Handeln und Denken ausgewählter Figuren in Clemens Brentanos "Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl" mit besonderem Schwerpunkt auf der Problematik der Ehre


Seminararbeit, 2004

14 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Der Ehrbegriff in dreierlei spezifischen Ausprägungen

2. 1. Religiösität gegen militärisches Ehrverständnis – mehr als ein Generationskonflikt
2. 2. Aktive Handlungsbereitschaft trifft auf Gottvertrauen – der Ich-Erzähler und die Großmutter

3. Zur Quellenfrage und zu Brentanos Biographie

4. Literaturverzeichnis

1. Der Ehrbegriff in dreierlei spezifischen Ausprägungen

An Clemens Brentanos „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ sind sicherlich viele Aspekte eine genauere Betrachtung wert, doch das Motiv der Ehre, das sich durch die ganze Erzählung zieht, lädt – nebst anderen - besonders zur Untersuchung ein.

Heute definiert man die Ehre folgendermaßen:

Ehre , in einem grundsätzlichen Sinn die dem Menschen zustehende Achtung; im gesellschaftsbezogenen Rahmen die Wertschätzung der eigenen Person (die zur Einhaltung gesellschaftlicher Normen und Konventionen verpflichtet).[1]

In der Erzählung Brentanos jedoch muß noch einmal differenziert werden, da der Ehrbegriff dort in dreierlei verschiedenen Aspekten eine Rolle spielt. Kasperl, der sich letztendlich aufgrund seiner durch den Diebstahl des Vaters und des Bruders verratenen Ehre am Grab seiner Mutter das Leben nimmt, ist ein Beispiel für einen vom militärischen Ehrbegriff geleiteten Soldaten. Dieser Ehrbegriff ist einseitig und unbiegsam, er ist zu starr und läßt keine Freiheit, kein Wagnis und keine Möglichkeit zur Verantwortung zu,[2] vielmehr wird er identifiziert mit „dem Begriff bloßer Pflichterfüllung und militärischen Gehorsams“.[3] Kasperl beharrt auf seiner Ehre, die er letztendlich höher als sein Leben achtet. Er verzweifelt an der Schande, die sein Vater und sein Bruder über sich und ihn gebracht haben, er „mußte sie den Gerichten übergeben, denn [...] [s]eine Ehre erlaubt [ihm] keine Schonung“.[4] Er hat „sein Leben ganz auf die verpflichtende Norm der Ehre abgestellt“.[5] Diese haftet nun aber nicht am persönlichen Wert des Menschen, „sondern an seiner Stellung innerhalb der Gesellschaft“.[6] Bezeichnend ist, daß er zur Selbstachtung unbedingt das gesellschaftliche Ansehen benötigt, zu dem er, der niedrig geboren ist, „nur durch die soldatische Integration in den Fürstendienst“[7] gelangen kann.

Annerl, seiner Verlobten, die er auch einige Male in seinem Abschiedsbrief erwähnt, erzählt er viel von der Ehre, so daß sie „etwas ganz Apartes in ihr Gesicht und ihre Kleidung von der Ehre“[8] bekommt. Auch sie ersucht Steigerung ihres Ansehens und damit gleichfalls ihres Selbstbewußtseins. Daher geht sie in die Hauptstadt und leistet Dienst bei Führenden. Sie stirbt, weil sie auch „in der Stunde der Verlassenheit noch den Schein wahren“[9] will. Wie Kasperl beharrt sie ebenso auf die äußere Ehre. Lieber geht sie in den Tod, als daß sie den Namen des Mannes preisgibt, von dem sie ein Kind bekommen hat, lieber gibt sie sich selbst auf, als daß sie ihren Stolz und ihre Ehre verliert. Sie verkörpert den bürgerlichen Ehrbegriff, ist eine „von der Schönheit irregeführte, die sich in die große Welt verdingt“.[10]

Bei der Großmutter dagegen stellt sich die Frage, ob sie für sich überhaupt einen Ehrbegriff hat. Nirgendwo im Text wird etwas über ihre Ehre gesagt. Sicherlich könnte man jetzt anmerken, sie repräsentiere den religiösen Ehrbegriff, doch ist nicht geklärt, ob es religiöse Ehre tatsächlich gibt. Ist nicht vielmehr der Ehrbegriff eine Erfindung der Moderne? Spiegelt er nicht vor allem die Zerrissenheit der Existenz wider, die sich behaupten muß und an Begriffen wie dem der Ehre festhält? Kommt die Großmutter, die fest in ihrem Glauben verankert ist, nicht ohne diesen Begriff aus? Wichtig ist ihr die weltliche Ehre nicht, soviel steht fest, fordert sie doch wiederholt: „Gib Gott allein die Ehre!“[11] In Ihrer Frömmigkeit ist das oberste Prinzip Gott, sie gewinnt aus ihrer Haltung Gott gegenüber selbst wiederum Ehre.[12]

Inmitten dieser drei verschiedenen Ehrvorstellungen nimmt der Ich-Erzähler der Geschichte eine Sonderrolle ein. Auch über seine Ehre – wie bei der Großmutter – wird nirgends etwas direkt bekannt gegeben. An mehreren Stellen, beispielsweise bei der Frage nach seinem Beruf, zeigt sich dennoch, daß er nicht ehrlos sein will. Auf die Frage der Großmutter hin, ob er „kein ehrliches Handwerk“[13] treibe, sucht er nach einer Umschreibung des Wortes „Dichter“, weil er glaubt, als solcher keine Ehre zu haben. Gerade durch diese Ausflucht aber erweist er sich vor dem Leser als ehrlos. Er, der großen Wert auf seine Ehre legt, zeigt hier keine Haltung.[14]

Prüft man diese verschiedenen Standpunkte, unter denen die Ehre betrachtet werden kann, so kristallisiert sich recht bald die Vermutung heraus, daß sich in der Figur des Kasperls und der der Großmutter zwei prinzipiell gegensätzliche Charaktere zeigen – doch auch zwischen der Großmutter und dem Ich-Erzähler der Geschichte, dem Dichter, zeigen sich Kontraste. Diese These zu untersuchen, wird Gegenstand dieser Hausarbeit sein.

2.1. Religiösität vs. militärisches Ehrverständnis – mehr als ein Generationskonflikt

Zwischen der Großmutter und ihrem Enkel Kasperl spannen sich in vielerlei Hinsicht Gegensätze auf. Zunächst ist hier sicherlich zu sehen, daß die beiden jeweils einer völlig anderen Generation – und auch anderen Schicht, was hier jedoch vernachlässigt werden kann[15] - angehören. Die „uralte Großmutter gehört mit ihren 88 Jahren ganz in das vergangene Jahrhundert“.[16] Grundlage ihres Lebens bildet ihr unerschütterlicher Glaube an einen höchsten Wert, durch den sie trotz aller Schicksalsschläge nie ihre Übereinstimmung mit sich selbst verliert und der zur „geistigen und existentiellen Mitte ihres Daseins“[17] geworden ist – die Religion und ihr Gottvertrauen[18]. Kasperl dagegen – ebenso wie Annerl - lebt nicht mehr aus dieser geistigen Mitte und hat, zumindest laut Pascal, die Menschlichkeit verlassen.[19] Sie haben ebendiese Mitte durch „vergängliche, äußerliche, instabile Verhaltensmuster und Normen ersetzt“.[20] Man kann sogar so weit gehen – wie bei G. Kluge geschehen -, daß die Großmutter allen übrigen Personen gegenüber gestellt wird, da von ihnen „keine mehr ihre Normen und Maßstäbe kennt bzw. befolgt“.[21] Doch am deutlichsten lassen sich diese Gegensätze - wie in dieser Hausarbeit geschehen - an der Gegenüberstellung von Großmutter und Ich-Erzähler bzw. Großmutter und Kasperl zeigen.

Das Wort „Ehre“, vielleicht das zentrale in der Erzählung, hat für Kasperl und die Großmutter völlig verschiedenen Inhalt. Die Großmutter hält wenig von Kasperls oder auch Annerls Ehrsucht. Über letztere sagt sie:

Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehre hergewesen und hätte sich lieber an unseren lieben Gott gehalten, hätte ihn nie von sich gelassen, in aller Not, und hätte seinetwillen Schande und Verachtung ertragen, statt ihrer Menschenehre.[22]

An anderer Stelle heißt es aus ihrem Mund: „Ich weiß nicht, aber das Wort Ehre fuhr mir recht durch alle Glieder (...) Tue deine Pflicht, und gib Gott allein die Ehre, sagte ich.“[23] Für sie schließen sich Kasperls und Annerls Ehrsucht einerseits und der Glaube und das Vertrauen in Gott andererseits aus. Dies impliziert auch die immerfort passive Haltung der Großmutter, die im wahrsten Sinne des Wortes gottergeben lebt, die sich ganz auf Gott verläßt, die betet „Herr, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“[24] und die demütig sagt: „Gottes Wille geschehe“.[25] Beide, Kasperl und die Großmutter jedoch, gleichen sich in ihrer geradlinigen Haltung. Kasperl, für den seine Ehre oberste Priorität hat, geht in den Tod, weil er seine Ehre verloren sieht: „Meine Ehre, meine Ehre ist verloren! schrie er, ich bin der Sohn eines ehrlosen Diebes!“[26] Er glaubt, mit dieser Schande nicht leben zu können und zieht daraus die Konsequenzen. Auch die Großmutter lebt konsequent. Für sie gilt nur, Gott ergeben zu sein, zu beten und zu hoffen. Wäre sie nicht zu diesem bedingungslosen Gottvertrauen entschlossen, so würde sie zum Beispiel versuchen, Annerl zu helfen und für sie um Gnade zu bitten. Stattdessen läßt sie eine Bittschrift aufsetzen, in der es nicht etwa um Begnadigung oder zumindest einen Aufschub der Hinrichtung geht, sondern die nur die Bitte beinhalten soll, für Kasperl und Annerl ein ehrliches Grab zu erwirken. Für andere Menschen, den Erzähler zum Beispiel, ist dies schwer nachzuvollziehen. Er fleht um Gnade – die Großmutter jedoch ist sich sicher, daß Annerl sterben muß und wird. Als der Erzähler ihr eröffnet, „sofort um Pardon für Annerl [zu] bitten“,[27] reagiert sie anders, als er es erwartet:

[...]


[1] Der Brockhaus in einem Band. Mannheim 2003. 10., neu bearbeitete Auflage.

[2] Vgl. Helmut Rehder: Von Ehre, Gnade und Gerechtigkeit: Gedanken zu Brentanos „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“. In: Albert Fuchs und Helmut Motekat (Hg.): Stoffe, Formen, Strukturen. München 1962. S. 315-330. Hier: S. 320

[3] Ebd., S. 320

[4] Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Stuttgart 2003, S. 27

[5] Winfried Freund: Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Die deutsche Kriminalnovelle von Schiller bis Hauptmann. Paderborn 1975. S. 31-42. Hier: S. 32

[6] Ebd., S. 32

[7] Ebd., S..32

[8] Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Hier: S. 16

[9] Vgl. Helmut Rehder: Von Ehre, Gnade und Gerechtigkeit. Hier: S. 321

[10] Ebd., S. 321

[11] Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Hier: S. 12, S. 23 u.a.

[12] vgl. Rolf-Dieter Knoll: Des Dichters Ehre. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts. Frankfurt, Main 1978. Seite 256-290. Hier: S. 269

[13] Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Hier: S. 14.

[14] Zu dieser Unterscheidung zwischen Ehre und Haltung s. unten, außerdem: vgl. Rolf-Dieter Knoll: Des Dichters Ehre. Hier: S. 267/268

[15] Die Großmutter als „alte Bäuerin“ und „Magd“ gehört zu den unterprivilegierten Schichten, während der auch niedrig geborene Kasperl zu Würde und Ansehen kommt, ja sogar Unteroffizier wird.

[16] Gerhard Kluge: Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1. Stuttgart 1988. S. 309-337. Hier: S. 317

[17] Ebd., S. 317

[18] Vgl. ebd., S. 317

[19] zitiert nach: Gerhard Kluge: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Hier: S. 317

[20] Gerhard Kluge: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Hier: S. 317

[21] Gerhard Kluge: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe. Hier: S. 806

[22] Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Hier: S. 17

[23] Clemens Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Hier: S. 23

[24] Ebd., S. 23

[25] Ebd., S. 30

[26] Ebd., S. 24

[27] Ebd., S. 35

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Handeln und Denken ausgewählter Figuren in Clemens Brentanos "Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl" mit besonderem Schwerpunkt auf der Problematik der Ehre
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Literaturwissenschaft
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
14
Katalognummer
V35746
ISBN (eBook)
9783638355698
ISBN (Buch)
9783638842990
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Handeln, Denken, Figuren, Clemens, Brentanos, Geschichte, Kasperl, Annerl, Schwerpunkt, Problematik, Ehre, Literaturwissenschaft, Germanistik, Novelle
Arbeit zitieren
Sonja Filip (Autor:in), 2004, Handeln und Denken ausgewählter Figuren in Clemens Brentanos "Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl" mit besonderem Schwerpunkt auf der Problematik der Ehre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35746

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