auf Stufe 1, welche üblicherweise im vierten bis achten Lebensjahr erreicht wird, begreift das Kind Freundschaft als einseitige Hilfeleistung. Ein Freund ist jemand, der Dinge tut, die einem gefallen, der die eigenen Ziele fördert und sich dem eigenen Standard anpasst. Nach diesem Kriterium wird ein Freund auch ausgewählt. Eine Differenzierung physischer und psychischer Dimensionen ist nun möglich, sie sind sich aber noch nicht über die Reziprozität einer Freundschaft bewusst und können nicht die Perspektive des anderen einnehmen.

Diese Reziprozität wird erst auf Stufe 2 entdeckt. Im siebten bis dreizehnten Lebensjahr wird Freundschaft als etwas verstanden, wo jeder der Freunde die Bedürfnisse des anderen berücksichtigen muss. Freundschaft wird als wechselseitige Beziehung gesehen. Es ist dem Kind nun möglich die Sichtweise des anderen zu verstehen. Das Bewusstsein der Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit, die Erkenntnis, dass Absichten und Wünsche von beiden Partnern übereinstimmen müssen, ist allerdings noch an spezifische Ereignisse gebunden und umgreift nicht die gesamte Beziehung, verdichtet sich somit noch nicht auf die Freundschaft selbst als eine dauerhafte soziale Beziehung. Bei auftretenden Konflikten kann diese Freundschaftsform der zweiten Stufe leicht zerbrechen. Selman bezeichnet dies als Schönwetter-Kooperation (vgl. Wagner 1991, S. 48ff).

Im späten Kindesalter beziehungsweise frühen Jugendalter (9 bis 15 Jahre) auf Stufe 3 wird Freundschaft als eine intime und gegenseitig gestützte Beziehung mit einer überdauernden affektiven Bindung zwischen beiden Parteien beschrieben, welche auch geringfügigen Konflikten standhält. Kinder in diesem Alter können über Intimität und Gegenseitigkeit in länger andauernden Beziehungen nachdenken. Sie können die Beziehung von außen betrachten, indem sie die Perspektive eines Dritten einnehmen. Die Zwei-Personen-Clique wird allerdings überbetont, es herrscht ein Besitzdenken vor aus Angst den anderen zu verlieren, denn enge Beziehungen sind nicht so einfach zu bilden und es erfordert ständige Anstrengung sie zu unterhalten (Schmidt-Denter 2005, S. 102).

Auf der letzten Stufe, Stufe 4, ab einem Alter von 12 Jahren, ist Freundschaft etwas, was aus gegenseitiger sozialer Unterstützung besteht, woraus Freunde Energie ziehen und ihre eigene Identität durch Identifikation mit dem anderen erweitern. Es besteht eine „autonome Interdependenz“ (ebd.). Freundschaft wird als ein Prozess der Veränderung und Transformation aufgefasst, in dem beide Partner Gefühle von Abhängigkeit und Unabhängigkeit miteinander vereinbaren: unabhängig, weil der Freund auch Beziehungen zu anderen eingehen darf, um sich auch in anderer Weise weiterzuentwickeln; abhängig, weil man das Gefühl hat, sich auf den anderen verlassen und ihm vertrauen zu können. Außerdem gewinnt man durch diese Beziehung ein Gefühl von persönlicher Identifikation. Auch die Eigenheiten und die Bedürfnisse des Anderen, die den eigenen Wünschen entgegengesetzt sein können, werden akzeptiert (vgl. Wagner 1991, S.49).

Die einzelnen Stufen des Modells von Selman bauen aufeinander auf, wobei die jeweils höhere Stufe durch das Verfügen über ein neues operationales Prinzip auf Seiten des Kindes oder Jugendlichen gekennzeichnet ist. Kinder und Jugendliche können somit eine obere Grenze des Freundschaftsverständnisses erreichen und dabei stets auch auf frühere Konzepte zurückgreifen. Tiefere Stufen werden nicht aufgegeben, sondern es wird auf ihnen aufgebaut und sie bleiben verfügbar.

2.3.2. Zum Freundschaftskonzept von Youniss

Der amerikanische Psychologe Youniss befasste sich mit der Funktion von Freundschaft in der sozialen und moralischen Entwicklung eines Kindes und der Beschreibung von Freundschaft als interpersonaler Beziehung. Er lehnt sich an die theoretischen Darlegungen Piagets und Sullivans an, die beide die entwicklungspsychologische Bedeutung von Freundschaften zu Gleichaltrigen gegenüber der Beziehung zu den Eltern hervorheben (vgl. Wagner 1991, S. 41). Freundschaftsbeziehungen haben nach Youniss eine immense Bedeutung für das Erlernen des Umgangs mit Intimität und zwischenmenschlicher Sensibilität (Schuster, 1994, S. 39).

Youniss interessierte sich vor allem für das Verständnis zwischenmenschlicher Handlungen, die der Herstellung und Aufrechterhaltung von Freundschaften dienen (vgl. Berse/Richelmann 1996, S. 40). Er greift die phasische Entwicklungsvorstellung Piagets auf und ergänzt sie um den Begriff der Reziprozität, um zu verdeutlichen, dass jeder Mensch in einer Interaktion mit anderen sowohl Sender als auch Empfänger ist. Es gibt zwei Arten der Reziprozität: die symmetrische, welche nach Youniss unter Kindern und Jugendlichen praktiziert wird, und die komplementäre, welche die Beziehung zwischen Eltern und Kind darstellt. Unter einer symmetrischen Reziprozität übt keiner der Interaktionspartner Kontrolle über den anderen aus, denn beide sind gleichberechtigt. Während bei der Beziehung zwischen Eltern und Kind, wo eine komplementäre Reziprozität vorherrscht, die Interaktion stärker von den Eltern gelenkt wird (vgl. Merkens 2000, S.25). In Beziehungen, in denen symmetrische Reziprozität praktiziert wird, können Kinder und Jugendliche sich selbstständig Normen und Werte aneignen, sie adaptieren nicht bloß die Werte und Normen der Eltern, wie es in einer komplementären Reziprozität zu den Eltern der Fall ist.

Youniss forderte Kinder und Jugendliche in einer Untersuchung auf, Interaktionen mit ihren Eltern und Freunden zu beschreiben. Die Beschreibungen der Freundschaftsbeziehungen zeigten mit zunehmendem Alter eine Betonung der gemeinsamen Aktivitäten, der Gespräche sowie der gegenseitigen Unterstützung und des Verständnisses. „Die Intimität spielt also in den Freundesbeziehungen eine zunehmende Rolle“ (Schuster 1994, S. 40). Im Vergleich zu der Beziehung zu den Eltern werden Freundschaftsbeziehungen als gegenseitiger eingestuft (vgl. Schuster 1994, S. 41). Zudem verdeutlicht Youniss, dass das soziale Denken ein Aneignungsprozess ist, der sich durch interpersonale Interaktionen entfaltet (vgl. Merkens 2000, S. 27). In Beziehungen zwischen Freunden, die sich durch symmetrische Reziprozität auszeichnen, entstehen zahlreiche Situationen, in denen Kinder und Jugendliche soziales Denken erleben und entwickeln können. So verhält es sich beispielsweise, wenn sie in eine Konfliktsituation geraten. Wollen sie die Interaktion fortsetzen, müssen sie gemeinsam eine Lösung für das Problem erarbeiten. Sie müssen diskutieren, Lösungsvorschläge machen, abwägen, kooperieren oder nicht. Im Leben der Kinder wiederholen sich solche Momente und dadurch kommen sie in Erfahrung mit unterschiedlichen Vorstellungen von sozialen Dimensionen, woraus sich mit der Zeit ein Gesamtbild entwickelt.

Nach Youniss entwickeln sich Freundschaftsvorstellungen von einer einfachen Verknüpfung von Freundschaft mit dem Teilen materieller Güter oder angenehmer Aktivitäten zu einem reiferen Verständnis von Freundschaft auf der Basis des Teilens intimer Gedanken und Gefühle vor dem Hintergrund gegenseitiger Rücksichtnahme und Unterstützung (vgl. Berse/Richelmann 1996, S. 40).

2.3.3. Zur Entwicklung des sozialen Verständnisses

Aufgrund einer kognitiven und sozialen Reifung findet nach Selman ein Wandel im Verständnis von Freundschaft statt. Ein jüngeres Kind kann sich noch nicht in andere hineinversetzen, es betrachtet Freundschaft einseitig und egozentrisch. Erst im Älterwerden wird es langsam fähig Dinge vom Standpunkt eines Anderen zu betrachten, um schließlich in der weiteren Entwicklung die Freundschaftsbeziehung mit den Augen eines Dritten zu sehen. Ab diesem Entwicklungsstand werden dann auch ineinander greifende Bedürfnisse und Bedingungen berücksichtigt. Hinzu kommt, dass das Kind im Laufe des Älterwerdens Menschen nicht mehr als bloße physische sondern auch als psychische Wesen wahrnimmt. Bei jüngeren Kindern spielen vor allem physische Attribute eine Rolle, während bei älteren immer mehr die psychischen Attribute wichtig werden. Somit vollzieht sich eine Entwicklung von den wahrnehmbaren, in der aktuellen Situation vorhandenen Eigenschaften des Anderen zu den vermuteten, darunter liegenden Eigenschaften. Dieser Fortschritt hängt sowohl von der Entwicklung vom konkreten zum abstrakten Denken des Kindes ab als auch von der kulturellen Sozialisation. Kinder und Jugendliche werden beeinflusst durch das Verhalten Erwachsener, älterer Kinder und Jugendlicher oder die Medien, anhand derer sie erkennen, wer, wie und was Freunde sind und sich so auch die Freundschaftsauffassung ihres jeweiligen kulturellen Umfelds aneignen.

Die meisten Entwicklungspsychologen glauben, dass das Kind oder der Jugendliche selbst durch tatsächliche Begegnungen mit anderen herausfindet, worum es sich bei sozialen Beziehungen handelt. So entdecken sie, dass andere ähnlich oder unähnlich sind und dass man die Interessen des Anderen berücksichtigen muss, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Trotz systematischer Forschung ist es aber noch nicht gelungen festzuhalten, wie spezifische Erfahrungen zur Entwicklung des sozialen Bewusstseins von Kindern und Jugendlichen beitragen (vgl. Rubin 1981, S. 41f). In dieser konstruktivistischen Auffassung besteht zwischen dem Alter eines Kindes und dem Grad seines zwischenmenschlichen Verständnisses kein zwangsläufiger Zusammenhang. Denn das Alter, in dem Kinder anfangen über Freundschaft auf bestimmten Stufen nachzudenken, variiert stark. Die Entfaltung des sozialen Verständnisses ist sowohl vom Grad der Entwicklung intellektueller Fertigkeiten, worin sich Kinder voneinander unterscheiden, sowie von spezifischen sozialen Erfahrungen abhängig, die noch stärker voneinander abweichen. Das Alter eines Kindes gibt also keine genaue Auskunft über die Art des Freundschaftsverständnisses (vgl. Rubin 1981, S. 42f). Zusätzlich herrschen Diskrepanzen zwischen dem Handeln und dem Denken, so Piaget: „Tatsächlich ist das Denken gegenüber dem Handeln immer verspätet, und die Zusammenarbeit muss schon lange in der Praxis existieren, bevor das Denken ihre Folgen ins volle Licht rücken kann“ (Rubin 1981, S. 43). Dies erklärt, warum in den Antworten von Kindern auf Fragen über Freundschaft oft Widersprüche auftreten. Wenn ein Kind noch keine konkreten Erfahrungen mit bestimmten Situationen wie dem Ende einer Freundschaft gemacht hat, kann es sich dazu auch noch keine ausgereiften Vorstellungen machen.

Es hat sich herausgestellt, dass es bei der Entwicklung des Freundschaftsverständnisses geschlechtsspezifische und schichtenspezifische Unterschiede gibt. So scheinen im Allgemeinen die Mädchen den Jungen voraus zu sein und Mittelschichtkinder im Alter von sieben bis elf Jahren ein höheres Niveau interpersonalen Verstehens als Kinder aus der Arbeiterschicht aufzuweisen. Bei den Elf- bis Vierzehnjährigen herrscht dann allerdings kein Unterschied mehr. Somit beeinflussen also Schicht und Geschlecht das Tempo der Entwicklung des Freundschaftsverständnisses, aber nicht die Art (vgl. Wagner 1991, S. 57f).

Kinder und Jugendliche übernehmen nicht einfach den Freundschaftsbegriff von Erwachsenen oder Gleichaltrigen, sondern bilden und modifizieren ihn selbst im Umgang mit anderen Interaktionspartnern. So wird das Freundschaftsverständnis mit dem jeweiligen Freund ausgehandelt, sie geben einander zu verstehen, was sie vom anderen erwarten und was die Folgen sein werden, falls diese Erwartungen enttäuscht werden. Beide Freunde sind daran beteiligt die soziale Realität ihrer Freundschaftsbeziehung zu konstruieren. Youniss bezeichnet dies als „Ko-Konstruktion sozialer Perspektiven“ (Wagner 1994, S. 23). Während für Youniss die gemeinschaftliche Konstruktion des Freundschaftsbegriffes im Mittelpunkt steht, ist es in Selmans Entwicklungsmodel die Fähigkeit zur Koordination sozialer Perspektiven, die dem Freundschaftsverständnis zugrunde liegen. Die sozialen Erfahrungen und die intellektuellen Fähigkeiten beeinflussen den Entwicklungsgang, dessen Tempo von der Schichtzugehörigkeit und dem Geschlecht des Kindes und Jugendlichen bestimmt wird (vgl. Wagner 1994, S. 37).

Nach Bigelow lassen sich drei Stufen des Freundschaftskonzeptes im Schulalter unterscheiden. Die erste Stufe, welche im Alter von sieben bis neun Jahren erreicht wird, ist die Belohnungsstufe. Auf dieser Stufe ist ein Freund, wer besonders belohnend erscheint, wer in der Nähe wohnt, ein interessantes Spielzeug hat und ähnliche Spielinteressen hegt. Auf der zweiten Stufe, der normativen Stufe, werden für zehn- bis elfjährige Kinder die gemeinsamen Werthaltungen und die gegenseitige Unterstützung sowie Loyalität wichtig. Die dritte Stufe, ab einem Alter von zwölf, ist gekennzeichnet von einer starken Selbstoffenbarung sowie dem Teilen von Geheimnissen. Sie wird empathische Stufe oder internal-psychologische Stufe genannt, weil sich Freunde auf dieser Stufe ihrer gemeinsamen Interessen bewusst werden und eine intime Beziehung pflegen. Sie entdecken sich selbst und erfahren Intimität. Selman begründet diese Abfolge der Stufen mit der wachsenden Fähigkeit, die Perspektive des anderen einzunehmen. Youniss betont hingegen die wachsende Fähigkeit, Beziehungen als wirklich reziprok zu verstehen (vgl. Asendorpf/Banse 2000, S. 100).

Auch unter Erwachsenen finden sich differierende Auffassungen von Freundschaft. Nicht jeder vermag den idealen Freundschaftsbegriff von einer von gegenseitigem Vertrauen gekennzeichneten, Konflikte absorbierenden und von der Bereicherung des Selbst geprägten Beziehung nachzuvollziehen. So bewegen sich die Freundschaftskonzepte bei allen Menschen auf einem Spektrum wie der Stufen 0 bis 4 von Selman.

3. Freundschaften im Kindes- und Jugendalter

Freunde gehören für Kinder meist schon vom dritten Lebensjahr an und im ganzen Jugendalter zu den zentralen Bestandteilen ihres Daseins (vgl. Rubin 1981, S. 10). Kinder jedes Alters haben oftmals keine Probleme andere Kinder anzusprechen, sie suchen regelrecht nach Kindern, mit denen sie spielen können. Die Sichtweise, dass Kinder Freunde brauchen, existiert noch nicht allzu lang. Die Erforschung der Bedeutung von Beziehungen und Freundschaften unter Kindern und Jugendlichen ist noch ein junges Gebiet. Gerade Kinderfreundschaften sind eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts, weil es nicht mehr um die ideale oder idealisierte Freundschaftsbeziehung der vergangenen Jahrhunderte geht, sondern um die Alltagsfreundschaften von Jungen und Mädchen. Freunde zu haben korreliert in Kindheit und Jugend mit positiven individuellen Eigenschaften, zudem fördern Freundschaften langfristig das Selbstwertgefühl. Lange war man der Ansicht, dass es die Art der Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind sei, die schon von Geburt an die weitere Entwicklung des Kindes sowie die Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen immens beeinflusst. Mittlerweile weiß man um die eigenständige Rolle der Gleichaltrigen in der Sozialisation eines Kindes und Jugendlichen, dass diese nicht von den Eltern ersetzt werden können und dass die Art von Freundschaftsbeziehungen im späten Kindesalter die Art von Erwachsenenbeziehungen beeinflusst. Nach Piaget und Vygotski stimuliert die Interaktion mit Gleichaltrigen die sozial-kognitive Entwicklung (vgl. Asendorpf/ Banse 2000, S. 99).

Wollen wir Freunde sein? Diese Frage stellt eines der zentralen Probleme dar, das den Einzelnen von seiner Kindheit an bewegt: die Suche nach Nähe, Geborgenheit, nach Selbstfindung und sozialem Kontakt. Einen Freund finden bedeutet anerkannt und geliebt werden, die Andersartigkeit des „Du“ anzuerkennen und in Anspruch nehmen zu können. Das Kind kann durch die befriedigende Erfahrung dieser Bedürfnisse erst eine grundlegende emotionale Sicherheit und Orientierung entwickeln.

Im Folgenden soll zum ersten Einblick in das Thema eine Untersuchung von Valtin vorgestellt werden. Im Anschluss daran werden die einzelnen Aspekte von Freundschaft näher beleuchtet. Wen bevorzugen Kinder und Jugendliche als Freunde und nach welchen Kriterien wählen sie diese aus? Wie nehmen sie Kontakt zueinander auf und welche Bedingungen sind dafür notwendig? Wie verlaufen Freundschaftsbeziehungen, welche Funktion haben Konflikte und welche Aspekte treten geschlechtsspezifisch in den Vordergrund? Letztlich erfolgt eine Analyse der Bedeutung von Freundschaft im Kindes- und Jugendalter.

3.1. Untersuchung von Valtin

Valtin führte eine Befragung zum Thema Freundschaft an 89 Kindern durch. 42 Mädchen und 47 Jungen im Alter von fünf, sechs, acht, zehn und zwölf Jahren nahmen daran teil. Sie konnte anhand der Untersuchung eine altersabhängige Entwicklung im Freundschaftsverständnis der Kinder aufzeigen.

Alle interviewten Kinder haben einen Freund, der meist gleichaltrig ist. Nur die Anzahl der Freunde variiert. Die jüngeren Kinder sind sich selbst über die Anzahl ihrer Freunde nicht sicher, aber von den fünf- bis sechsjährigen geben mehr als 30 Prozent an drei und mehr Freunde zu haben, wovon die Mehrheit gleichgeschlechtlich ist. Achtjährige und Zehnjährige haben fast ausschließlich gleichgeschlechtliche Freunde und die Anzahl wird im Vergleich zu den Fünf- und Sechsjährigen geringer, die Hälfte von ihnen hat nur einen Freund oder Freundin.

Nachfolgend werden die Untersuchungsergebnisse zu den Motiven einer Freundschaft, den Vorstellungen über einen guten Freund, der Entstehung von Freundschaften, dem Ende einer Freundschaft, dem geschlechtsspezifischen Unterschied sowie dem Freundschaftskonzept von Jugendlichen vorgestellt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 95 Seiten

Details

Titel
Zur Bedeutung von Freundschaft im Kindes- und Jugendalter
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Pädagogisches Institut)
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
95
Katalognummer
V85053
ISBN (eBook)
9783638897006
ISBN (Buch)
9783638897341
Dateigröße
721 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bedeutung, Freundschaft, Kindes-, Jugendalter
Arbeit zitieren
Nicole Heß (Autor:in), 2006, Zur Bedeutung von Freundschaft im Kindes- und Jugendalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85053

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