Der verstehende Pflegeansatz bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit

Lehr- und Lernziele für die Berufspädagogik in der Pflege


Diplomarbeit, 2001

178 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Bedingungs- und Problemdarstellungen
1.1 Bedingungen der Alzheimer Krankheit
1.1.1 Epidemiologie
1.1.2 Allgemeine Grundlagen
1.1.3 Pathophysiologische Grundlagen
1.1.4 Psychosoziale Grundlagen
1.1.5 Phasen des Demenzprozesses
1.1.6 Fazit
1.2 Ausgewählte Pflegeprobleme
1.2.1 Das Problem der Alltags- und Lebenswelt
1.2.1.1 Alltagswelt
1.2.1.2 Lebenswelt
1.2.1.3 Das Handeln der dementen Menschen
1.2.1.4 Reflexion für die Pflege
1.2.2 Das Problem des therapeutischen Nihilismus
1.2.2.1 Chronizität und Heilung
1.2.2.2 Perspektiven
1.2.2.3 Gewalt
1.2.2.4 Reflexion für die Pflege
1.2.3 Das Problem der Professionalität pflegerischer Handlungsprozesse
1.2.3.1 Pflegehandeln
1.2.3.2 Pflegeprozess
1.2.3.3 Wissenskompetenz
1.2.3.4 Reflexion für die Pflege
1.2.4 Fazit
1.3 Verstehen als Problemlösungsversuch

2. Ansätze des Verstehens in der Pflege
2.1 Wissenschaftstheoretische Ansätze des Verstehens
2.1.1 Der hermeneutische Ansatz
2.1.2 Der phänomenologische Ansatz
2.1.3 Reflexion für die Pflege
2.2 Verstehende Diagnostik in der Pflege
2.2.1 Erklärende und Verstehende Diagnostik nach Jantzen
2.2.1.1 Grundzüge des Konzeptes
2.2.1.2 Das Aufsteigen im Abstrakten
2.2.1.3 Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten
2.2.1.4 Das Aufsteigen im Konkreten
2.2.2 Reflexion der Erklärenden und Verstehenden Diagnostik für die Pflege
2.2.2.1 Das Aufsteigen im Abstrakten in der Pflegediagnostik
2.2.2.2 Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten in der Pflegediagnostik
2.2.2.3 Das Aufsteigen im Konkreten in der Pflegediagnostik
2.2.2.4 Erklärende und Verstehende Pflegediagnostik
2.2.2.5 Erklärende und Verstehende Diagnostik in der Pflege sogenannter dementer Menschen
2.3 Fazit

3. Inhaltliche Annäherung an die Pflege sogenannter dementer Menschen unter dem Ansatz des Verstehens oder das Aufsteigen im Abstrakten
3.1 Ausgewählte Aspekte des Menschenbildes
3.1.1 Der Mensch in seiner Entwicklung in reziprokem Austausch zur Umwelt
3.1.2 Das sinnvolle Handeln des Menschen
3.1.3 Der Mensch als tätige Persönlichkeit
3.1.4 Die menschliche Psychodynamik in der Tätigkeit
3.1.5 Die Bedürfnisse des Menschen
3.1.6 Störungen in der Dynamik des menschlichen Handelns
3.1.7 Gesundheit und Krankheit
3.1.8 Das Menschenbild in der Psychiatrie
3.1.9 Das Menschenbild in der Begegnung mit sogenannten psychisch gestörten Menschen
3.1.10 Soziale Isolation und menschliche Entwicklung
3.1.11 Das Menschenbild und menschliche Behinderung
3.1.12 Menschliche Kommunikation
3.1.13 Reflexion
3.2 Konsequenzen für die Pflege
3.2.1 Ausgewählte Aspekte der Pflege
3.2.1.1 Qualität und Philosophie
3.2.1.2 Professionelles Handeln
3.2.1.3 Merkmale Professioneller Beziehungsgestaltung in der Pflege
3.2.1.4 Erklärende und Verstehende Pflegediagnostik bei Personen mit sogenannter geistiger Behinderung
3.2.1.5 Gesundheitsförderung
3.2.2 Ausgewählte Aspekte psychiatrischer Pflege
3.2.2.1 Psychiatrieverständnis
3.2.2.2 Psychiatrisches Pflegeverständnis
3.2.2.3 Problem- und Konfliktlösung
3.2.2.4 Beziehungsgestaltung als gemeinschaftliche Tätigkeit
3.2.3 Ausgewählte Aspekte gerontopsychiatrischer Pflege
3.2.3.1 Alter und Gesundheit
3.2.3.2 Alter und Biographie
3.2.3.3 Alter und Verluste
3.2.3.4 Alter und Demenz
3.2.4 Ausgewählte Aspekte spezieller Pflege sogenannter dementer Menschen
3.2.4.1 Das Handeln der Menschen unter den Bedingungen der Alzheimer Krankheit
3.2.4.2 Isolierende Bedingungen
3.2.4.3 Auswirkungen isolierender Bedingungen
3.2.4.4 Bedürfnisse
3.2.4.5 Vertrauen, Vertrautheit, Geborgenheit
3.2.4.6 Gesundheit
3.2.4.7 Alltags- und Lebenswelt
3.2.4.8 Rehistorisierung
3.2.4.9 Alltagspraktische Fähigkeiten
3.2.4.10 Beziehungsgestaltung als Begegnung
3.2.5 Reflexion
3.3 Das Denken, Fühlen und Handeln sogenannter dementer Menschen oder die Syndromanalyse
3.3.1 Das System Denken-Fühlen-Handeln
3.3.2 Das System Denken-Fühlen-Handeln unter den Bedingungen der Alzheimer Krankheit
3.3.3 Konsequenzen für die Handlungsprozesse im Pflegealltag
3.4 Fazit

4. Affektlogik, Isolation und Krise sogenannter dementer Menschen oder das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten
4.1 Die Konzeptebene
4.1.1 Das Konzept der Affektlogik
4.1.2 Das Konzept der Isolation
4.1.3 Das Konzept des Krisenprozesses
4.1.4 Synthese und Reflexion der Konzepte der Affektlogik, der Isolation und des Krisenprozesses
4.1.5 Affektlogik, Isolation und Krise sogenannter dementer Menschen
4.2 Schlussfolgerungen für die Pflege
4.2.1 Zusammenfassung und Definition der Pflege von Menschen, die unter den Bedingungen der Alzheimer Krankheit leben
4.2.2 Konsequenzen für die pflegetheoretische Ebene
4.2.3 Konsequenzen für pflegepraktische Handlungsprozesse
4.2.3.1 Pflege zum alltags- und lebensweltlichen Erleben
4.2.3.2 Pflege zur alltagspraktischen Tätigkeit
4.2.3.3 Pflege in Krisensituationen
4.2.3.4 Qualitätskriterien der Pflege dementer Menschen
4.2.4 Ziele der pflegerischen Handlungsprozesse oder das Aufsteigen im Konkreten
4.3 Ansätze zur Problemvermeidung und -lösung
4.4 Fazit

5. Praktische und theoretische Lehr- und Lernziele zur verstehenden Begegnung mit sogenannten dementen Menschen in der Pflege
5.1 Philosophie.
5.1.1 Pflegephilosophie
5.1.2 Bildungsphilosophie
5.1.3 Kompetenzentwicklung
5.2 Lehr und Lernziele
5.2.1 Lehr- und Lernziele für den theoretischen Unterricht zur Pflege dementer Menschen
5.2.2 Lehr- und Lernziele für die praktische Anleitung in der Pflege dementer Menschen
5.3 Anregungen für die theoretische und praktische Lernbegleitung
5.4 Fazit

Abschluss

Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 1: Aspekte wechselseitiger Einflussnahme auf das Subjekt im Rahmen pflegerischer Begegnung

Abb. 2: Die Interdependenz von Philosophie und Handlungsprozessen in der Pflege als professionelles Pflegewissen

Abb. 3: Konstitutive Kompetenzen des professionellen Pflegehandelns

Abb. 4: Die Dynamik der Vulnerabilität als innerpsychische Entwicklungsprozesse

Abb. 5: Die Interdependenz von Kränkung, Vulnerabilität und Krisenprozess

Abb. 6: Bezug therapeutischer Pflege auf die komplexe Dynamik menschlicher Dimensionen

Abb. 7: Die Dynamik des Systems Denken-Fühlen-Handeln

Abb. 8: Der Krisenprozess

Abb. 9: Die Dynamik des Systems Affektlogik-Isolation-Krise unter isolierenden Bedingungen

Einleitung

In dieser Arbeit sollen Aspekte der speziellen Pflege sogenannter dementer Menschen aufgegriffen und diskutiert werden. Im Mittelpunkt der Betrachtung sollen dabei solche Menschen stehen, die unter den Bedingungen der Alzheimer Krankheit leben. Die Alzheimer Krankheit wird auch als Demenz vom Alzheimertyp bezeichnet und ist aus medizinischer, pathologischer Sicht eine neurologische Erkrankung des Gehirns mit mehrdimensionalen Ursachen, die komplexe Störungen bewirkt, welche insbesondere auf der Ebene der instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens deutlich werden können (vgl. Wettstein/Chappuis/Fisch, 1997).

In dieser Arbeit wird sich vorwiegend auf Menschen bezogen, die in körperlicher Hinsicht nicht oder wenig beeinträchtigt sind. Dies ist auch vergleichbar mit Bedingungen der ersten und zweiten Phase einer Demenz vom Alzheimertyp nach der deutschen Alzheimer Gesellschaft. Diese Phasen werden in der Arbeit vorgestellt.

Die Bezeichnung Alzheimer Krankheit ist weit verbreitet und wird in der Literatur und den Medien vielfach verwendet. Ein genauerer Begriff ist Demenz vom Alzheimertyp. Er ist aber selbst innerhalb des Gesundheitswesens nicht allzu bekannt. Hier sollen diese beiden Begriffe synonym verwendet werden. Dies gilt insbesondere, da der letztere innerhalb seiner Anwendung gebräuchlicher Weise mit DAT abgekürzt wird und dies für den Textfluss in dieser Arbeit genutzt werden soll.

Der sogenannte demente Mensch soll in dieser Arbeit nicht allein dadurch charakterisiert sein, dass er laut medizinischer Diagnose die Alzheimer Krankheit hat. Er soll hier nicht als Person mit DEMENZ sondern als PERSON mit Demenz aufgefasst werden (Kitwood, 2000).

Für diese Arbeit werden folgende Thesen zugrunde gelegt:

- Unter den Bedingungen der Alzheimer Krankheit sind das Fühlen und Denken und damit

das Handeln der betroffenen Menschen auf verschiedenen Ebenen gestört (WHO, 1991).

Dies bereitet viele Probleme in der Pflege (Becker, 2000a).

- Um z.B. Gewalt und Gegengewalt bzw. Aggression und Frustration auf den Seiten

der sogenannten dementen Menschen wie auch der Pflegenden zu verhindern oder zu

verringern, müssen Pflegende sich dem Erleben der dementen Menschen annähern und

versuchen, die hinter dem Handeln stehenden Antriebe zu deuten (Richard, 2000;. Grond,

2000).

Aufgrund dieser Thesen soll sich die Arbeit im Schwerpunkt mit den Zusammenhängen von Denken und Fühlen, den sich daraus ergebenden Handlungszusammenhängen, sowie entsprechenden Folgen für das Wohlbefinden, im Sinne von physischer und psychischer Ausgeglichenheit bzw. Zufriedenheit, der sogenannten dementen Menschen auseinandersetzen.

Deswegen orientiert sich die Arbeit an den folgenden drei Fragen:

1) Wie können das Denken, Fühlen und Handeln sogenannter dementer Menschen in

Verstehensprozesse bzw. einer verstehenden Begegnung in der Pflege gedeutet werden?

2) Welche Konsequenzen haben diese Darstellungen für die pflegetheoretische Ebene und die pflegepraktischen Handlungsprozesse?

3) Wie können diese Darstellungen in Form von Lehr- und Lernzielen für die Pflegeausbildung umgesetzt werden?

Die Arbeit soll anhand dieser Fragestellungen folgendermaßen strukturiert werden:

- Problembeschreibungen und Vorschlag eines Lösungsansatzes als Ausgangspunkt der Arbeit;
- Vorstellung verstehender Ansätze als Rahmen der Arbeit;
- Darstellung des zugrundegelegten Menschenbildes und entsprechende Konsequenzen für die Handlungsprozesse der Pflege als Grundlage der Arbeit;
- Herausstellung des spezifischen Aspekts des Zusammenhangs von Denken, Fühlen und Handeln sogenannter dementer Menschen zur Beantwortung der ersten Frage;
- Verknüpfung angemessener wissenschaftlicher Konzepte im Kontext der Ergebnisse zur ersten Frage, um daraus sich ergebende Konsequenzen für die Pflege erarbeiten und somit die zweite Frage beantworten zu können;
- Erarbeitung von Lehr- und Lernzielen basierend auf den Ergebnissen der ersten drei Fragestellungen für die theoretische und praktische Lernbegleitung in der Pflegeausbildung zur Beantwortung der dritten Frage.

Um sich den Motiven des Handelns der dementen Menschen annähern zu können, müssen Pflegende (in Anlehnung an obige Thesen) wissen, wie die Zusammenhänge des Denkens, Fühlens und Handelns der dementen Menschen sind und welche eventuell problematischen Konsequenzen dies für die Handlungsprozesse in der Pflege haben kann.

Als ein möglicher Problemlösungsversuch wird das Verstehen vorgeschlagen. Deswegen sollen die Fragen unter den Aspekten des Verstehens bzw. des Fallverstehens und der Subjektivität diskutiert werden. Oder anders formuliert: Ein verstehender, subjektorientierter Pflegeansatz soll am konkreten Beispiel der speziellen Pflege sogenannter dementer Menschen unter der spezifischen Betrachtung von Affektlogik (Ciompi, 1998 u. 1999), Isolation (Jantzen, 1992) und Krise (Caplan, 1964) besprochen werden. In der Arbeit sollen diese verschiedenen Ansätze miteinander verknüpft und für die Pflege reflektiert werden.

Insbesondere die erklärende und verstehende Diagnostik nach Jantzen (1994 u. 1996) soll als Rahmen für die Thematik dienen. Die erklärende und verstehende Diagnostik bedarf aber der Reflexion für die Pflege, da sie nicht vollends deckungsgleich zum Aufgaben-, Verantwortungs- und Kompetenzbereich der Pflege steht. Dies soll in der Reflexion aufgezeigt werden, ist in dieser Arbeit aber leider nicht abschließend zu diskutieren. Ein vollständiges Vorgehen entsprechend des diagnostischen Prozesses nach Jantzen kann in dieser Arbeit nicht geleistet werden. Die Arbeit setzt ihre Schwerpunkte darin, Grundlagen nach diesem Prinzip aufzuzeigen und für die Pflege zu reflektieren. Dies soll Pflegepraktikern die Möglichkeit geben, in komplexen Pflegesituationen professionelle Entscheidungen als Handlungsbasis treffen und fundiert begründen zu können.

Als Ziel der Arbeit sollen auf abstrakter Ebene in Reflexion des pflegerischen Handelns konzeptuelle Überlegungen dargestellt und verknüpft werden, um im zweiten Schritt dann dem Konkreten näher zu kommen. Dieser soll als Grundlage der praktischen Beziehungsgestaltung und pflegerischen Intervention im konkreten Fall Möglichkeiten anbieten, professionell und effektiv zu handeln.

Die Arbeit soll Inhalte pflegerischer Handlungsprozesse aufzeigen und begründen, um Pflegepraktikern eine Problembewältigung einerseits und eine professionelle Qualitätssicherung andererseits zu ermöglichen.

In der Arbeit soll ein relativ praxisnaher Blickwinkel erhalten bleiben, aber dennoch ein hochwertiges berufliches Pflegeniveau mit Hinblick auf die mindestens dreijährige Ausbildungsebene angestrebt werden. Somit sind die Zielgruppe dieser Arbeit Pflegende mit einem mindestens dreijährigen Ausbildungsabschluss bzw. Pflegende, die gerade eine solche Ausbildung oder eine Weiterbildung absolvieren sowie Lehrende an Pflegeschulen und Studenten der Pflege.

Dieses Niveau steht insbesondere im Zusammenhang damit, dass die professionellen Anforderungen an Pflege zukünftig steigen werden. Diese bestehen einerseits in der vorgeschriebenen Sicherung, Erhaltung, Entwicklung und Förderung von Pflegequalität, sowie andererseits in der zunehmend geforderten Transparenz, Effizienz und Effektivität der Pflegepraxis aufgrund ökonomischer und managmentbezogener Entwicklungen in der Pflege. Diese Entwicklungen werden sich zukünftig auch in der pflegebezogenen Gesetzgebung widerspiegeln, z.B. in den neuen Altenpflege- und Krankenpflegegesetzen, die bewusst das pflegerische Handeln anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse vorschreiben. Diesen gegebenen Praxisanforderungen soll diese Arbeit genügen, indem sie wissenschaftliche Grundlagen darstellt, erläutert und für die Praxis reflektiert. Den Lernenden und Praktikern sollen somit wissenschaftliche Begründungen als Handlungsgrundlage angeboten werden. So wird z.B. Pflegepraktikern die Möglichkeit offen gelegt, auch zukünftigen Praxisanforderungen professionell begegnen zu können.

Auf wissenschaftstheoretischer Ebene gilt zusätzlich ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse. Dies betrifft sowohl die sogenannten dementen Menschen, wie auch die Pflegenden und die Pflege selbst. Die wissenschaftstheoretische Reflexion dient als eine Grundlage dieser Arbeit und richtet sich zur besseren konzeptionellen Verortung insbesondere an Lehrende und Studenten.

Zum besseren Verständnis der Ausführungen sollen noch kurze Angaben gemacht werden, die hoffentlich den Lesefluss erleichtern.

Der Begriff "dement" soll nicht als wertend oder gar abwertend benutzt werden. Wird hier von dementen Menschen gesprochen, ist grundsätzlich das subjektive Erleben des betroffenen Menschen inbegriffen. Gemeint ist nicht ausschließlich die Ansicht, dass diese Menschen aus der Außensicht als "anders" gesehen werden. Durch die Betrachtung über den subjektiven Blickwinkel der sogenannten dementen Menschen, ist eher davon auszugehen, dass sie sich selbst eher selten als anders oder gar krank empfinden würden. Innerhalb ihres Verständnisses sind ihre Handlungen völlig normal und angemessen. Die Abweichungen entstehen erst durch den Blickwinkel des Außenstehenden. Diese gleichen Annahmen gelten auch für psychisch krank geltende Menschen und entsprechende Begriffe wie z.B. "gestört" und "Störung" bzw. "krank" und "Krankheit". Deswegen werden in dieser Arbeit solche Beschreibungen als aus dem Außenblickwinkel heraus entstanden aufgefasst und daher verstanden als Beschreibungen, die von außenstehenden Menschen genutzt werden, um "andersartige" Menschen zu beschreiben oder zu bezeichnen. Deswegen wird hier i.A. von sogenannten dementen Menschen gesprochen bzw. ist stets die Binnenperspektive der betroffenen Personen in der Bezeichnung implizit, wenn solche Bezeichnungen zur Vereinfachung des Leseflusses dennoch verwandt werden. Diese Formulierungen werden nur in spezifischen Beschreibungen zu bestimmten Personengruppen als Eingrenzung genutzt und sind entsprechend zu verstehen.

Weiterhin sollen die geschlechtlichen Differenzierungen in dieser Arbeit weitestgehend neutral bleiben. Werden nicht ausdrücklich weibliche oder männliche Begriffe genutzt, sind Worte wie ... der Mensch, der ... oder ... er, der Mensch ... in jedem Fall als geschlechtsneutral anzusehen bzw. sind die jeweils weibliche oder männliche Form als implizit zu betrachten. Damit soll ein flüssigeres Lesen ermöglicht werden.

1. Bedingungs- und Problemdarstellungen

Es gibt verschiedene Probleme, die sich in der Pflege mit sogenannten dementen Menschen ergeben. Zur Einführung soll die Alzheimer Krankheit und ihre Auswirkungen beschrieben und einige beispielhafte Probleme dargestellt werden, die in Pflegepraxis und -theorie diskutiert werden. Abschließend soll sich ein möglicher Ansatzpunkt zur Problemlösung heraus kristallisieren.

1.1 Bedingungen der Alzheimer Krankheit auf der Basis aktueller Literatur

In dieser Arbeit wird sich im wesentlichen auf die Pflege der Menschen bezogen, die laut medizinischer Diagnose von der Alzheimer Krankheit (Demenz vom Alzheimertyp) betroffen sind. Deswegen wird hier von sogenannten dementen Menschen gesprochen, was aus diversen anderen Gründen weitere sogenannte verwirrte Menschen nicht kategorisch ausschließt, jedoch den Blickwinkel für die Arbeit eingrenzen soll.

Es wird aufgrund des aktuellen Forschungsstandes eine Beschreibung dessen vorgenommen, wie die Erkrankung und ihre Entwicklung aus verschiedenen bezugswissenschaftlichen Perspektiven, wie z.B. der der Medizin und der Psychologie, betrachtet wird, wie sie sich äußert und welche Lebensbedingungen dies für die betroffenen Menschen mit sich bringt.

1.1.1 Epidemiologie

Rund drei Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung lebt unter den Bedingungen der Demenz vom Alzheimertyp (Deutsche Alzheimer Gesellschaft, o.J.). Dies entspricht ungefähr dreiviertel aller Menschen, die unter den Bedingungen einer Demenz leben. Damit ist die Demenz vom Alzheimertyp die häufigste Form von Demenz. Derzeit sind etwa 770 000 bis 1,1 Mio. Menschen im Alter über 65 Jahren in der BRD von einer Demenz betroffen (Bickel, 2000).

Allgemein kann man feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit, den Bedingungen einer Demenz ausgesetzt zu sein, im höheren Alter zunimmt. Es zeigen etwa 10% der über 65jährigen Symptome der Demenz vom Alzheimertyp (DAT). Im Alter von ca. 65 Jahren beträgt die Prävalenzrate etwa 1%, mit 85 Jahren ca. 15% und mit über 90 Jahren bis zu etwa 25% (Schröder, 2000a). Dies ist also eine altersnormale (aber nicht gleich alterslogische) Entwicklung, da eine hohe Wahrscheinlichkeit vorliegt, im höheren Lebensalter an einer DAT zu erkranken, aber grundsätzlich auch junge Menschen an einer DAT erkranken können.

Die jährliche Inzidenzrate wird bei über 60jährigen auf ca. 130 pro 100 000 Einwohner geschätzt (Schröder, 2000a). In Absolutzahlen wird die Anzahl der Neuerkrankungen auf 100 000 bis 145 000 vermutet (Bickel, 2000). Insgesamt liegt die Häufigkeit von Menschen mit einer Demenz derzeit bei ca. 5% im Alter über 65 Jahre und bei ca. 50% im Alter über 90 Jahre (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2001). In den kommenden drei Jahrzehnten wird sich der gesellschaftliche Anteil älterer Menschen verdoppeln (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 1993). Insbesondere der Anteil der hochbetagten Menschen wird stetig steigen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2001).

Unter den Gegebenheiten der demographischen Wandlungen unserer Gesellschaft mit der höheren Lebenserwartung und dem damit verbundenen Anstieg der Anzahl älterer Gesellschaftsmitglieder bedeutet dies eine hohe Wahrscheinlichkeit einer starken Zunahme der prozentualen Anzahl der sogenannten dementen Menschen in der bundesdeutschen Gesellschaft.

Da die Alzheimer Krankheit bisher als nicht heilbar gilt oder ihr aus medizinischer Sicht nicht prophylaktisch begegnet werden kann, erfordert dies in Zukunft eine steigende Verantwortung und Verpflichtung gerade für die Pflege (Payk, 1994; Schröder, 2000a). Kompetenzanforderungen an die Pflegenden in Hinblick auf die Pflege sogenannter dementer Menschen werden also zunehmend höher.

Diese Ausführungen werden im vierten sogenannten Altenbericht der Bundesregierung bestätigt und es werden aufgrunddessen Forderungen, wie z.B. ein höheres Pflegeniveau bzw. eine höhere Pflegekompetenz, gestellt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002).

1.1.2 Allgemeine Grundlagen

Aufgrund ihrer prozentual häufigen Erscheinung im höheren Lebensalter eines Menschen wird eine DAT leicht mit diesem in Zusammenhang gebracht (Alternsassoziation). Dies ist wissenschaftlich aber nicht belegbar. Daher ist es wahrscheinlicher, dass ein altgewordener Mensch unter den Bedingungen einer Demenz vom Alzheimertyp lebt, aber nicht zwangsläufig der Fall (Kitwood, 2000). Deshalb kann aufgrund der heutigen Forschungsergebnisse nicht eindeutig bestimmt werden, ob die DAT eine alternsassoziierte Veränderung mit Beteiligung der Alternsprozesse an den Demenzprozessen oder um eine alternsassoziierte Erkrankung mit langwierigen jahrzehntelangen Krankheitsprozessen, die erst im Alter deutlich werden, ist (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen, und Jugend, 2001).

Die Demenz vom Alzheimertyp ist ein multifaktorielles Krankheitsgeschehen, das durch biologische Faktoren, Umgebungskriterien, Persönlichkeitsmerkmale und biographische Faktoren, sowie dem allgemeinen gesundheitlichen Status bestimmt wird. Dabei können Persönlichkeitsmerkmale aber bisher nicht als demenzfördernde Faktoren benannt werden, sondern eher persönlichkeitsbeeinflussende Aspekte, wie ein höheres Bildungsniveau, als demenzhemmend angesehen werden (Retz-Junginger, Retz, Rösler, 2000).

Nach Kitwood (2000) wird eine Demenz vom Alzheimertyp von verschiedenen interagierenden, nicht linearen und nicht allein neuropathologischen Bedingungen verursacht bzw. gefördert, die als Set die Gesamtheit des Prozesses ergeben, einzeln zwar notwendig aber nicht hinreichend sind. Dies erfordert eine Sichtweise, die umfassend genug ist, sämtliche Aspekte einzubeziehen und vor allem den betroffenen Menschen nicht aus dem Blickwinkel zu verlieren. Dafür wird ein Bezugsrahmen benötigt, der persönliches Erleben, Sozialpsychologie und auch die Hirnfunktionen vereint.

Kitwood (2000) stellt eine Formel zur Sichtweise von Demenz auf. Sie beinhaltet die Annahmen, dass sich psychische Erfahrungen und Hirnaktivität nicht von einander trennen lassen und sich wechselseitig beeinflussen. Über die weitere Annahme, dass das menschliche Gehirn sich grundsätzlich in einer Weiterentwicklung befindet, die durch einen degenerativen Prozess, wie die Demenz vom Alzheimertyp, beeinflusst aber nicht aufgehoben wird, gelangt Kitwood (2000) zu dem Ergebnis, dass sich innerhalb des Demenzprozesses auch die Aspekte der Gehirnentwicklung und der Gehirnpathologie eines Menschen wechselseitig aufeinander wirken und sich daraus unterschiedliche Entwicklungen des Demenzprozesses und seiner Auswirkungen für den Menschen ergeben.

"Jedes psychosoziale Ereignis ist gleichermaßen auch ein Ereignis oder Zustand des Gehirns, das bzw. der von einem Gehirn 'getragen' wird, dessen Struktur von Faktoren der Entwicklung und der Pathologie bestimmt worden ist." (Kitwood, 2000, S. 40)

Durch unterschiedliche Entwicklungen der Menschen wird jeder Demenzprozess unterschiedliche Entwicklungen annehmen und verschiedene Auswirkungen zeigen. Die Demenz betrifft damit gleichzeitig das Gehirn, den Körper und die psychosoziale Person. Eine Analyse der DAT lässt sich daher kaum von diesen Aspekten trennen und muss berücksichtigen, dass jederzeit individuelle Einflussfaktoren verschiedenartige Entwicklungen hervorbringen können und somit jede Person, die von einer DAT betroffen ist, komplexen, personenbezogenen und variierenden Bedingungen ausgesetzt ist.

Wie aufgezeigt, betrifft die Demenz nicht nur die neuropathologischen Prozesse, sondern die gesamte Person. Personsein beinhaltet nach Kitwood (2000) Selbstachtung, Aktivitäten und Rollen innerhalb sozialer Gruppen, sowie Kontinuität, Integrität und Stabilität des Selbstwertgefühls. Weiterhin impliziert es die Notwendigkeit nach Anerkennung, Respekt und Vertrauen. Eine Person zu werden beinhaltet Beziehungsgestaltung zur sozialen Umwelt, sich mit anderen Menschen auszutauschen sowie sich und andere reflektieren und erfahren zu können. Aufgrund der eigenen Erfahrungen ist jede Entwicklung einer Person unterschiedlich und gibt jeder Person eine andere Persönlichkeit.

Unter den Bedingungen einer Demenz vom Alzheimertyp treten gehäuft verschiedene Formen der Persönlichkeitsveränderungen auf, die nicht nur von wissenschaftlichem Interesse sind, sondern gerade die Beziehungsgestaltung zu betroffenen Menschen im Alltag ausmachen (Retz-Junginger, Retz, Rösler, 2000).

Nach Kitwood (2000) ist aus heutiger Sicht keine altersabhängige Differenzierung (senil bzw. präsenil) bzgl. der DAT mehr möglich, aber trotzdem gibt es viele unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen, die allesamt unter diesem Begriff zusammengefasst werden. Eine Möglichkeit der Heterogenität der DAT ist die, dass ein einziger Krankheitsprozess bei verschiedenen Individuen zu verschiedenen Ergebnissen bzw. Bedingungen führt. Man kann aber ebenso vermuten, dass unter dem Begriff der Alzheimer Krankheit in Wirklichkeit mehrere, eigentlich zu differenzierende pathologische Prozesse vereint werden.

1.1.3 Pathophysiologische Grundlagen

Aus einer zunächst einmal außenstehenden, defizit- und krankheitsorientierten Perspektive betrachtet, stellt sich die Demenz mit der verbundenen Verwirrtheit als chronischer Prozess dar, der vielfach wegen der verschiedenen Formen von Verlusten subjektiv als Abbau empfunden wird. Es können parallel weitere körperliche und psychische Entwicklungen einhergehen, die den Demenzprozess fördern und/oder vom Demenzprozess gefördert werden.

Nach DSM-IV der amerikanischen Psychiatrievereinigung ist eine Demenz als komplexe neuropsychologische Störung definiert. Dabei ist stets eine Störung des Gedächtnisses und mindestens eine weitere Beeinträchtigung der sogenannten höheren kortikalen Funktionen beteiligt. Diese Störungen der kortikalen Funktionen sind z.B. Aphasie, Apraxie, Agnosie oder eine Störung der Handlungs- und Planungskompetenz (Exekutivfunktionen). Die kognitive Beeinträchtigung, bedingt durch eine Demenz, muss in ihrer gesamten Dynamik zu Entwicklungen führen, die die alltagspraktischen Kompetenzen und alltäglichen Aktivitäten negativ beeinflussen (Schröder, 2000a).

Nach ICD-10 ist ein dementielles Syndrom eine chronisch fortschreitende Erkrankung des Gehirns, dessen Störungen über mindestens sechs Monate erkennbar sein sollen. Es beeinträchtigt demnach viele höhere kortikale Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist nach ICD-10 nicht quantitativ gestört. Kognitive Begleiterscheinungen sind dementsprechend meist von Störungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation geprägt. Unter den Bedingungen einer Demenz kommt es nach ICD-10 zu entscheidenden gestörten Entwicklungen in der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Gerade das sogenannte Kurzzeitgedächtnis ist demnach zunehmend beeinträchtigt und im Vergleich zu prädementiellen Entwicklungen nicht mehr so leistungsstark. Die Kompetenzen im Bereich der sozialen Leistungsfähigkeit werden demnach ebenso vergleichsweise geringer auslebbar, als im früheren Lebensalltag. Besonders auffällig ist aus medizinischer Perspektive die Entwicklung im Bereich der alltagspraktischen Fähigkeiten. Im Vergleich zu früheren Kompetenzen ist die Veränderung dahingehend, dass die Aktivitäten des täglichen Lebens oft nicht mehr selbständig vollzogen werden können, da es aufgrund der zunehmenden Unfähigkeit der kognitiven Verknüpfung und der Zusammenhänge zwischen Denken, Fühlen, und Handeln insbesondere auch auf motorischer Ebene zu Problemen kommt. Nicht-kognitive Störungen der Demenz stehen in medizinischer Hinsicht nicht in direkter Weise in Zusammenhang zu den kognitiven Entwicklungen, werden aber durch sie beeinflusst. Solche möglichen Erscheinungen sind z.B. wahnhaftes Denken, illusionäre Verkennung, aggressives und regressives Verhalten im zwischenmenschlichen Handeln, psychomotorische Unruhe, Störungen des Tages-/Nachtrhythmus` und Biorhythmus`, Stimmungslabilität und Ängste. Damit scheinen bei einem Menschen, der unter den Bedingungen einer DAT lebt, im wesentlichen die Ebenen des Denkens und des Fühlens gestört. Diese Entwicklungen vollziehen sich schleichend. Es vergehen schon Jahre bis die ersten Anzeichen für die Außenstehenden ersichtlich und eingeordnet werden können. Durchschnittlich vollziehen sich die Prozesse von den ersten deutlichen Anzeichen der DAT bis zum Finalstadium innerhalb von 6-8 Jahren (WHO, 1991; Wettstein, Chappuis, Fisch, 1997; Popp, 1999; Schröder, 2000a).

Die Demenz vom Alzheimertyp ist in medizinischer und pathophysiologischer Hinsicht eine degenerative zerebrale Erkrankung. Sie ist in dieser Perspektive stetig progredient über einen Zeitrahmen von bis zu etwa zehn Jahren. Die Prozesse im Hirn selbst sind aus dieser Sicht grob davon gezeichnet, dass eine Verminderung der Neuronen- und Synapsen-Population auftritt, und insbesondere sich fortschreitend neuritische Plaques (Amyolid-Plaques) ausbreiten, neurofibrilläre Verklumpungen (Tangles) erscheinen, sowie granulovaskuoläre Körper vorkommen und dadurch u.a. Neurotransmitter und Neuromodulatoren vermindert werden bzw. nicht weitergeleitet werden. Die Entwicklungen können hirnorganisch an unterschiedlichen Segmenten voranschreiten und daher unterschiedliche Symptome und Symptomkombinationen hervorbringen (Weis, 1997; WHO, 1991).

Mikroskopisch-morphologische Veränderungen zeigen sich hirnorganisch speziell in massiven intra- und extrazellulären Ablagerungen von Beta-Amyloid bzw. A4-Protein in Hippokampus, Basalkernen und Assoziationsfeldern des Großhirnes (intrazellulär in Form von Neurofibrillen, extrazellulär als neuritische Plaques mit begleitendem Dendritenschwund). Als Folge der Amyloidablagerungen erscheinen Beeinträchtigungen der Cholinazetyltransferase-Aktivität um bis zur Hälfte. Ebenso wird die Aktivität von z.B. Serotonin, Noradrenalin, Dopamin, etc. gestört (Payk, 1994).

Ein anderes wesentliches Element des voranschreitenden Entwicklungsprozesses der DAT ist in physiologischer Hinsicht der hirnoganisch-innerzelluläre Energieverlust durch einen gestörten Glukosemetabolismus. Dies führt im weiteren Prozessverlauf zu Mangeldurchblutung mit niedrigem Sauerstoffverbrauch des Hirnes (Hoyer, 1994). Als Folge des gesamten Prozesses ist demnach u.a. eine ausgeprägte Hirnrindenatrophie im fronto-temporalen und parieto-okzipitalen Bereich zu erkennen sowie eine Verlangsamung des Grundrhythmusses der Hirnströme (Payk, 1994).

Es werden noch verschiedenste weitere Möglichkeiten der Entstehungsursachen und Merkmale der DAT diskutiert, wie z.B. die genetische Disposition (Wächtler, 1997).

Letztendlich führen die Entwicklungen der hirnorganischen Prozesse der DAT und deren Dynamik zum Tode, weil es mit dem Leben nicht vereinbar ist, wenn wichtige lebensnotwendige Funktionen des Körpers, wie z.B. Atmen und Schlucken, aber auch damit verbundene Fähigkeiten im Austausch zur Umwelt nicht oder stark eingeschränkt ausgeführt werden können. So kommt es leicht zu Sekundärerscheinungen, wie z.B. Pneumonie, die den Tod des betroffenen Menschen herbeiführen können. Bisher sind Demenzprozesse pharmakologisch und medizinisch nicht langfristig aufhaltbar, veränderbar oder zu verhindern (Wettstein, Chappuis, Fisch, 1997).

1.1.4 Psychosoziale Grundlagen

In der Literatur werden verschiedene psychosoziale Zuschreibungen bzw. Symptome zur DAT beschrieben. Bei sogenannter Verwirrtheit ist demnach die Orientierung entweder zur Situation, Person, Zeit oder zum Ort gestört. Dies kann sich auf alle vier Kriterien oder auch nur auf eines beziehen. Laut diesen Zuschreibungen ist das Gedächtnis, insbesondere das Kurzzeitgedächtnis, eingeschränkt. Menschen, die als chronisch verwirrt beschrieben werden, sind demnach konzentrationsgestört und deswegen oftmals unsicher und ängstlich. Nach diesen Beschreibungen ist ihr Denken unzusammenhängend, bruchstückhaft, meist wenig abstrakt und leicht an einmal aufgetauchten Gedankengängen haftend. Die sogenannten verwirrten Menschen sind danach leicht beeinfluss- und ablenkbar wie auch wenig kritikfähig und zugänglich (Klein, 1991; Junkers, 1995).

In der Literatur werden Wahrnehmungsstörungen als häufiges Symptom der DAT benannt. Dies bezieht sich auf die einzelnen Sinne und kann z.B. auch Halluzinationen und Illusionen bewirken. Demnach kann ebenso u.a. aufgrund der hirnorganischen Zusammenhänge das affektive Erleben bei dementen Menschen in den Demenzprozess involviert sein und vermag beispielsweise Unruhe und Angst krankhaft verstärken. Nach der Literatur entstehen daraus Ratlosigkeit und Unsicherheit für die dementen Menschen. Der Antrieb der betroffenen Menschen kann nach diesen Beschreibungen innerhalb der dementiellen Entwicklungen stark gesteigert, wie auch stark gemindert sein. Dies kann danach einerseits zur ausgeprägten motorischen Unruhe und Erregung, sowie andererseits zur Teilnahmslosigkeit und Apathie führen. Aus den genannten Entwicklungen heraus kann das Handeln bzw. die Handlungsfähigkeit gestört sein (Klein, 1991; Junkers, 1995).

Durch Unruhe und Unsicherheit entstehen große Ängste, die grundsätzlich Fundament für aggressives und regressives Handeln sind. Aggressionen, als drohendes oder gefährdendes Handeln gegenüber sich selbst, anderen Personen oder Gegenständen, werden aber auch durch die Demenzprozesse selber gefördert, z.B. wenn Stirnhirn und Hypothalamus von den Prozessen betroffen sind. Diese kontrollieren und beeinflussen die Aggressionsgefühle (Grond, 1997).

1.1.5 Phasen des Demenzprozesses

Demente Menschen sind Entwicklungsbedingungen unterworfen, die sich zwar nicht konkret vereinheitlichen lassen, aber in dynamischen Phasen strukturiert darstellbar sind. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft differenziert drei Phasen der Entwicklungen eines Demenzprozesses und seiner Folgen für die betroffenen Menschen:

1) Hiernach können folgende Parameter als allgemein mögliche Anzeichen der beginnenden

DAT angesehen werden:

-das Vergessen von kurz zurückliegenden Ereignissen;
-die Schwierigkeit, sich in unvertrauter Umgebung zurechtzufinden;
-Probleme bei der Ausführung gewohnter Tätigkeiten;
-Nachlassendes Interesse an Arbeit und Hobbys;
-Schwierigkeiten beim Treffen von Entscheidungen.

2) Das erste Stadium der DAT zeichnet sich danach gewöhnlich durch leicht gradige

Symptome und Beeinträchtigungen bei komplexen Tätigkeiten im Alltag aus. Dabei

betrifft die Störung, der Einteilung zufolge, überwiegend die Bereiche:

-des Gedächtnisses, vor allem das Speichern neuer Informationen;
-der Sprache, vor allem Wortfindung und Ausdruckspräzision;
-des Denkvermögens, besonders Schlussfolgern und Urteilen;
-der örtlichen Orientierung in unvertrauter Umgebung; des Antriebsverhaltens; z.B.

Passivität oder Untätigkeit;

-der zeitlichen Orientierung.

3) Im zweiten Stadium der DAT sind nach der Deutschen Alzheimer Gesellschaft die Symptome so stark ausgeprägt, dass eine selbständige Lebensführung nur noch mit erheblichen Einschränkungen und Unterstützung durch andere Menschen möglich ist. Betroffen sind demnach Bereiche, wie die:

-des Gedächtnisses, z.B. Vergessen von Namen vertrauter Personen;
-der Alltagsfunktionen, z.B. Ankleiden, Körperpflege, Ausscheiden sowie Essen und Trinken;
-der örtlichen Orientierung in vertrauter Umgebung;
-der Wahrnehmung, z.B. in Form von Halluzinationen und Illusionen;
-des Antriebes, in Form von ausgeprägter Unruhe und ziellosem Umherwandern;
-der zeitlichen Orientierung bezüglich Gegenwart und Vergangenheit.

4) Im dritten Stadium der DAT ist, nach der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, die

selbständige Lebensfähigkeit der Menschen derart aufgehoben, dass sie nur durch

pflegerische Interventionen aufrecht erhalten werden kann und somit besteht eine absolute

Pflegeabhängigkeit. Denken, Sprechen, Orientierung und Antrieb sind weitestgehend

gestört. Körperliche Sekundärerscheinungen sind Folge der Entwicklungen unter den

Bedingungen der DAT. Es werden folgende Problembereiche zugeordnet:

-das Essen und Trinken, auch mit Hilfe;
-die Unfähigkeit Familienmitglieder zu erkennen;
-ein vornübergebeugter, schleppender, klein schrittiger Gang und die Gefahr von Stürzen;
-der Verlust über die Kontrolle von Blase und Darm;
-ein verändertes sexuelles Verhalten;
-die Möglichkeit von zerebralen Krämpfen und Schluckstörungen.

5) Im dann fließend folgenden Endstadium kommt es zu einem körperlichen Kräfteverlust.

Die dementen Menschen werden bettlägerig, völlig hilflos und körperlich verkrampft. Sie

sterben zumeist an Sekundärerscheinungen, wie Pneumonie (Deutsche Alzheimer

Gesellschaft, o.J.).

In dieser Arbeit wird sich vorwiegend auf Menschen bezogen, die unter den Bedingungen der hier genannten ersten und zweiten Phase einer DAT leben. Die Begegnung in der Pflege mit diesen Menschen wird stark durch diese Bedingungen geprägt.

Eine weitere, aber kompliziertere, Stadieneinteilung der Prozesse der DAT erfolgt nach Reisberg (vgl. Popp, 1999). Danach vollziehen sich die Entwicklungen in sechs Stadien. Im ersten sind die sehr geringen Störungen nur vom betroffenen Menschen zu registrieren. Die folgenden Störungen im zweiten Stadium können noch überspielt oder vertuscht werden, z.B in Arbeitsabläufen. Im dritten Stadium werden mäßige Störungen deutlich, wie schlechte Informationen über aktuelles Geschehen oder Organisationsprobleme, z.B. beim Einkaufen. Der offensichtliche Beginn der DAT erfolgt mit den mittelschweren Störungen im vierten Stadium. Dies geht einher mit deutlichen Verlusten des Gedächtnisses und alltagspraktischer Kompetenzen, z.B. beim Kochen und der Körperpflege. Damit wird die erste Ebene der Hilfsabhängigkeit erlangt. Im folgenden fünften Stadium der schweren Störungen werden Verluste der Umweltwahrnehmung, der körperlichen Funktionen, z.B bei der Ausscheidung sowie der Erinnerung an persönliche Bekannte deutlich. Eine vollständige Abhängigkeit von Hilfe ist damit erreicht. Im sechsten Stadium werden dann u.a Verluste der Kontrolle über Wortschatz und Sprachvermögen, Körperbalance und Mimik erkennbar (Popp, 1999).

1.1.6 Fazit

Die Demenz vom Alzheimertyp (DAT) bringt Gegebenheiten mit sich, mit denen die betroffenen Menschen leben müssen. Dies stellt Bedingungen auf, die das gesamte Leben des betroffenen Menschen beeinflussen. Die DAT stellt eine (Lebens-) Bedingung dar, die aufgrund verschiedener Prozesse, innerhalb unterschiedlicher Phasen und durch komplexe Auswirkungen den Lebensprozess der betroffenen Personen aktiv mitgestaltet.

Aus diesem gesamten Kontext kann man folgern, dass die Bedingungen, die durch die Demenzprozesse hervorgebracht werden, den Alltag und die sozialen Beziehungen prägen, gleichzeitig diese aber auch Bedingungen für die Entwicklungen der Demenzprozesse darstellen (Kitwood, 2000).

Aus diesen Aussagen kann annähernd erschlossen werden, welche Folgen für die betroffenen Menschen demenzbedingt erwartbar sind. Die Lebensbedingungen für die betroffenen Menschen und ihre Angehörigen werden unter den Bedingungen einer DAT zunehmend verändert. Die Bedingungen nehmen Einfluss auf die Beziehungen, das Selbstwertgefühl, die Selbstidentität, die Selbständigkeit, den Körper, das Erleben und das Denken, Fühlen und Handeln der betroffenen Menschen. Die Veränderungen unter den Bedingungen einer DAT beziehen sich also auf grundlegende Beziehungen zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Umwelt allgemein. Damit ändert sich der gesamte Lebensalltag eines betroffenen Menschen und seiner Angehörigen. Demenz kann in diesem Rahmen nach Becker (2000a/2000b) als das Scheitern in der Alltagsbewältigung bezeichnet werden.

Diese Faktoren stellen die Lebensbedingungen und die Lebensqualität der betroffenen Menschen dar, mit denen Pflegende in der spezifischen Pflegesituation bzw. im Pflegealltag konfrontiert werden. Diese Faktoren bestimmen also die Bedingungen unter denen Pflege geschieht.

Sogenannte Alzheimer erkrankte Menschen zeichnen sich aber nicht nur durch ihre Defizite aus. Sie haben je nach Phase des Demenzprozesses und den damit verbundenen Bedingungen, verschiedene Stärken bzw. Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen. Grundsätzlich sind demente Menschen in der Lage Gefühle und Antriebe wahrzunehmen (Richard, 2000). Der demente Mensch ist trotz seiner hirnorganischen Entwicklungen grundsätzlich physisch und psychisch in der Lage dazu, einzelne Handgriffe und deren Abfolgen selbständig zu koordinieren. Der demente Mensch ist fähig zu Tätigkeiten, wie Ankleiden und Mahlzeiten richten, er hat die Stärke, Anleitung und Animation, als das begleitende Angebot von Stimuli, anzunehmen, und er besitzt die Ressource, diese Tätigkeiten zu kennen. Daraus folgt z.B., dass auch sogenannte demente, also „chronisch kranke“, Menschen, zu Wohlbefinden, gesundheitsfördernden Aktivitäten und Lernen unter de gegebenen Bedingungen der Krankheit fähig sind. Gegebenenfalls benötigen sie dazu Begleitung und Unterstützung bzw. Anleitung und Anreize.

Trotz der Feststellung, dass die Demenz vom Alzheimertyp eine Krankheit besonders des höheren Alters ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich ein therapeutischer und diagnostischer Aufwand nicht lohne. Nach dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2001/2002) muss ein diagnostischer und therapeutischer Nihilismus dringend abgebaut werden. Eine aktivierende Pflege stellt deswegen eine sehr große Bedeutung für die Betroffenen, deren Angehörigen und die Pflegenden dar (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2001/2002).

Nach diesen Ausführungen sind folgende Ziele des Deutschen Bundestages (1996) zur Behandlung Demenzkranker verständlich und können für die Pflege als wegweisend angesehen werden:

- "den Beginn der manifesten Erkrankung möglichst aufzuschieben,
- Verschlimmerung oder Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern,
- Selbstbestimmung und Selbständigkeit der Lebensführung der Erkrankten mit allen Mitteln zu fördern,
- Würde und Lebensqualität Betroffener auch im Spätstadium der Erkrankung durch Anpassung der Lebensbereiche an verbliebene Fähigkeiten zu gewährleisten"

(Deutscher Bundestag, 1996, S. 12).

1.2 Ausgewählte Pflegeprobleme

Die Pflege sogenannter dementer Menschen wird in der Literatur und Praxis häufig als eine der schwersten Pflegesituationen bzw. -aufgaben beschrieben (vgl. z.B. Schnepp, 1997). Hier sollen einige Probleme, die die Pflegepraxis und -theorie beeinflussen, thematisiert und theoretisch erläutert werden. Speziell bei dementen Menschen werden in der Literatur u.a. Aspekte wie Alltag, Lebenswelt, Gesundheit und Selbstbestimmung wichtig (Schnepp, 1997). Diese Gesichtspunkte sind also auch wichtige Aspekte und mögliche Problempunkte für Praxis und Theorie. Deswegen sollen anhand ausgesuchter Beispiele Probleme bezüglich der Pflege sogenannter dementer Menschen beschrieben werden, die sich u.a. auf diese Aspekte beziehen.

Im Rahmen dieser Einführung ins Thema können die aufgeführten Aspekte leider nicht hinreichend aufgearbeitet werden. Deswegen sei zur Vertiefung auf die angeführte Literatur verwiesen.

1.2.1 Das Problem der Alltags- und Lebenswelt sogenannter dementer Menschen

1.2.1.1 Alltagswelt

Alltag oder Alltagswelt stellen die selbstverständliche und vertraute gesellschaftliche Wirklichkeit eines jeden Menschen dar. Die Alltagswelt wird in der Interaktion der Menschen geprägt und verstanden. Sie wird als gegeben vorgefunden und reflektiert. Im gesellschaftlichen Kontext einer Kultur kann der Mensch davon ausgehen, dass die ihn umgebenden Menschen die gleiche Auffassung von Alltagswelt haben, wie er selbst. Dies ist in Form des Alltagsbewusstseins Voraussetzung für eine innergesellschaftliche Erwartungssicherheit und eine berechenbare sowie stabile Interaktion. Im alltäglichen zwischenmenschlichen Zusammenleben entwickelt sich eine Alltagskultur, die den Menschen prägt, wie z.B. Traditionen, Rituale, Rollen, Gewohnheiten, etc.. Das Alltagswissen entwickelt sich über Generationen hinweg und beeinflusst so die Entwicklung der Menschen über die Verfestigung von Erfahrungen in einen kollektiven Wissensbestand. Das Alltagsbewusstsein hängt eng mit dem Alltagswissen zusammen und bestimmt damit das Welt- und Gesellschaftsbild eines Menschen. Es ergibt sich aus den spezifischen Lebensverhältnissen der Menschen (Hillmann, 1994).

Dies gilt für jeden Menschen, da sie durch ihre Alltagserfahrungen geprägt werden. Der Alltag der dementen Menschen ergibt sich aus außenstehender Sicht vielfach aus unsinnigen, verwirrten und nicht situationsgemäßen Handlungen, die meist sogar als störend und anstrengend empfunden werden. Das Problem ergibt sich aus der unterschiedlichen Alltagserfahrung der beteiligten Menschen. Unter den Bedingungen der Demenz handeln die Menschen für Außenstehende oft nicht situationsadäquat oder normgerecht. Aus dem Alltagserleben eines dementen Menschen heraus kann dieses Handeln von ihnen aber sehr wohl als sinnvoll erlebt werden. Das Problem in der Pflege ergibt sich aus den unterschiedlich sinnvoll erlebten Sinnzusammenhängen der spezifischen Situation.

1.2.1.2 Lebenswelt

Die Welt wird von Menschen als Umwelt wahrgenommen und spiegelt die gegebene Gegenwart als Lebenswelt wider (Seiffert/Radnitzky, 1994).

Lebenswelt bezeichnet den subjektiven und gruppenspezifischen Bereich des alltäglichen, selbstverständlichen Wissens, Handelns und Erlebens von Menschen. Diese steht im Kontext zur geschichtlich-soziokulturellen Erfahrungswelt eines Menschen (Hillmann, 1994).

Gleichzeitig wird die Lebenswelt aber auch durch die Alltagswelt bestimmt. Gedanken und Gefühle, damit dann auch menschliche kommunikative Ausdrucksformen, beziehen sich auf äußere Gegebenheiten sowie die Wahrnehmung und Bewertung dieser. Realität entsteht dann in der eigenen Interpretation des Austausches mit der Umwelt (Radlinski, 1995).

Die Lebenswelt eines Menschen ist abhängig von seiner Sozialisation und damit also individuell. Jeder Mensch macht im Laufe seines Lebens eigene Erfahrungen und entwickelt eigene Kompetenzen, Perspektiven, Phantasien, etc. sowie entsprechende emotional-kognitive Haltungen, die Ausdruck seiner Wirklichkeit sind. Die Wahrnehmung und Bewertung der Wirklichkeit äußert sich durch verbale und nonverbale Kommunikation. Menschliches Handeln ist Ausdruck der jeweiligen Lebenswelt und ist abhängig von der jeweiligen Realität als gegebene Wirklichkeit. Gerade in der Psychiatrie können die wahrgenommenen Realitäten sich begegnender Menschen sehr unterschiedlich sein. Demente Menschen wiederum besitzen durch ihre spezifischen Lebensbedingungen nochmals einen anderen Bezug zur (bzw. zu ihrer) Realität, innerhalb der ihnen zugänglichen emotional-kognitiven Haltungen. Sie leben aber ebenso ihren Wahrnehmungen gemäß und drücken sich gemäß ihres Erlebens aus (Scheffel, 2000).

Die Lebenswelt gestaltet also auch den Alltag eines Menschen und stellt damit die Bedingungen für die Bewältigung des Alltags dar. Diese Bedingungen sind die, die ebenso die Beziehungen zu Pflegenden prägen bzw. den Pflegealltag. Dies zeigt, wie das Alltagserleben eines Menschen das berufliche Alltagserleben der Pflegenden beeinflusst und deshalb bei ungleicher Auffassung der Alltags- und Lebenswelt keine Erwartungssicherheit in der Interaktion gegeben ist. Das Problem in der Pflege dementer Menschen ist, dass aufgrund des unterschiedlichen Erlebens der Alltags- und Lebenswelt keine Erwartungssicherheit in der Interaktion besteht.

1.2.1.3 Das Handeln der dementen Menschen

Handeln ist überwiegend jene Form menschlicher Tätigkeit, die als äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden mit einem subjektiven Sinn des Handelnden verbunden ist. Das Handeln ist eine sinnhafte, bewusst-planmäßige und intersubjektive Aktivität im Rahmen alltäglicher Lebenswelt (Hillmann, 1994).

In der zwischenmenschlichen Aktion werden die Handlungen der Mitmenschen interpretiert, um sie zu verstehen. Dazu wird auf gleiche Erfahrungen, Normen, Konventionen, Symbole, etc. zurückgegriffen (Seiffert/Radnitzky, 1994).

Das Handeln steht demnach in enger Verbindung zur Alltags- und Lebenswelt und den dadurch geprägten Erfahrungen, Normen, Werten, Gewohnheiten, Motiven, etc.. Diese Verbindung beeinflusst das Erleben, folglich wiederum die Lebenswelt. Diese Dynamik ist auch bei dementen Menschen gegeben und stellt deren Lebensbedingungen dar. Dadurch gestalten sie mit ihrem Handeln in Abhängigkeit von ihrem lebensweltlichen Alltagserleben die Pflegebeziehung. Das Problem besteht darin, dass das Handeln eines Menschen unter den Bedingungen einer DAT aufgrund dessen lebens- und alltagsweltlichen Erlebens stark von gesellschaftlichen Normen abweichen kann und dieses Phänomen von den Pflegenden oft als störend oder beängstigend empfunden wird.

1.2.1.4 Reflexion für die Pflege

Demente Menschen leben für Außenstehende in einer auffällig anderen Alltags- und Lebenswelt, welche dann von außen als unreal empfunden wird. Pflegende können dieses Handeln innerhalb ihrer Lebenswelt oft nicht nachvollziehen und halten es deshalb leicht für problematisch und schwierig. Von Pflegenden und dementen Menschen wird die unterschiedlich erlebte Alltags- und Lebenswelt wahrgenommen und führt beiderseits zu Unsicherheiten und Konfusion (Becker, 2000a/2000b), was eine problematische Situation sogar eskalieren lassen kann. Dies stellt ein großes Problem in der Praxis dar!

Die Andersartigkeit der Alltags- und Lebenswelt sogenannter dementer Menschen stellt die Pflege damit vor ein doppeltes Problem. Erstens müssen Pflegende sich grundsätzlich in eine andere Lebenswelt einfinden, wenn sie einem anderen Menschen mit seinen Problemen begegnen. Zweitens ist die Alltags- und Lebenswelt dementer Menschen so ausgeprägt unterschiedlich zu der der Pflegenden, dass diese sehr befremdlich auf sie wirkt.

1.2.2 Das Problem des therapeutischen Nihilismus`

Wie schon angeklungen, wird ein therapeutischer Nihilismus als Problem angesehen. Er stellt eine Negierung von therapeutischen Möglichkeiten bzw. eines angeblich ungenügenden Nutzens dieser, z.B. aufgrund des hohen Alters der betroffenen Person (Grond, 1997), dar und ergibt sich u.a. aus der medizinisch nicht möglichen Heilung einer Krankheit.

1.2.2.1 Chronizität und Heilung

Van Kampen und Sanders (2000) beschreiben ein Problem auf pflegetheoretischer Ebene, das sich ähnlich auch in den Problemen der Praxis widerspiegelt. Je stärker Pflegeziele nach Heilung oder Wiederherstellung von Gesundheit ausgerichtet sind, desto größer ist die Gefahr der konsequenten Ausgrenzung von Menschen, die nicht wieder gesund werden, geheilt werden können oder gar sterben werden. Van Kampen/Sanders stellen nun die These auf, dass sich weitreichende Theorien, also auch die der Pflege, auf alle Menschen, unabhängig von der Art oder Schwere ihrer Beeinträchtigungen, beziehen sollten, soll es nicht zur theoretischen Ausgrenzung kommen (van Kampen/Sanders, 2000). In solchen Zielen werden die Möglichkeit der Erlangung von Wohlbefinden und Zufriedenheit vernachlässigt. Desweiteren werden so allein die Außensicht und deren Ziele auf Menschen übertragen und deren Ressourcen, Wünsche, Bedürfnisse und Möglichkeiten völlig ausgeblendet. Dies gilt also verstärkt auch für die Pflege sogenannter dementer Menschen. Corbin/Strauss (1993) beschreiben in ihrer Pflegetheorie allgemein, dass chronisch Kranksein und Wohlbefinden sich nicht ausschließen müssen.

1.2.2.2 Perspektiven

Auch aus dem heilungsorientierten Medizinverständnis heraus geprägt, wird die Chronizität der DAT oftmals als aussichts- und hoffnungslos empfunden. Gleichzeitig ist eine Art Hilflosigkeit damit verbunden, weil man als professionell tätige Person konkret nicht viel tun kann, um diese chronischen Prozesse aufzuhalten oder gar dahingehend zu beeinflussen, dass sie eine positive Entwicklung im Sinne von Heilung nehmen (van Kampen/Sanders, 2000).

Aus diesem Grund besteht auch leicht eine gewisse Ziel- und Perspektivlosigkeit, die sich dahingehend äußern kann, dass außer einer eher körperbezogenen "Versorgung" und einer Betreuung mit dem Ziel zur Verhütung von Problemen und Gefahren als Wahrung der körperlichen Sicherheit kaum Maßnahmen ergriffen werden. Eine Art Rückzug vom Patienten oder Bewohner auf der Beziehungsebene wird vollzogen (van Kampen/Sanders, 2000).

1.2.2.3 Gewalt

Gewalt ist eine Form des Handelns, das potentiell realisierbare grundlegende menschliche Bedürfnisse durch meist systematische Ausübung oder Unterlassung von Handlungen mit dem Ergebnis einer ausgeprägten negativen Einwirkung auf die Befindlichkeit eines anderen Menschen (Hirsch, 2000a). Gewalt beinhaltet Aggression (Grond, 1997). Aggression und Aggressivität kann sich u.a. aus Frustration als Angriffslust in Form von Denken, Fühlen und Handeln nach außen sichtbar, wie unsichtbar gegen sich, andere und Gegenstände in verbaler, sozialer und physischer Form äußern (Peters, 1990).

Gewalt gegen alte Menschen ist in unserer Gesellschaft ein weitverbreitetes Phänomen, das grundsätzlich einer komplexen Analyse bedarf, da es nicht linear-kausal erklärt werden kann (Hirsch, 2000a).

Dies geschieht über z.B. negative Vorurteile zum Alter und dem vermeintlichen geistigen Abbau; über Ausgrenzung von psychischer Krankheit und der damit eventuell verbundenen Chronizität und therapeutischem Nihilismus (Hirsch, 2000a).

Nach Einwirkung von besonders körperlicher Gewalt bzw. Zwangsmaßnahmen werden erwiesenermaßen Faktoren wie Desorientierung, Inkontinenz, Immobilität und Pflegebedürftigkeit gefördert (Hirsch, 2000b).

Es gibt physische, psychische, soziale und rechtliche Formen der Gewalt. Beispiele dafür sind z.B. unangemessene Anwendung von Medikamenten, äußere und innere Verletzung, Demütigung, emotionaler Rückzug, Isolation, unangemessene und ungeeignete Beaufsichtigung, unangemessene Umgebung, Missbrauch von professioneller Autorität (Hirsch, 2000a).

Auch die Gewaltausübung gegen Pflegende stellt ein Problem dar. Sie ist ebenso vielschichtig und komplex, wie die von den Pflegenden ausgehende (Richter/Sauter, 1998). Beispiele dafür sind Kratzen, Beißen, Spucken, Schlagen, etc. Von den Pflegenden wird auffälliges Verhalten der alten Menschen, wie z.B. Ratlosigkeit, herum schmieren mit Fäkalien, Angstausbrüche, Misstrauen, Herumirren, Wiederholungsfragen, mangelnde Orientierung, Verwechseln der Räume, Blumenerde essen, Schlafprobleme, irrelevante Tischmanieren, etc. als aggressiv erlebt (Grond 1997).

Werden demente Menschen aggressiv oder regressiv, stellt dies einen Stressor für die Pflegenden dar. Sie reagieren auf Aggression oftmals hilflos mit Gegengewalt (Ringbeck, 1998; Heffter, 1998). Dies fördert dann leicht eine abnehmende Frustrationstoleranz auf Seiten der Pflegenden und der dementen Menschen und ermöglicht eine unendliche Spirale von Gewalt und Gegengewalt (Richter, 1998).

1.2.2.4 Reflexion für die Pflege

In dem Kontext von Perspektiv- und Ziellosigkeit entsteht leicht ein therapeutischer Nihilismus mit einer Art von Entmenschlichung der betroffenen Personen. Dieser geht mit einem Rückzug von den betroffenen Menschen einher, der entweder in Überbehütung oder Kommunikationsverweigerung enden kann (Jantzen, 1996).

In der Pflege ist Gewalt ein häufiges Problem. Die Pflegenden können im Bereich der Gesundheitsversorgung als die Berufsgruppe mit der größten Gewaltausübung betrachtet werden (Hirsch, 2000b).

Hilflosigkeit, Perspektivlosigkeit und therapeutischer Nihilismus fördern diese Spirale und bewirken gleichzeitig eine Unzufriedenheit der Pflegenden (Hirsch, 2000b).

Von einem Demenzprozess beeinflusste Handlungen werden von den Pflegenden leicht als Anormalität gedeutet. Die Pflegenden reagieren dann schnell z.B. aus Unverständnis heraus mit Zwang und Kommunikationsverweigerung gegenüber den dementen Menschen, was die Demenzprozesse und deren sichtbaren Folgen fördert sowie die dementen Menschen nur noch abhängiger und frustrierter macht.

Ein mangelndes Verstehen der Situation sowie der Alltags- und Lebenswelt der dementen Menschen fördert aggressives, gewalttätiges Handeln der Pflegenden (Becker, 2000a/2000b). Dies wird beeinflusst, z.B. von der Qualifikation, Personalausstattung, Arbeitsorganisation, Vorurteilen, etc. (Hirsch, 2000b).

1.2.3 Das Problem der Professionalität pflegerischer Handlungsprozesse

1.2.3.1 Pflegehandeln

Nach Wieland (1975) ist der Sinn einer praktischen Wissenschaft der, ein Verständnis des Denkens und Handelns der Disziplin zu ermöglichen, ohne von einer Spaltung in eine theoretisch-wissenschaftliche und eine praktisch-ethische Sphäre auszugehen. Nach Wieland (1975) haben praktische Disziplinen primär immer Beurteilung, Planung und vernünftige Motivierung von Handlungen zum Gegenstand. Danach ist es Ziel, ein an Prinzipien orientiertes vernünftiges Handeln zu ermöglichen.

Oevermann (1978) stellt Prinzipien des professionellen Handelns auf:

"a) Die im engeren Sinne wissenschaftliche Kompetenz des Verständnisses von Theorien und der Verfahren ihrer Konstruktion sowie der Logik ihrer strikten Anwendung und b) die hermeneutische Kompetenz des Verstehens eines 'Falles' in der Sprache des Falles selbst (...)" (Oevermann, 1978, S. 6f).

Weidner (1995) bezieht sich direkt auf die Pflege und postuliert, indem er sich indirekt auf Habermas und Oevermann bezieht, dass "professionelles Handeln als ein personenbezogenes, dem kommunikativen Handeln verpflichtetes, stellvertretendes Agieren des Professionellen für den Betroffenen im Sinne der Einheit von Wissensbasis und Fallverstehen" (Weidner, 1995, S. 53) sei. Aus den Prinzipien professionellen Handelns nach Oevermann leitet er ab, dass es also "um die Fähigkeit, wissenschaftlich fundierte und abstrakte Kenntnisse in konkreten Situationen angemessen anwenden zu können" (Weidner, 1995, S. 52) gehe.

Das zeigt nach Friesacher (2000), dass Pflege bzw. pflegerisches Handeln auf einer doppelten Handlungslogik beruht. Einerseits orientiert es sich an wissenschaftlichem Regelwissen, andererseits ist das individuelle Fallverstehen im pflegerischen Handeln ebenso notwendig (Friesacher, 2001). Pflegende benötigen also eine gewisse Praxiskompetenz und entsprechendes Pflegeverständnis, um solches Regelwissen überhaupt als hermeneutische Kompetenz des Verstehens in die Praxis integrieren zu können.

Ein professionell-technologisches und eher auf der Ebene der rein biologischen Perspektive angesiedeltes Handeln lässt aber ein individuelles Fallverstehen vermissen und kommt deshalb in der Praxis schnell an seine Grenzen, wenn sogenannte Problempatienten oder -bewohner den spezifischen Fall ausmachen (Friesacher, 2001).[1]

1.2.3.2 Pflegeprozess

Ein anderes Problem in der Praxis ist die Zielformulierung (van Kampen/Sanders, 2000), wenn erstens eine Perspektivlosigkeit besteht und zweitens die betroffenen Menschen nicht daran teilhaben. Der Pflegeprozess beinhaltet grundsätzlich die Zielformulierung, ob nun als bewusster Anteil des Instrumentes des Problemlösungsprozesses[2] oder als unbewusster Anteil des praktischen Handlungsprozesses des Pflegens.

Nach Schöniger/Zegelin-Abt (1998) werden aus der rein pflegerischen Perspektive formulierte Pflegeziele, schnell an ihre Grenzen stoßen, weil sich die Betroffenen, z.B. demente Menschen, nicht an diese Formulierungen halten. Besteht das Problem aber gerade in den von außen nicht leicht nachvollziehbaren Handlungen dementer Menschen, so werden Zielformulierungen auf der rein technischen bzw. instrumentellen Verrichtungsebene nicht zur komplexen Problemlösung dienen können.

Dies trifft insbesondere dann zu, wenn sich Pflegeziele schwerpunktmäßig auf medizinische Konzeptionen des Krankheitsbildes beziehen. Im Pflegealltag treffen die Pflegenden auf die sozialen Handlungen der Pflegerezipienten, die geprägt sind durch z.B. das alltags- und lebensweltliche Erleben mit seinen Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Ängsten, Schmerzen, Aggressionen, etc..

Nach Schöniger/Zegelin-Abt (1998) dürfen das Instrument des Pflegeprozesses, sowie das der Pflegeprozessplanung in diesem Rahmen nicht als statische und unflexible Schablone verwendet werden. Sie müssen dem jeweiligen Fall gerecht werden und den Handlungsprozessen situationsspezifischen Freiraum ermöglichen. Die entsprechenden Zielformulierungen bedürfen also eines fallspezifischen Hintergrundes aufgrund einer ausführlichen Informationssammlung. Pflegeinteraktionen können nicht als einzelne abgegrenzte Schritte bearbeitet werden, sie verlaufen in einer variablen, fließenden und kontinuierlichen Prozessdynamik. Durch die Möglichkeit der Zielerneuerung und der Verbindung paralleler Prozesse entsteht eine Art gemeinsamer Handlungs- und Beziehungsspirale, die die Pflege kennzeichnet.

1.2.3.3 Wissenskompetenz

Ein anderes wesentliches Problem liegt oftmals in der Pflege bzw. an den Pflegenden selbst. Die Pflege sogenannter dementer Menschen erfordert eine der höchsten Pflegequalifikationen und -kompetenzen (vgl. z.B. Bartholomeyczik, 2001). Fachpflegequalifikationen sind dementsprechend wichtig, um spezifisches Fachpflegewissen zu besitzen und als Erfahrung in die Praxis einbringen zu können.

Ein mangelndes Wissen, was Pflege allgemein und die spezielle Pflege dementer Menschen insbesondere ausmacht, verstärkt das Problem der Formulierung und Begründung von angemessenen Pflegezielen. Weiterhin fördert dies eine mögliche Inkompetenz im Verständnis von Pflege und Pflegekonzepten, speziell Konzepte zur Pflege dementer Menschen, zur Verknüpfung von Theorie und Praxis. Damit ist dann auch eine eventuell mangelnde Selbstreflexion gegeben (vgl. Bosch, 2000). Denn wenn man nicht weiß, an welchen Kriterien man sich und seine Kompetenzen reflektieren könnte, kann keine Selbstreflexion vorgenommen werden. Also stellt insbesondere die Wissenskompetenz im Sinne von Wissensbasis und Fallverstehen eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung von Problemsituationen in der Pflege, z.B. der von dementen Menschen, dar.

1.2.3.4 Reflexion für die Pflege

Professionelle Pflege ergibt sich aus kompetenter Umsetzung einer doppelten Handlungslogik.

In einem reduktionistischen, naturwissenschaftlichen Verständnis von Pflege werden vorwiegend Aspekte einer naturwissenschaftlich gesicherten Ebene in Bezug zur Krankheit in die Zielformulierung aufgenommen, ohne begleitende, psychische und soziale Aspekte zu reflektieren (Stratmeyer, 1997). Gerade in der Pflege von z.B. chronisch kranken Menschen, deren Lebensalltag und Alltagsbewältigung durch die Bedingungen der Erkrankung stark geprägt wird, bringt dies entsprechende Problemsituationen mit sich.

Wie deutlich wurde können sich Pflegeziele meist nicht direkt auf das sogenannte Krankheitsbild beziehen. Sie beziehen sich z.B. auf Alltagsprobleme, soziale Aspekte, Gefühle und persönliche Problembewältigung. Zur Problemlösung in der Pflegepraxis können solche Ziele, die sich einzig auf das Krankheitsbild bzw. die medizinische Diagnose beziehen nicht beitragen, da sie die wirkliche Problematik in der individuellen Alltags- und Beziehungsgestaltung nicht beinhalten. Pflege benötigt also eigene Konzeptionen, auf die sie sich beziehen kann, um ihren spezifischen Problemen begegnen zu können. Daraus ließen sich wirksame Pflegeziele erarbeiten.

Pflegende benötigen gute pflegerelevante Wissenshintergründe zur Planung ihrer Ziele, damit diese begründet, professionell, realistisch, problembezogen und erreichbar werden. Dieses Wissen muss der Situation angepasst sein. Pflegende müssen die Situation verstehen und ihre Interaktion demgemäß ausrichten (Schöniger/Zegelin-Abt, 1998). Das bedeutet, dass Pflegende ihre Ziele aus dem Situationsverstehen und dem Fallverstehen heraus formulieren müssen, um die Alltagsbewältigung zu fördern. Dies bedarf einer kompetenten pflegerischen Einschätzung, um die Problemsituation verstehen zu können. Nur, wenn das wirkliche Problem verstanden ist, kann eine Problemlösung möglich werden.

1.2.4 Fazit

Die Pflege dementer Menschen ist eine der anspruchsvollsten und komplexesten Tätigkeiten in der Pflege. Die professionelle Pflege dementer Menschen muss dies also genauso anspruchsvoll und komplex berücksichtigen. Die Bedingungen unter denen Menschen, z.B. aufgrund einer DAT, leben, stellt den Rahmen für die Pflege dar.

Sogenannte demente Menschen stellen oftmals die Bedingungen für sogenannte Probleme auf. Pflege, die auch dementen Menschen kompetent begegnen sowie Probleme vermeiden und lösen will, muss also neben dem wissenschaftlichen Regelwissen auch das individuelle Fallverstehen, sowie Aspekte wie Alltag, Lebenswelt, Gesundheit und Selbstbestimmung beinhalten. Dazu muss die Pflege auf begründete Konzeptionen für eine kompetente pflegerische Situationseinschätzung zurückgreifen.

Um Probleme zu verhindern oder zu mindern, müssen die Pflegenden die Alltags- und Lebenswelt der dementen Menschen akzeptieren und deuten können, damit beiderseits eine ausgeglichene Beziehungsgestaltung und Alltagsbewältigung möglich wird.

Dies ist das Aufgaben-, Verantwortungs- und Kompetenzfeld der Pflege und ist nur mit der praktischen Umsetzung von Ansätzen des Verstehens bzw. einer doppelten Handlungslogik von Pflege möglich.

Pflegende nehmen durch bewusstes und zielorientiertes Handeln Einfluss auf die Handlungsprozesse in der Pflegebeziehung und nehmen damit auch Einfluss auf den zwischenmenschlichen Austausch. Damit tragen sie als professionell Tätige Verantwortung bezüglich ihres Handelns.

1.3 Verstehen als Problemlösungsversuch

Oben wurde die doppelte Logik sozialen Handelns verdeutlicht. Dies bedeutet, dass nicht allein regelgeleitetes Handeln ausreicht, um den Realitäten sozialen Handelns begegnen zu können. Hier wurde das Verstehen als weitere notwendige Handlungskomponente aufgezeigt.

Speziell in der Pflege dementer Menschen birgt das pflegerische Handeln Probleme in sich, wenn es sich nur auf die rein technisch-messbaren Ziele und Maßnahmen beschränkt. Es muss die Möglichkeit zum individuellen Fallverständnis beinhalten.

Ein Fallverstehen beinhaltet aber ebenso, dass ein konsequenter Blickwinkel der Pflege aus der subjektiven Perspektive "des Falles", also hier des dementen Menschen, erfolgen soll, um z.B. die Handlungslogiken mit ihren subjektlogischen Zusammenhängen nachvollziehen bzw. verstehen zu können.

In der Beziehungsaufnahme zu dementen Menschen haben Pflegende nun oftmals das Problem, dass sie deren Realität bzw. Lebenswelt und ebenso deren Handlungen und die damit verbundenen Zusammenhänge nicht verstehen. Dies führt letztlich zu einem doppelten Nicht-Verstehen. Pflegende bedürfen demnach einer Methode, die ihnen erlaubt, sich in wechselseitigem Austausch mit den dementen Menschen deren subjektivem Erleben annähern zu können und die dieses doppelte Nichtverständnis auflöst. Pflegende müssen das Konstrukt der Wirklichkeit der dementen Menschen erfassen bzw. rekonstruieren, um deren Handeln in einen Kontext setzen zu können, also verstehen zu können.

In Berufen, in denen die Beziehungsebene einen Großteil des Handelns bestimmt, ist das Verstehen also ein wichtiger Anteil des beruflichen Handelns. Methoden des Verstehens sind für die Pflege folglich unumgänglich, weil der praktische Pflegealltag sich nicht auf Techniken, Regeln und Verrichtungen allein reduzieren lässt. Die interaktive Beziehungsgestaltung und Bewältigung alltags- und lebensweltabhängiger Probleme beinhalten das Deuten des Handelns der Person gegenüber und der spezifischen Situation. Dies ist Anteil des Alltages und speziell des der Pflege.

Dies zeigt, dass in der Pflege allgemein und u.a. in der gerontopsychiatrischen Pflege speziell ein verstehender Ansatz notwendig ist, um Probleme und Bedürfnisse der dementen Menschen in ihrem Alltag berücksichtigen zu können. Dabei benötigt Pflege andere Konzepte zur Problemeinschätzung, -bewältigung und -lösung als nur das des medizinischen Krankheitsbildes. Pflege muss sich demnach auf Bezüge stützen können, die alltagsrelevant sind, um damit die alltagsspezifischen Probleme überhaupt verstehen zu können.

Um diese Ebene des Verstehens erreichen bzw. die doppelte Handlungslogik einsetzen zu können, benötigen Pflegende ein Instrument, das ihnen hilft eine professionelle Situationseinschätzung vorzunehmen und diese belegen zu können.

2. Ansätze des Verstehens in der Pflege

2.1 Wissenschaftstheoretische Ansätze des Verstehens

In den Wissenschaften, speziell auch in den Sozialwissenschaften, gibt es langwierige und stetig neue Diskussionen um die notwendigen wissenschaftlichen Methoden zur Erkenntnisgewinnung. Das Verstehen ist eine geisteswissenschaftliche Methode, sich dem Betrachtungsgegenstand zu nähern. Naturwissenschaftlich orientierte Methoden des Erklärens dagegen zeichnen sich eher durch eine technische Form des Näherns aus (Zielke-Nadkarni, 1998).

Es werden die geisteswissenschaftlichen Methoden der Hermeneutik und der Phänomenologie sowie deren Zusammenhänge vorgestellt. Da die Vorstellung der Verstehensansätze innerhalb dieses Rahmens nur auf der beschreibenden Ebene bleiben und einen stark verkürzten Überblick zur Diskussion des Verstehens und Erklärens bieten kann, wird auf weitere Literatur verwiesen.

2.1.1 Der hermeneutische Ansatz

Die Hermeneutik ist die Kunstlehre des Verstehens (Böhme, 1998). In diesem Sinne kann Verstehen als das "Wissen, warum" bezeichnet werden. Das Verstehen erfolgt mittels Interpretation der Zusammenhänge und Einzelschritte, die den Kontext ergeben (Seiffert, 1996).

Hermeneutik als methodisches Verstehen hat nach Böhme (1998) zwei Hauptregeln. Einerseits die Einordnung der einzelnen Elemente in das Netz der konventionellen Verwendungsform und andererseits die Darlegung ihrer Einheit als Organisation durch einen Sinn.

"Es ist das Verstehen, das einem Gegenstand Sinn verleiht" (Böhme. 1998, S. 261). Dies bezieht sich auf dingliche Objekte, Gesten und Handlungen. Gleichzeitig haben sie aber schon einen Sinn, so dass das Verstehen dem Sinn gewissermaßen folgt. Sie müssen aber wiederum in ein Netz von Konventionen der Sinnstiftung eingebunden sein. Zudem können einzelne Elemente allein betrachtet sinnlos erscheinen, aber als Zusammenstellung mit weiteren Elementen Sinn ergeben (Böhme, 1998).

Verstehen hat grundsätzlich ein Vorverständnis. Das Vorverständnis wird durch Analyse geformt und aufgrund dessen durch weitere Erkenntnisse geprägt, bis hin zu einem weitestmöglichen Verstehen des Problemzusammenhanges (Seiffert, 1996). Dadurch wird die Analyse gefestigt, korrigiert oder modifiziert (Böhme, 1998).

Dieses Vorgehen wird als der hermeneutische Zirkel beschrieben. Damit kann man sagen, dass das Einzelne nur durch das Ganze und dieses nur durch das Einzelne verstanden werden kann (Seiffert/Radnitzky, 1994). Heute wird dieses Vorgehen aber nicht mehr als zirkulär, sondern eher als spiralförmige Bewegung aufgefasst (Zielke-Nadkarni, 1998; Meleis, 1999).

2.1.2 Der phänomenologische Ansatz

Die Phänomenologie untersucht sogenannte Phänomene. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich als das, was sich zeigt oder als das Gegebene in Form von Phänomentypen in Korrelation zu subjektiven Bedingungen seines Erscheinens erkennen lassen (Böhme, 1998). Dadurch will die Phänomenologie die Phänomene verstehen und damit aufklären, aber nicht allein logisch erklären (Seiffert/Radnitzky, 1994).

Die so bezeichnete phänomenologische Reduktion, die sich in verschiedenen Schritten vollzieht, untersucht, was am Gegebenen jeweils das Wesentliche, das wirklich Prägnante ist (Böhme, 1998). Sinn verbindet die Momente des Geltungshaften, des Erlebnismäßigen, des Gehaltlich-Objektiven und des Subjektiven miteinander. Damit ist eine Verknüpfung zur Hermeneutik offengelegt (Seiffert/Radnitzky, 1994).

Das Alltagsleben gewinnt in der Phänomenologie (wissenschaftlich) an Relevanz. Denn das soziale Umfeld im Alltag wird von handelnden Menschen als sinnhaft interpretiert und somit zu einem Konstrukt. Außenstehende schaffen also Konstruktionen von Konstruktionen, wollen sie das Erleben des Handelnden nachvollziehen (Corbin/Hildenbrand, 2000).

Der Phänomenologie ist wichtig, das In-der-Welt-Sein als einem von Menschen gemeinsam erlebten Ort oder Lebenswelt zu verstehen (Schoppmann/Pohlmann, 2000). Dadurch werden mit dem phänomenologischen Ansatz fundamental andere Zugänge zur sozialen Welt eröffnet. Dies ermöglicht es somit, die soziale Welt als einen symbolisch vermittelten, in kulturelle Bedeutungszusammenhänge eingelassenen Handlungszusammenhang darzustellen, der sich auf dieser Ebene auch subjektiv verstehen lassen kann (Remmers, 2000).

Nach Remmers (2000) wird dabei die soziale Welt als ein Erlebniszusammenhang handelnder Subjekte begriffen, der allein auf der Reflexionsebene zugänglich gemacht werden kann. In den Sozialwissenschaften liegt es daher nahe, dass ein Gegenüber diese zu verstehenden Handlungsausdrücke zu deuten versucht. Erst dadurch ist es möglich, unangemessenes und institutionell abweichendes Handeln aus der lebensgeschichtlichen Situation des Handelnden heraus zu erklären.

2.1.3 Reflexion für die Pflege

In der Pflege finden tagtäglich verschiedene Prozesse des Verstehens statt. Diese müssen nach Zielke-Nadkarni (1998) als alltägliches, elementares Verstehen reflektiert werden, um sie so auf der Ebene der soziokulturellen und historisch bedingten Zusammenhänge setzen zu können (höheres Verstehen). Der Bedeutungskontext erhält seine sinnhafte Verquickung dann, wenn innerhalb der Beziehung zwischen Patient und Pflegende/r in der Lebenswirklichkeit gemachte Erfahrungen in der Theorie erschlossen werden. Über dieses Verstehen erhält eben diese Beziehung eine menschliche Qualität, die die Pflegequalität ausmacht. Damit kann die Pflege, indem sie auf Gegebenes zurückgreift, Möglichkeiten ausschöpfen, die allein regelgeleitetem Handeln nicht möglich wären (Zielke-Nadkarni, 1998).

Für die Sozialwissenschaften, also auch für die Pflegewissenschaften, ist der Aspekt des Verstehens eine wichtige Untersuchungsmethode. Für Sozialwissenschaften bedeutet dies z.B., dass Verstehen die grundsätzliche Nicht-Erklärbarkeit sozialer Wirklichkeit als Gesetzesmäßigkeit impliziert, und nur eine Annäherung als subjektives Erleben möglich ist (Mikl-Horke, 1981).

Für die Sozialwissenschaften ist in diesem Prozess von besonderem Interesse zu erkennen, warum ein Handelnder tut, was er tut. Dazu muss zunächst klar sein, was der Handelnde tut. Dieses Was steht aber immer im Kontext der Bedeutung für den Handelnden. Also muss auch diese geklärt werden (Konegen/Sondergeld, 1985).

Konegen und Sondergeld (1985) stellen den zwei Ebenen des Was und Warum noch drei Komponenten zur Seite. Diese werden von den Autoren als Zusammenhangsverstehen, Ausdrucksverstehen und einfühlendes Verstehen dargestellt. Zusammenhangsverstehen ist grundsätzliche Voraussetzung für die Interpretation von Beziehungen einzelner Untersuchungsanteile zueinander und deren Auswirkungen. Mit Ausdrucksverstehen ist gemeint, dass in irgendeiner Form, meist sprachlich, eine bestimmte Sinnauffassung geäußert, also ausgedrückt wird. Mit einfühlendem Verstehen wird das Nachvollziehen seelischer Vorgänge durch Verinnerlichung beobachtender Faktoren in gegebenen Situationen und Anwendung einer einleuchtenden Verbindung zwischen internalisierten Faktoren bezeichnet.

Sozialwissenschaften müssen stets bedenken, dass soziale Phänomene sinnhaft sind und schon durch ihren Ausdruck konstruiert. Deswegen muss zunächst ein zweifaches Bedeutungsverständnis entwickelt werden: Erstens, was bedeutet der Ausdruck bzw. das soziale Phänomen und zweitens was bedeutet dies für den Handelnden in seinem sozialen Kontext. Dies macht deutlich, dass man erst verstehen muss, bevor man erklären kann. Diese Erkenntnis kann dann in anderen sozialen Beziehungen unter ähnlichen Bedingungen als Erfahrungswert eingesetzt werden und eventuell bestätigt, modifiziert oder korrigiert werden. Deswegen erfolgt nach Konegen und Sondergeld in den Sozialwissenschaften ein methodisches Vorgehen nach folgenden untrennbaren, sich gegenseitig bedingenden Stufen: Verstehen, Beschreiben, Erklären und Voraussagen (Konegen/Sondergeld, 1985).

Nach von Wright (1994) sind Handlungen nur "im Lichte ihrer Gründe" (von Wright, 1994, S. 154) zu verstehen. Zum Handlungsverstehen müssen nach von Wright aber drei Bedingungen geklärt werden: Erstens, was der Handelnde getan hat; zweitens, welche Gründe er dafür hatte und drittens, aus welchem der vorliegenden Gründe er denn letztlich wirklich gehandelt hat. Dabei ist für das Verstehen von Handlungen wesentlich, welche wirklich wirksamen Motivationshintergründe es gibt. Dabei reicht ein alleiniges Beobachten von Handlungen nicht aus. Denn selbst z.B. rein messbare neuronale Prozesse können nicht ein subjektives Erleben erfassen. Die qualitative Seite kann nur verstanden nicht gemessen werden. Dies erfordert eine Annäherung des Verstehens an das dahinterliegende Selbstverständnis und eine damit verbundene relative Subjektorientierung. Verstehen kann in diesem Kontext stets nur in einer Art kommunikativer Handlung geschehen (von Wright, 1994).

Hollis (1995) unterscheidet nochmals in vier Kategorien von Bedeutung (bzw. Sinn) menschlichen Handelns. Erstens haben menschliche Handlungen grundsätzlich eine Bedeutung. Sie drücken Absichten und Gefühle aus und werden durch Gründe und Wertvorstellungen beeinflusst. Zweitens erfolgt das menschliche Handeln in verschiedenen Ausdrucksformen, insbesondere der Sprache. Die Verbindungen zwischen Handeln, Denken und der Ausdrucksform sind dabei stets eng. Drittens sind menschliche Handlungen grundsätzlich von der dahinterstehenden Haltung bzw. den normativen Erwartungen geprägt. Viertens ist die Bedeutung vieler Handlungen abhängig von dem Modell der sozialen Welt, das der Handelnde verinnerlicht hat. Um aber zur Bedeutung der Handlungen zu gelangen, benötigt man die Interpretation des Handelnden. So wird das Handlungsverstehen zur Interpretation einer Interpretation. Dies zeigt die doppelte Hermeneutik des Verstehens auf (Hollis, 1995).

Esser (1993) gibt zum Situationsverstehen an, dass Situationen aus mehreren Variablen bestehen. Diese bestehen aus den jeweils gegebenen Alternativen des Handelns in den Handlungssituationen und den gegebenen Situationsbedingungen. Die Alternativen des Handelns sind stets durch deren Restriktionen, also Einschränkungen, und Opportunitäten, also deren Zweckmäßigkeiten, geprägt. Diese Alternativen des Handelns werden durch natürliche und soziale Rahmen bestimmt. Die Verbindung zwischen der spezifischen Situation und dem Handelnden wird durch dessen subjektiven Erwartungen und Bewertungen hergestellt. Diese spiegeln die persönliche Perspektive, die Alltagstheorien und die institutionell vermittelten, grundlegenden Ziele des Handelnden wider (Esser, 1993).

In sozialen Handlungssituationen, besonders in professionell geprägten, bestimmen demnach die Bedingungen der Situation die Handlungen der beteiligten Menschen. In einer Pflegesituation stellt das Pflegegeschehen, also die pflegerischen Handlungsprozesse, einen Bedingungsrahmen dar. Zur professionellen Einschätzung der Situation müssen folglich die pflegerischen Handlungsprozesse sowie sämtliche anderen situationsbestimmenden Faktoren erkannt und reflektiert werden.

Die Rekonstruktion des Handlungshintergrundes ist nach Oevermann nur in spezifischer Analyse des Falles selbst und in der Ausdrucksform des Falles zu erreichen. In dieser Methodik der objektiven Hermeneutik wird das Handlungsverstehen gleichsam zum Fallverstehen. Im AnalyseProzess werden darum spezifische Möglichkeiten mit allgemeinen Regelhaftigkeiten abgeglichen (Corbin/Hildenbrand, 2000). Für die Pflege heißt dies, den jeweiligen Fall im gesamten Kontext seines Werdens zu analysieren. Das Handeln des Akteurs hat spezifische Bedeutung für eben diese Person und ist deshalb auch nur in deren eigenen Kontext innerhalb der Situation zu verstehen. Eine Verallgemeinerung ist daher nur schlecht möglich, kann aber von Außenstehenden mit theoretischem Regelwissen (wissenschaftliche Erkenntnisse) verbunden werden, um mit diesem Wissenshintergrund einen Verstehensprozess zu aktivieren.

Eine Voraussetzung dafür ist die Subjektorientierung bzw. die Annäherung an die Binnenperspektive des Handelnden. Damit wird klar, dass Pflege kaum eine professionelle Autorität mit vormundschaftlichem Verhältnis zu den Patienten einnehmen kann. Eine Perspektive, die allein das durch Pflegende gelebte Wertesystem von Institutionen beinhaltet, kann hier nicht ansetzen und muss entsprechend in Zweifel gezogen werden (Remmers, 2000).

Nach Meleis (1999) kann man Wissen, theoretisches Denken und Verstehen nicht voneinander trennen. Sie stellt diese als Kontinuum dar, in dem z.B. theoretisches Denken weit oben auf der Linie des Verstehens steht, während z.B. Forschungsergebnisse (also überwiegend regelgeleitetes Wissen) weiter unten auf dieser Linie zu finden sind. Verstehendes Handeln in der Pflege erfordert also auch ein hohes Abstraktionsvermögen und das Erfassen von Zusammenhängen. Ohne hohe Wissenskompetenz sind aber auch Verstehensprozesse nicht umfassend erreichbar. Verstehen setzt die Kenntnis des Phänomens voraus, Wissen über Zusammenhänge des Auftretens bestimmter Phänomene. In diesem Sinne ist Verstehen als Kennzeichen der Weiterentwicklung von Pflegewissen zu bezeichnen. Das Verstehen umfasst dann spezifische (Pflege-)Forschungsergebnisse, praktische Erfahrungen und grundlegende Kenntnisse theoretischer Formulierungen, geht aber über diese noch hinaus. Nach Meleis (1999) erfordert Verstehen zwischen zwei Menschen in Situationen, die im Kontext von Gesundheit und Krankheit stehen, ein vielfaches mehr an Verständnis, als in normalen und alltäglichen Situationen. Es bedarf ein Verständnis für die Lebens- und Wertvorstellungen der Menschen und wie die Menschen üblicherweise auf Probleme reagieren, welche Prioritäten sie setzen, wie sie Unbehagen ausdrücken, wie sie Gefühle mitteilen.

Nach Benner (1994) können Pflegeexperten und erfahrene Pflegende aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrem Vorwissen Verknüpfungen erschließen, die sie für aktuelle Situationen nutzen können. Indem sie die gesamte Situation grundlegend erfassen bzw. verstehen, sind ihnen Wahrnehmungen und Handlungen möglich, die ihnen helfen, kompetent und umfassend zu sein. Durch das Übertragen sogenannter paradigmatischer Fälle aus der Vergangenheit in die Gegenwart wird ihnen das Verstehen der Gesamtsituation des aktuellen Falles erleichtert und ein angemessenes Handeln wahrscheinlicher.

Ein Verstehen des Handelns dementer Menschen bedarf des erforderlichen Verständnisses dessen, was der demente Mensch tut, wie und warum er es (innerhalb seines sozialen Kontextes) tut. Dies bedeutet also, Pflegende stehen in der Verantwortung zu prüfen, welche Zusammenhänge sich in dem ergeben, was und warum der demente Mensch handelt bzw. dieses Handeln und dessen Hintergründe auszeichnet.

Hier ist also u.a. zu untersuchen, welche Motive und Dynamiken sich auf das Handeln eines Menschen unter den Bedingungen der Demenz auswirken und welche Konsequenzen dies für das Pflegehandeln hat.

2.2 Verstehende Diagnostik in der Pflege

Da das Verstehen für professionelle pflegerische Handlungsprozesse von wesentlicher Bedeutung ist, benötigt Pflege ein geeignetes und ebenso professionelles Instrument, um Verstehen zu ermöglichen, transparent zu gestalten, die Pflegesituation kompetent einschätzen zu können, sowie um geeignete Ziele und Interventionen daran anlehnen und damit begründen zu können. Professionelle Pflege braucht demnach einen instrumentellen Verstehensrahmen.

Verstehen, interpretieren und deuten stehen in Zusammenhang zur Diagnostik. Diagnostik bezieht sich auf die Beobachtung und Beurteilung von Zeichen oder Symptomen. Soll eine Situation, eine Handlung oder ein irgendwie geartetes Zeichen eingeschätzt oder gar beurteilt werden, so bedarf es des vorherigen Verstehens dieser Zeichen. Eine professionelle Diagnostik, die das Verstehen ermöglicht und fördert, wäre demnach ein professioneller Rahmen für professionelle, verstehende Handlungsprozesse in der Pflege.

Diagnostik stellt einen Begriff dar, der alle Aufgaben- und Tätigkeitsbereiche umfasst, in denen Daten oder Informationen zum Zwecke von Entscheidungshilfen systematisch eingeholt werden (Jantzen, 1990). In der Medizin und Psychologie sind Diagnosen bekannt und anerkannt. Hier stellt eine "Diagnose (...) in der Praxis die Summe der Erkenntnisse auf denen das ärztliche Handeln beruht" (Boss, o.J., S. 392) dar. Damit wird das professionelle Handeln begründet und untermauert. Ein medizinisches Handeln ohne gesicherte Begründung wäre nicht vorstellbar und stieße auf Ablehnung. Die Pflegenden sehen sich täglich Situationen gegenüber, die sie aufgrund ihrer Kompetenzen einschätzen und beurteilen. Also besteht auch hier die Notwendigkeit, dass Pflegende eine umfassende und professionelle Begründung dafür aufzeigen, warum sie handeln und weshalb sie wie handeln. Dazu sind Beschreibungen, Erklärungen und Voraussagen spezifischer Pflegesituationen notwendig. Dementsprechend ist es auch in der Pflege geboten, kompetente Einschätzungen der Pflegesituationen abzugeben, will sie professionell sein. Dazu stellen sogenannte Pflegediagnosen eine Möglichkeit dar.

"Pflegediagnose: eine zusammenfassende Beurteilung, die von einer professionell geschulten Pflegeperson nach einer systemat. Einschätzung, bestehend aus Beobachtung, Befragung, u. körperl. Untersuchung, abgegeben wird. Diese Beurteilung bezieht sich auf die Art, die mögl. Ursachen, Einflußfaktoren o. Risikofaktoren u. die Kennzeichen für aktuelle o. potentielle Gesundheitsprobleme eines Individuums o. einer Fam. mit Einschränkungen der Abhängigkeit hinsichtl. der Aktivitäten des Lebens o. im Umgang mit existenziellen Erfahrungen des Lebens (AEDL). P. liegen im Zuständigkeits- u. Verantwortungsbereich der Pflege u. bilden die Grundlage für die Auswahl u. Durchführung von Pflegeinterventionen zur Erreichung u. Evaluation angestrebter Pflegeergebnisse"(Georg/Frowein, 1999, S. 682).

Hiernach steht es in der Verantwortung der Pflegenden Faktoren und Kennzeichen von Pflegesituationen einzuschätzen und daran ihre Pflegeziele auszurichten und deren Erreichung zu überprüfen. Pflegediagnosen stellen also die Begründungszusammenhänge für die pflegerischen Handlungsprozesse her. Damit stehen sie in engem Zusammenhang zum Pflegeprozess (Käppeli, 1998).

Der Pflegeprozess als Informationssammlungs- und Entscheidungsprozess zur umfassenden Problemlösung in Pflegebeziehungen und –situationen bedarf demnach eine klare Benennung dessen, was das Problem ist und welche wirksamen Möglichkeiten der Problemlösung bestehen. Um solche Entscheidungen herbeiführen, aufzeigen und begründen zu können benötigen Pflegende u.a. eine entsprechende Wissenskompetenz und ein angemessenes Instrument zur Organisation.

Hier soll als ein mögliches Beispiel der verstehenden Diagnostik auf die Gedanken Wolfgang Jantzens zurückgegriffen werden, der ein Beispiel für die Behindertenpädagogik ausgearbeitet hat. Dieses soll anschließend für die Pflege reflektiert werden und als Hintergrundsrahmen für diese Arbeit dienen. Zur Vertiefung der Thematik sei auf die ausführliche Literatur verwiesen.

2.2.1 Erklärende und Verstehende Diagnostik nach Jantzen

Jantzen zeigt für die Behindertenpädagogik auf, dass eine Diagnostik auf einen verstehenden Hintergrund nicht verzichten kann. Er bezieht dies speziell auf Bereiche, in denen geistige und psychische Aspekte untersucht werden (vgl. z.B. Jantzen, 1992 und 1990). Er kritisiert dabei eine reduktionistische Diagnostik, wie sie in der Medizin weit verbreitet sei. Seine Kritik geht z.B. dahin, dass rein gemessene Daten, z.B. aus standardisierten Tests, nicht ausreichen, um alle Faktoren zu berücksichtigen.

2.2.1.1 Gründzüge des Konzeptes

"Die Wahrheit der Existenz des Gegenstandes in diesem Sinne liegt nicht in der Messung sondern hinter dieser, in der Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit des Gemessenen" (Jantzen, 1996, S. 14).

Dies liegt an der "ungeheuren internen Komplexität des Gegenstandes" (Jantzen, 1996, S. 14), also des Untersuchungsbereichs. Deswegen ist nach Jantzen eine Diagnostik ohne Verstehensansatz und konkreten Einbezug der betroffenen Person nicht möglich.

Dabei bezieht er sich aber nicht nur auf einfache Verstehensansätze, wie z.B. Hermeneutik und Phänomenologie, sondern ist interessiert daran, die zu verstehenden Aspekte konkret in wechselseitige Beziehung zueinander zu setzen, um einen umfassenden Verstehensprozess ermöglichen zu können.

"Da dieses ein Prozess voller Widersprüche, inneren Entsprechungen, quantitativen Entwicklung wie Umschlagen in neue Qualitäten ist, bedarf die logische Rekonstruktion einer Methode, die diese Prozesse faßbar macht. Dies ist die dialektische Methode" (Jantzen, 1992, S. 90).

Die Subjektlogik einer Person ist abhängig von ihrer Entwicklung. Aus dieser Subjektlogik heraus geschieht das Verhalten bzw. beobachtbare Handeln eines Menschen. Unter den Bedingungen einer Erkrankung oder Behinderung verändern sich die Entwicklungsmöglichkeiten. Dies hat Einfluss auf die Subjektlogik und damit auf das Handeln einer Person.

"Immer aber ist das Verhalten, das psychisch kranke und behinderte Menschen zeigen, ebenso wie das Verhalten, das nichtmenschliche Lebewesen unter Extremsituationen zeigen, nicht ein Ergebnis einer andersartigen Subjektlogik, die einem intern determinierenden Ereignis (z.B. Hirnschaden) geschuldet ist, sondern ein Resultat der durch innere und/oder äußere Ereignisse dramatisch veränderten Möglichkeiten, Autonomie aufrechtzuerhalten" (Jantzen, 1996, S. 15).

Dieser Aussage liegt die Annahme der biotischen Selbstorganisation zugrunde. Danach wird davon ausgegangen, dass sich sämtliche Systeme nicht in statischer Verbundenheit zueinander befinden, sondern in einer Selbstorganisations-Dynamik in komplexer Weise auf vielen Ebenen zueinander stehen sowie sich dadurch gegenseitig in Wechselbeziehungen bedingen und beeinflussen. Selbstorganisierende Prozesse lösen bei geeigneten Bedingungen zufällige Entwicklungen aus oder sind dann erst möglich. Die Selbstorganisation bezieht sich z.B. auf biologische und soziale Systeme (Jantsch, 1992).

In diesem Rahmen kann davon ausgegangen werden, dass die Menschheit oder alles Leben nicht der Evolution ausgesetzt ist, sondern in der Verbundenheit zu anderen Prozessen die Evolution ist. So laufen verschiedene Prozesse von Evolution parallel ab und stellen koevolutive Prozesse dar (Jantsch, 1992).

Für das Subjekt bedeutet dies, dass sich "... die Zahl möglicher Entwicklungspfade des Subjekts in Koevolution mit der Umwelt in der Entwicklung zu komplexeren Formen des Lebens..." (Jantzen, 1996, S. 14) erweitert.

Dies macht deutlich, dass jedes Lebewesen in seiner Kommunikation bzw. Verbundenheit zur Umwelt an interne Informationskonstruktionen gekoppelt ist, die die Herstellung von Autonomie und Bewältigung von Störungen bezwecken (Jantzen, 1996). So entwickeln sich Lebewesen unter jeglichen Bedingungen mittels der Selbstorganisation weiter, als Auseinandersetzung mit den gegebenen Bedingungen.

"Wir haben demnach in einer ganzheitlichen Theorie des Subjekts und des diagnostischen Prozesses nicht nur die koevolutiven Verbindungen zwischen Subjekt und Welt zu betrachten, sondern ebenso die in seiner Lebensgeschichte entstandenen koevolutiven Verknüpfungen der verschiedenen Ebenen und Systeme des Organismus, die in synergetischen Zusammenhängen stehen"(Jantzen, 1996, S. 16).

An diesen Aussagen lässt sich erkennen, dass die Lebensgeschichte eines Menschen und deren Bedingungen eine große Rolle für die Entwicklungshintergründe des Menschen spielt. Durch diese komplexen Zusammenhänge wird auch klar, dass ein reduktionistisches, z.b. medizinisches, Modell der Diagnostik von z.B. psychischen und geistigen Systemzusammenhängen die Vorgänge des Lebens nicht vollständig erfassen kann.

"Rehistorisierende Diagnostik bedeutet demnach, durch die Sphäre des Ausschlusses und der Gewalt, die ein Leben geprägt haben, durch die ideologischen Verdinglichungen der sozialen Konstruktion eines 'harten Kerns' bis zur dialektischen Entschlüsselung von Situationen zu gelangen, welche durch die klassische Diagnostik als Ausdruck von Passivität und Unveränderbarkeit bestimmt werden" (Jantzen, 1998).

Diagnostik heißt in diesem Zusammenhang stets auch Rehistorisierung als Bedingungsvariation in Kommunikation mit dem betroffenen Subjekt (Jantzen, 1996).

"Es wird deutlich, daß die Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte im diagnostischen Prozess nicht auskommt ohne eine Theorie der möglichen Entwicklungsgeschichte des Subjekts, welche die Verhältnisse der Entwicklung der verschiedenen Ebenen mit einschließt. Eine solche Theorie muß zudem als Theorie möglicher unterschiedlicher Entwicklungspfade konstruiert werden" (Jantzen, 1996, S.17).

Dies zeigt, dass eine Diagnostik, die allein von außen auf die Zeichen, also Symptome der Entwicklung bzw. sogenannte Krankheitsentwicklung, eingeht, nicht die subjektive Bedeutung der Entwicklung bzw. die subjektive Bedeutung der Bedingungen der Entwicklungen einschließt und deswegen viel zu wenig umfassend ist. Ein therapeutischer Ansatz unter diesen diagnostischen Bedingungen kann z.B. nicht die psychischen Entwicklungszusammenhänge erfassen und geht deswegen am Subjekt vorbei und erfasst dieses höchstens als diagnostisches Objekt. Eine Subjektorientierung der Diagnostik ist deswegen unumgänglich, soll der diagnostisch-therapeutische Prozess erfolgreich verlaufen.

"Ohne die theoretische und praktische Anerkennung des Anderen als Subjekt ist sein Objektstatus mit diagnostischen Mitteln nicht behebbar" (Jantzen, 1996, S. 19).

Ein solcher diagnostischer Prozess verlangt die Aufgabe jedes Reduktionismus und die Rekonstruktion des sinnhaften und systemhaften Aufbaus der psychischen Prozesse. Die Rekonstruktion betrifft also die Prozesse der Selbstorganisation in Naturgeschichte, Gesellschaftsgeschichte, Kulturgeschichte und Individualgeschichte. Eine subjektlogische Rekonstruktion der Entwicklungen ist damit als Rehistorisierung zu verstehen. Der Reflexionshintergrund für die diagnostische Rehistorisierung bedarf demnach eines Entwicklungsbezuges als theoretischen Rahmen (Jantzen, 1996).

Auch verstehende Diagnostik benötigt Erklärungswissen (Jantzen, 1996, S. 18). Denn wenn eine Entwicklung und ihre Ausdrucksformen bzw. Zeichen verstanden werden sollen, muss zunächst auf Wissen zurückgegriffen werden, dass eine Verbindung von Erklären und Verstehen herstellen kann. Um als Diagnostiker die Frage, unter welchen Umständen und wie welche Zeichen vom Rezipienten hergestellt werden, beantworten zu können, bedarf es einerseits Wissen, das Beschreibungs- und Erklärungsansätze zur Rekonstruktion bietet und andererseits ein Verstehen möglich macht. Ist ein Verstehensprozess über die theoretischen Ansätze des Erklärungswissens, wie theoretische Konzepte, eingetreten, kann darüber das Verstehen erfolgen. Ein erklärender und verstehender diagnostischer Prozess kann somit durchlaufen werden.

"Um Verstehen zu können, muß ein rekonstruierendes Wissen vorhanden sein, das über den bloßen Alltagsverstand hinausgeht. Dieses Wissen darf nicht in Gegensatz zu den empirischen Fakten geraten, sondern muß sie aus ihrer Geschichte heraus als Oberfläche eines spezifischen Prozesses aufdecken können. Das ist der Übergang von Beschreibungs- zu Erklärungswissen..." (Jantzen, 1996, S. 18).

2.2.1.2 Das Aufsteigen im Abstrakten

Der erste Schritt des diagnostischen Prozesses ist die Frage nach dem zugrundeliegendem Syndrom, nicht als Anhäufung abweichender Merkmale, sondern als Ausgangspunkt eines Entwicklungspfades in der Selbstorganisation des Subjekts. Dabei geht es um die theoretische Reproduktion der Symptome auf Basis von möglichen zugrundeliegenden Syndromen, die als Faktoren einer Matrix angesehen werden können, mit denen bestimmte Symptome hoch korrelieren und andere nicht (Jantzen, 1996).

Diese sogenannte Syndromanalyse bezeichnet Jantzen als das Aufsteigen im Abstrakten. Sie dient zur Gewinnung einer verständigen Abstraktion und versteht sich als eine Art Faktorenanalyse des Einzelfalles (Jantzen, 1994). Das Aufsteigen zum Abstrakten wird im Sinne der Erfassung von Einzelaspekten gesehen (Jantzen, 1990).

"Der Grundgedanke ist es, hinter zahlreichen Symptomen ein Syndrom zu identifizieren, das, bezogen auf die Situation des Patienten, als verständige Abstraktion betrachtet werden kann" (Jantzen, 1994, S. 130).

Um ein Syndrom als verständige Abstraktion im Rahmen der Analyse benutzen zu können, muss es, nach Jantzen, in einer Theorie höherer psychischer Funktionen als angemessener Begriff empirisch bestimmt sein. Damit können dann Schlüsse auf die möglichen Zusammenhänge von Syndrom und Symptomen im Einzelfall gezogen werden. Die Güte der Syndromanalyse ist demnach unmittelbar ein Resultat der Güte der Humanwissenschaften (Jantzen, 1994).

Auf der Ebene der psychischen Prozesse stellt sich damit die Frage nach der Entwicklungsdynamik eines Menschen in den inneren Zusammenhängen von z.B. Emotion, Stimmung, Motivation, Denken, Wahrnehmung, Bedeutung, Bedürfnis, Handlung, usw.. Weiterhin stellt sich die Frage nach der Dynamik jeder dieser Dimensionen zueinander. Denn die Entschlüsselung bzw. Rehistorisierung kann nur auf den Rückbezug des sinnhaften und systemhaften Aufbaus der psychischen Prozesse erfolgen. Dabei ist die Grundvoraussetzung, das Wissen darum, dass die Verbindung der einzelnen Dimensionen sich unter den Entwicklungsbedingungen ändern und sich deshalb die Zeichen in ständiger Veränderung befinden. Ohne diese Analyse der Dynamiken der einzelnen Faktoren und Dimensionen zueinander kann die Diagnostik die Einwirkung des Syndroms auf das Leben der Person nicht erfassen (Jantzen, 1994).

2.2.1.3 Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten

Im nächsten Schritt der Diagnostik erfolgt das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten. Das Aufsteigen zum Konkreten wird dabei im Sinne der Wiederherstellung der Ganzheit des Individuums in seiner Welt betrachtet (Jantzen, 1990). Hier gestaltet sich die Konkretheit der Wahrheit in der Lebenssituation des Anderen als emotionale Berührung. Die emotionale Berührung ist nach Jantzen die wesentliche Voraussetzung zum Verstehen und ermöglicht Empathie. Dies stellt die Möglichkeit zum methodologisch kontrollierten Verstehen dar (Jantzen, 1996).

Innerhalb dieses Prozesses ist aber eine einfache Ableitung aus Theoriewissen oder standardisierten Leitsymptomen in die Praxis nicht möglich.

"Die Praxis ist immer reichhaltiger als das Bewusstsein. Sie kann daher zwar in den Bedeutungskonfigurationen des Bewusstseins als 'Einheit des Mannigfaltigen' antizipiert werden, aber die Angemessenheit dieser Bedeutungskonfigurationen (also des 'Gedankenkonkretums') erweist sich in der Praxis. Die Möglichkeit, theoriegeleitet Praxis zu betreiben, bedeutet daher nicht, sie aus den allgemeinen Abstraktionen vorwegbestimmen zu können, sondern sie in der Entwicklung des Gedankenkonkretums reichhaltig und vielfältig zu modellieren" (Jantzen, 1992, S. 88).

Im Aufsteigen zum Konkreten wird jedes relevante Merkmal in Bezug zu Änderungen anderer Merkmale gesetzt und diese Veränderungen werden daraufhin geprüft, ob sie z.B. Erklärungsansätze bieten. Dabei bietet eine angemessene Lösung die höchste Übereinstimmung in Syndrombeschreibungen und Erklärungen der Merkmalsdynamik. Dies ist der Fall, wenn sie im Sinne der psychischen Prozesszusammenhänge logisch ist (Jantzen, 1990).

Nach Jantzen sind innerhalb dieses Schrittes vier Maßnahmen erforderlich. Dabei soll geklärt werden, in welchen Reproduktionszyklen des gesellschaftlichen Verkehrs die Individuen leben oder teilhaben; wie die Individuen diese Reproduktionszyklen ausfüllen; welches bedeutsame Geschichten für die Individuen aus ihrem Leben sind und aus den gewonnenen Erkenntnissen die Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Individuen vorzunehmen (1994).

2.2.1.4 Das Aufsteigen im Konkreten

Der dritte Schritt ist dann nach Jantzen das Aufsteigen im Konkreten. Dies stellt die Rehistorisierung dar, in der "...die Vielfalt der vorgefundenen Zusammenhänge jetzt auseinander hervorgehend und in Entwicklung begriffen werden kann" (Jantzen, 1990, S. 189).

Der diagnostische Prozess ist ab der Gewinnung des Konkreten auch stets ein therapeutischer Prozess, "...da im Kopf des Diagnostikers der je andere rehumanisiert wird und dies sich notwendig im praktischen Handeln ausdrückt" (Jantzen, 1994, S. 145). In der Gewinnung des Konkreten vollziehen sich also Prozesse, in denen sich therapeutischer Nihilismus und Entmenschlichung oder Objektisierung der betroffenen Personen durch die professionellen Praktiker aufheben. Dadurch wird dann ebenso ein therapeutischer Prozess möglich, selbst wenn durch chronische Krankheitsentwicklungen Bedingungen entstehen, die aussichtslos erscheinen mögen.

Zugleich stellt sich hier aber auch das bekannte Problem von Nähe und Distanz, da sich nunmehr die Fragen stellen, wie in der Nähe Abstand und wie Distanz in der Nähe gehalten werden kann. Dies regelt sich jedoch nach Jantzen allgemein in Beziehungen, die von Achtung und Subjektorientierung geprägt sind (Jantzen, 1994).

Innerhalb einer umfassenden Rehistorisierung im Konkreten muss für eine angemessene Diagnose

"...(1) über das Alltagswissen auf der Ebene von Leitsymptomen (alltagsempirische Erkenntnis) hinausgehende wissenschaftlich-empirische Erkenntnis über das Syndrom vorhanden sein. Dabei treten weitere Symptome neben das Leitsymptom oder u.U. an seine Stelle. Sodann muss auf der Basis der erhobenen empirischen Daten (2) eine befriedigende logische Rekonstruktion der unterschiedlichen (Sekundär-) Symptome aus einem Primärsymptom gelingen (theoretische Erkenntnis)" (Jantzen, 1990, S. 189).

Rehistorisierung heißt in diesem Kontext für das professionelle Handeln, die betroffenen Personen wieder in geschichtsmächtige Situationen zu versetzen und somit deren Möglichkeitsräume zu erweitern. Dies bedeutet auch, die betroffenen Personen in die Lage zu versetzen, sich in z.B. emotionalen Notsituationen aus daraus ergebenen Abhängigkeitsverhältnissen zu befreien (Jantzen, 1994).

In diesem Kontext heißt ein diagnostisches Gutachten im Prozess der Diagnostik als Rehistorisierung zu erstellen, nicht nur negative sondern positive Formulierungen zu benutzen (Jantzen, 1996).

Da bei diesem Prozess viele sehr persönliche Informationen an den Diagnostiker herangetragen werden, steht dieser auch stets in besonderer Verantwortung gegenüber den betroffenen Personen (Jantzen, 1994).

2.2.2 Reflexion der Erklärenden und Verstehenden Diagnostik für die Pflege

Der Ansatzpunkt der Pflege in der Reflexion des diagnostischen Prozesses nach Jantzen dürfte besonders in folgendem Zitat zur Theoriebildung deutlich werden:

"Ihr Anliegen ist es vielmehr, reflexives Schlüsselwissen für die Rekonstruktion der in der Lebenssituation und in den Daten sichtbaren unverständlichen Oberfläche des anderen so zu leisten, daß Verstehen und Kommunikation mit dem Subjekt dort wieder möglich werden, wo bisher entsprechende Alternativen nicht gesehen werden konnten" (Jantzen, 1996, S. 17).

In der Überwindung von therapeutischem Nihilismus und einhergehenden Faktoren werden gerade für die Pflege verschiedene Aufgabenbereiche möglich, die sie dort einsetzen kann, wo z.B. Medizin nicht in der Lage ist, therapeutisch wirksam zu sein. Solange medizinisches Handeln überwiegend auf den theoretischen Gedanken des Heilens basiert, hat das medizinische Handeln deutliche Grenzen, insbesondere in Hinblick auf chronische Krankheitsprozesse. Dies bedeutet, dass medizinisches Handeln gegenüber Menschen mit sogenannten chronischen Erkrankungen, wie z.B. der Alzheimer Krankheit, stark begrenzt ist und sich gerade hier Möglichkeiten für die Pflege erst ergeben.

In der Überwindung des therapeutischen Nihilismus` wird aber ebenso eine andere Wissensgrundlage notwendig. Es bedarf des Reflexionswissens (Jantzen, 1996), um die auftauchenden Zeichen ordnen zu können. Dieses Wissen ergibt sich in der Reflexion der jeweiligen Situation mit ihren bestimmenden Faktoren und wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Theorien und Konzepten.

"Praxisnahe Theorien und Modelle sollten für Pflegeprobleme von Patienten und Bewohnern entwickelt werden, die für sie eine hohe Relevanz bei der Bewältigung ihres Alltags haben" (Elsbernd, 2001, S.24).

[...]


[1] Als negatives Beispiel könnte hier nach Friesacher (2001) der Handlungsbegriff nach Orem (1997) gelten, der sogar u.a. von Kirkevold (1997) als ethisch nicht vertretbar angesehen wird. Trotzdem wird Orem mit ihrem Handlungsbegriff oftmals als Grundlage gerade psychiatrischer Pflege und auch der speziellen Pflege dementer Menschen genutzt (vgl. Schädle-Deininger, 1996, und Moskwa, 2001). Nach dieser Argumentation ist dies als sehr kritisch zu betrachten!

[2] Regelkreis des Instruments des Pflegeprozesses: Informationen sammeln, Probleme und Ressourcen erfassen, Pflegeziele festsetzen, Pflegemaßnahmen planen, Pflege durchführen, Pflege überprüfen bzw. Zielerreichung auswerten

Ende der Leseprobe aus 178 Seiten

Details

Titel
Der verstehende Pflegeansatz bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit
Untertitel
Lehr- und Lernziele für die Berufspädagogik in der Pflege
Hochschule
Universität Bremen
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
178
Katalognummer
V81338
ISBN (eBook)
9783638847186
ISBN (Buch)
9783638845717
Dateigröße
1366 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
überarbeitete und erweiterte Fassung
Schlagworte
Verstehende, Begegnung, Pflege, Menschen, Bedingungen, Alzheimer-Krankheit
Arbeit zitieren
Dipl.-Berufspäd. für Pflegewissenschaft, MPH Arne Mahler (Autor:in), 2001, Der verstehende Pflegeansatz bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81338

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