Der Bielefelder Verflechtungsansatz

Die Verknüpfung von Subsistenz- und Marktproduktion


Seminararbeit, 2007

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung und Problemstellung
1.1 Die Bielefelder Entwicklungssoziologen
1.2 Ausgangsproblem: Theorie-Praxis-Gegensatz
1.3 Prämissen

2. Der Bielefelder Verflechtungsansatz
2.1 Peripherisierung
2.2 Die Schicht der Ungesicherten
2.3 Verflechtung von Produktionsformen
2.4 „Hausfrauisierung“
2.5 Unterschiedliche Bedeutung der Subsistenzproduktion
2.6 Bedeutung für den Kapitalismus

3. Entstehung der Warenproduktion in Entwicklungsländern
3.1 Beispiel Rio Grande, Mexiko
3.2. Wie kommt ein Bauer zur Warenproduktion?

Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einführung und Problemstellung

Unter dem Leitthema „Gewinnmaximierung vs. Risikominimierung: Strukturen der Überlebensökonomie“ stellt der Bielefelder Verflechtungsansatz, dessen Behandlung der Diskussion um den informellen Sektor und seine Problematik folgt, eine vertiefte Betrachtung der Überlebensökonomie aller sozialen Schichten in Entwicklungs- wie auch Industrieländern dar. Über die allgemeine Feststellung von Versuchen der Risikominimierung durch Verknüpfung von Subsistenz- und Marktproduktion hinaus können so Differenzierungen in der Bedeutung der Subsistenzproduktion festgestellt und auch Ansätze von Gewinnmaximierung ausfindig gemacht werden. Der Ansatz leistet außerdem Beiträge zur Erklärung des Entstehens von Peripherie sowie zur oft untergeordneten Rolle der Frau in Entwicklungsländern.

Diese Arbeit führt zunächst in die Ausgangsproblematik ein, der die Bielefelder Entwicklungssoziologen und ihre Vordenker begegneten (Kap. 1.2) und beschreibt ihre gemeinsamen Prämissen für die Entwicklung des Ansatzes (Kap. 1.3), bevor im Hauptteil der Arbeit die einzelnen Begriffe und Thesen der Bielefelder erläutert werden (Kap. 2.1 bis 2.4). Kap. 2.3 stellt dabei den eigentlichen Bielefelder Verflechtungsansatz dar, dessen lokal verschieden bedeutsamen Anteile (Kap. 2.4) und seine Bedeutung für die westliche Welt (Kap. 2.5) im Anschluss erörtert werden. Im dritten Teil der Arbeit wird die eher theoretische Frage nach der Entstehung von Warenproduktion in Entwicklungsländern und damit nach einer Grundlage für den Bielefelder Ansatz anhand eines Fallbeispiels aus Mexiko (Kap. 3.1) und einigen theoretischen Überlegungen (Kap. 3.2) behandelt. Im Abschlussfazit werden die Erkenntnisse und Hauptaussagen des Bielefelder Verflechtungsansatzes noch einmal zusammengefasst.

1.1 Die Bielefelder Entwicklungssoziologen

Der Bielefelder Verflechtungsansatz entstand durch intensive Forschungsarbeiten der einer Gruppe von Soziologen an der Soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld. 1974 wurde Prof. Hans-Dieter Evers auf den Lehrstuhl des Forschungsschwerpunktes Entwicklungssoziologie berufen und arbeitete bis Mitte der 1980er Jahre mit den dortigen Kollegen unter dem Etikett „Arbeitsgruppe Bielefelder Entwicklungssoziologen“, das unter anderem auch für gemeinsame Publikationen verwendet wurde. In dieser Zeit führten die Entwicklung des Bielefelder Verflechtungsansatzes und Forschungsprojekte der Mitarbeiter des Lehrstuhls in Südamerika, Afrika und Südostasien, die den Ansatz in der Praxis überprüften und ausbauten, zu einer relativen Bekanntheit der „Bielefelder Schule“. Die wichtigste Publikation der Arbeitsgruppe erschien 1979[1][2].

1.2 Ausgangsproblem: Theorie-Praxis-Gegensatz

Die Problematik, die zur Entstehung des Bielefelder Verflechtungsansatzes führte, war ein Gegensatz zwischen der noch in den 1960er Jahren wenig bestrittenen theoretischen Erklärung der Subsistenzproduktion und der sich in dieser Zeit immer stärker andeutenden Realität. Generell ging man davon aus, dass die Subsistenzproduktion eine unterentwickelte Vorstufe der modernen, in den Industrieländern flächendeckend verbreiteten Warenproduktion sei. In einem sich nach und nach modernisierenden und industrialisierenden Staat müsse die Subsistenzproduktion sich demnach von selbst auflösen und der industriellen Produktion weichen. Man ging davon aus, dass mit den verbesserten Umständen der Warenproduktion in den entstehenden Industrieländern auch eine lineare, gleichmäßige Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung stattfinden würde.[3]

In der Realität konnte man dagegen auch nach dem Ende von Kolonialherrschaften und langjähriger Selbstständigkeit der Entwicklungsländern kein Verschwinden der Subsistenzproduktion feststellen. Stattdessen machte sie einen ungebrochen großen Teil der Volkswirtschaften aus, während sich, wenn überhaupt, langsam parallel eine Industrie entwickelte. Anstelle der sich innerhalb der nationalen Grenzen gleichmäßig verbessernden Produktions- und Lebensumstände war bereits in den 1960er Jahren eine gesellschaftliche Polarisierung zu bemerken, die wir im 21. Jahrhundert in vielen Ländern aller Entwicklungsstufen in anschaulicher Form beobachten können: In Gated Communities grenzt sich die Oberschicht der Bevölkerung von den Marginalsiedlungen der Unterschicht ab; gerade in Großstädten sind diese Existenzformen in direkter Nachbarschaft zueinander zu beobachten.

Der genannte Gegensatz von theoretischen Annahmen und Realität der Subsistenzproduktion und der damit verbundenen Lebensumstände gerade armer Bevölkerungsteile veranlassten Wissenschaftler vieler Disziplinen zu Überlegungen über einen möglichen Zusammenhang zwischen kapitalistischen und subsistenziellen Wirtschaftsweisen.

1.3 Prämissen

Den Aussagen des Bielefelder Verflechtungsansatzes liegen zwei weitere wissenschaftliche Annahmen zugrunde. Die Dependenztheorie als deren erste begründet die Unterentwicklung der Entwicklungsländer in ihrer Integration in westliche, kapitalistische Wirtschaftssysteme, nachdem sie oft Jahrhunderte lang von ihren Kolonialmächten ausgebeutet wurden. Eine ähnliche Aussage macht die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein[4]. Diese noch ältere Theorie untergliedert die Welt grundsätzlich in ein Zentrum und eine Peripherie, wobei als Zentrum die Industrieländer bzw. der „Norden“ angenommen werden und als Peripherie die Entwicklungsländer bzw. der „Süden“. In einer als Semi-Peripherie bezeichneten Pufferzone zwischen beiden könnten heute die Schwellenländer eingeordnet werden. Wallerstein charakterisiert das Zentrum mit einer Akkumulation von Kapital, komplexer Güterherstellung und einem aktiven Aufrechterhalten des eigenen Monopols auf moderne Warenproduktion und einen hohen Entwicklungsstand, was einer der Aussagen der Dependenztheorie entspricht. Die Peripherie sei dagegen durch ihre Funktion als Lieferant von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften sowie einen ungleichen Güteraustausch mit dem Zentrum geprägt, was Spannungen erzeuge[5]. Die Semi-Peripherie als zwischen beiden liegender Pufferbereich nutzte Wallerstein zur Begründung der trotzdem herrschenden politischen Stabilität des ungleichen Weltsystems.

Die Prämissen von Weltsystem- und Dependenztheorie liegen dem Bielefelder Verflechtungsansatz ebenso zugrunde wie die Annahme von auf Gewinnmaximierung ausgerichteten, kapitalistischen Unternehmern. Auf in der Realität vereinzelt auftretende, dem widersprechende Fälle wie Non-Profit-Organisationen geht der Ansatz daher nicht ein.

2. Der Bielefelder Verflechtungsansatz

Um die Spezifika des Bielefelder Verflechtungsansatzes herauszuarbeiten, sollte seine Aussage mit der zuvor bestehenden Annahme der Aufteilung von Lohnarbeit und häuslichen Dienstleistungen verglichen werden. Deren Aussage ist wenig kompliziert (siehe Abb. 1): in einer aus zwei Ehepartnern und ihren Kindern bestehenden Familie ist ein Partner für die formelle Lohnarbeit zuständig, während der andere sich zu Hause um die familiäre Reproduktion kümmert. Dieser Begriff bezeichnet im Vokabular der Bielefelder Entwicklungssoziologen die Erbringung von häuslichen Dienstleistungen und der Beschaffung von Gütern zum rein physischen Erhalt der Familie[6]. Diese ist in den Industrieländern in der Regel allein durch die finanziellen Mittel möglich, die aus der Lohnarbeit eines Partners erbracht werden. Der physische Erhalt der Familie ist Voraussetzung zur Erneuerung (Reproduktion) der Arbeitskraft des arbeitenden Partners und damit Voraussetzung für ein dauerhaft funktionierendes System.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zum Verständnis der Annahme für die Peripherie nach dem Bielefelder Verflechtungsansatz (Kap. 2.3) sind zuvor einige Begriffsklärungen notwendig, nämlich der Prozess der Peripherisierung (Kap. 2.1) und die Schicht der Ungesicherten (Kap. 2.2).

2.1 Peripherisierung

Die Bielefelder konstatierten zusätzlich zur Annahme von Peripherie nach der Weltsystemtheorie ihr eigenes Verständnis des Entstehens von Peripherie, also den primär vom Verflechtungsansatz beschriebenen Staaten und Regionen. Der Prozess der Peripherisierung beginnt demnach, indem der kapitalistische Markt nicht konkurrenzfähige Bewerber durch natürliche Mechanismen eliminiert. Diese sehen jedoch aufgrund der Gesamtlage ihres Staates und ihrer eigenen Ausbildungs- und Kapitalsituation keine andere Möglichkeit, als unwirtschaftlich ihre Arbeit fortzusetzen und ihre Konkurrenzfähigkeit durch ein Abrutschen in die Informalität wiederherzustellen. Durch die informelle Arbeit entfallen Steuer- und Sozialabgaben, eventuellen Angestellten oder Gehilfen müssen keine Mindestlöhne mehr gezahlt werden. Beginnt dieser Prozess in ganzen Stadtvierteln oder Regionen, fällt nach und nach auch die staatliche Unterstützung weg: Versorgungs- und Transportinfrastruktur, Polizei und andere Ressourcen, die eine zentrale Region charakterisieren, werden abgezogen und lassen Peripherie entstehen. Ist ein Staat mehrheitlich von diesem Prozess geprägt, fällt er insgesamt auch in die Kategorie der Peripherie.[7]

2.2 Die Schicht der Ungesicherten

Auch der Begriff des informellen Sektors wird von den Bielefelder Entwicklungssoziologen in seiner ursprünglichen Bedeutung nicht akzeptiert. Er sei, betrachtet als abgegrenzter vierter Wirtschaftssektor neben den klassischen drei Sektoren, eher eine unscharfe Restkategorie, ein „catch-all-Begriff“[9], der aus Bequemlichkeit oder Unlust zu weiteren Differenzierungen geschaffen wurde. Dabei fasse er völlig gegensätzliche Tätigkeiten zusammen (siehe Abb. 2): von Saisonarbeitern auf Feldern, die eher als Arbeiter des primären Sektors gerechnet werden müssten, über Kleinproduzenten und Dienstleister wie Schuhputzer reiche das Spektrum bis zu kriminellen Tätigkeiten. Eine scharfe Abgrenzung von den drei anderen Sektoren sei also unmöglich.[8]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Bielefelder schlagen stattdessen eine parallele Betrachtung vor (siehe Abb. 3): die informell Tätigen würden als „Schicht der Ungesicherten“ zusammengefasst, was ihre nur kurzfristige Zukunftsperspektive betone. Gemeinsam sei ihnen die „absolute Priorität“ der Suche nach Einkommens- und damit Lebenssicherheit durch „Sicherung ihrer Subsistenz“[10], was der „Schicht der Gesicherten“, in der sich die formell Arbeitenden der herkömmlichen drei Sektoren befinden, entgegen steht. Dort sei generell von einer Maximierung des Einkommens als einem Ziel zu sprechen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der „Schicht der Ungesicherten“ verstärkt sich der mangelnde Zusammenhalt untereinander („Kohäsion“[11]), der durch Konkurrenzsituationen, die zu meist unwirtschaftlichem Arbeiten zwingen, aber auch durch Mangel von finanziellen Mitteln für Gewerkschaften, Versicherungen usw. entsteht, im Zusammenspiel mit der fortschreitenden Peripherisierung zunehmend. Die Bielefelder versäumen auch nicht, den neu geschaffenen Begriff wissenschaftlich zu kategorisieren: er sei lediglich deskriptiv zu verwenden, eine analytische Tauglichkeit besitze er nicht. Dies mache einen der wesentlichen Unterschiede zum Begriff des informellen Sektors aus.

[...]


[1] Quelle der Informationen dieses Abschnittes: Bierschenk 2002: 3f.

[2] Arbeitsgruppe Bielefelder Entwicklungssoziologen (Hrsg.) (1979): Subsistenzproduktion und Akkumulation. Saarbrücken.

[3] Quelle der Informationen dieses Abschnittes: Bierschenk 2002: 4 und eigene Ergänzungen.

[4] Das Hauptwerk Wallersteins in der deutschen Übersetzung des letzten Teils: Wallerstein 1986.

[5] Die theoretische Ausgangslage Wallersteins findet sich bei den Bielefeldern wieder; siehe z.B. Otto-Walter 1979: 10.

[6] Definitionen des Begriffes finden sich vor allem in der Sekundärliteratur, so z.B. Schmidt-Wulffen 1987: 134 oder Bierschenk 2002: 4.

[7] Quelle der Informationen dieses Absatzes: Elwert/Evers/Wilkens 1983: 291-293.

[8] Quelle der Informationen dieses Absatzes: Elwert/Evers/Wilkens 1983: 281ff.

[9] Ebd. 281.

[10] Ebd. 285.

[11] Ebd. 293.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Der Bielefelder Verflechtungsansatz
Untertitel
Die Verknüpfung von Subsistenz- und Marktproduktion
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Geographisches Institut)
Veranstaltung
Wirtschaftsgeographische Probleme der Entwicklungsländer
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
21
Katalognummer
V81673
ISBN (eBook)
9783638875585
ISBN (Buch)
9783638877145
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bielefelder, Verflechtungsansatz, Wirtschaftsgeographische, Probleme, Entwicklungsländer
Arbeit zitieren
Benjamin Pape (Autor:in), 2007, Der Bielefelder Verflechtungsansatz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81673

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