Mary Shelleys Frankenstein in der Sicht der neueren Literaturkritik


Examensarbeit, 2005

86 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der psychoanalytische Interpretationsansatz nach Freud
2.1 Psychoanalytisches Grundwissen
2.1.1 Der psychische Apparat nach Sigmund Freud
2.1.2 Abwehrmechanismen
2.1.3 Menschliche Triebe
2.1.4 Die Sexualfunktion
2.1.5 Das topografische Model
2.2 Die Analyse des Textes unter psychoanalytischem Aspekt
2.2.1 Victors Kindheit
2.2.2 Victors Jugend
2.2.3 Victors Studienzeit und die Erschaffung des Wesens
2.2.4 Die Entwicklung des Monsters
2.2.5 Das Gespräch zwischen Victor und dem Monster und dessen Auswirkungen
2.3 Zusammenfassung der Analyse unter psychoanalytischem Aspekt
2.4 Kritische Stellungnahme

3. Der feministische Interpretationsansatz
3.1 Die Analyse des Textes unter feministischem Aspekt
3.1.1 Die Rolle der Männer in Frankenstein
3.1.1.1 Victor Frankenstein
3.1.1.2 Robert Walton
3.1.1.3 Felix DeLacey
3.1.1.4 Henry Clerval
3.1.1.5 Das Monster
3.1.2 Die Rolle der Frau in Frankenstein
3.1.2.1 Margaret Saville
3.1.2.2 Caroline Beaufort Frankenstein
3.1.2.3 Elizabeth Lavenza
3.1.2.4 Safie
3.2 Zusammenfassung der Analyse unter feministischem Aspekt
3.3 Persönliche Stellungnahme zum feministischen Interpretationsansatz

4. Der biografische Interpretationsansatz
4.1 Mary Shelleys Leben
4.2 Analyse des Textes unter biografischem Aspekt: zwei Ansätze
4.2.1 Erster möglicher biografischer Interpretationsansatz zu Frankenstein
4.2.1.1 Die Bedeutung der Margaret Saville
4.2.1.2 Die Bedeutung des Robert Walton
4.2.1.3 Die Verbindung zwischen Victor Frankenstein und Robert Walton
4.2.1.4 Marys Eltern als ´ghosts` in Frankenstein
4.2.1.5 Die Eltern-Kind-Beziehungen in Frankenstein
4.2.1.6 Mary und das Monster
4.2.1.7 Elizabeth und Safie als Gegensatzpaar
4.2.1.8 Felix und Safie: Das ideale Paar?
4.2.1.9 Kritische Stellungnahme zum ersten Ansatz
4.2.2 Zweiter möglicher biografischer Interpretationsansatz zu Frankenstein
4.2.2.1 Waltons Briefe als ´rereading` von William Godwins St. Leon
4.2.2.2 Victors Geschichte als ´rereading` von Percy Shelleys Alastor, or the Spirit of Solitude
4.2.2.3 Die Geschichte des Monsters als ´rereading` von Mary Wollstonecrafts The Wrongs of Woman, or Maria, a Fragment
4.2.2.4 Kritische Stellungnahme zum zweiten Ansatz
4.3 Abschließender Kommentar zum biografischen Interpretationsansatz

5. Zusammenfassung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Formulierung des Themas dieser Arbeit, wie im Titel ausgewiesen, deutet schon auf den Umfang und die Reichweite der möglichen Untersuchungsaspekte und somit auch auf notwendige Eingrenzungen und Beschränkungen hin. Am Anfang war der Text, der Roman Frankenstein[1] von Mary Shelley. Als das Werk im März 1818 im Londoner Lackington Verlag in drei Bänden anonym erschien, war das kritische Urteil durchaus geteilt, aber es wurde eindeutig in die damalige ´phantastische` Literatur eingeordnet. Es wurde als ein ´gotischer` Roman (gothic novel) verstanden, allgemein unbestritten als ein „Schauerroman von düsterer und dramatischer Ausstattung“[2], der zunächst ein „literarischer Streitfall“ (Massari, 7) war. Eine der ersten Rezensionen, die u. a. eine Anhäufung von „nonsense“[3] feststellte, druckte die Quarterly Review. Es ist bekannt, was in den Jahren aus dem Roman mit dem Protagonisten Viktor Frankenstein geworden ist. Er und sein Geschöpf, das Monster, wurden auf der ganzen Welt berühmt und fanden Leser; auch der Film nahm sich seiner an, so dass heute allgemein gültig ist: „Mit ihm muß jede kritische und historiographische Rekonstruktion der Entwicklung des Science-fiction, jenes modernen literarischen Genres, ihren Anfang nehmen“ (Massari, 147).

In dieser Arbeit geht es nicht nur um den Text, sondern auch um seine Analyse, eingeschränkt auf mögliche Analyseansätze in der modernen Literaturkritik. Als hilfreich und weiterführend erweist sich der Überblick, den Peter Wenzel in einem Beitrag mit dem Titel Der Text und seine Analyse über „Ordnungsmuster für die Klassifikation der literaturtheoretischen Ansätze“[4] verschafft. Es ist unumstritten, dass Literatur, ein Text allgemein, auf sehr verschiedene Art und Weise vom Leser wahrgenommen wird. Dies kann zum einen durch die Interpretation eines Werkes als eine Art „gesellschaftliche Praxis“[5] vollzogen werden. Dabei wird ein Werk nach individuellen Aspekten gelesen, ohne dass eine bestimmte Theorie im Hintergrund steht.

Es gibt aber auch formalere Interpretationsformen. Diese Formen, eine verwirrende „Vielfalt konkurrierender Ansätze und hochkomplexer Theorien“ (Wenzel, 149), findet man häufig in Schulen oder Universitäten, also da, wo Methoden wissenschaftlicher Forschung vermittelt und gelehrt werden.

Ziel der formalen Interpretation ist es, auf die Frage nach dem Inhalt eine spezielle, theoriegeleitete Antwort geben zu können. Diese speziellen Antworten gibt die Literaturtheorie, die sich dabei keineswegs als „freischwebende Ansammlung irgendwelcher Gedanken“ (Culler, 175), sondern als eine „diskursive Praxis“ (Culler, 175) versteht, die eng verbunden ist mit Einrichtungen von Kultur und Bildung. Seit den 60er Jahren denkt man mehr nach über „Sprache, Repräsentation und die Kategorie der Kritik“ (Culler, 175), sowie über die „Rolle der Geschlechterdifferenz und Sexualität“ (Culler, 175) in Literatur und Wissenschaft und über eine „historisch ausgerichtete Kulturkritik“ (Culler, 175).

Zu den wichtigsten theoretischen Schulen und Strömungen gehören unter anderem der New Criticism, der Strukturalismus, der Feminismus, die Psychoanalytische Literaturwissenschaft, der New Historicism und die Postkoloniale Theorie.

Der New Criticism entstand in den USA der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts und betrachtet das literarische Werk eher als ein „ästhetisches Objekt“ (Culler, 176) und weniger als „historisches Dokument“ (Culler, 176). Auf die Frage nach dem Inhalt würde der New Criticism antworten, es ginge um die „Möglichkeit einer Einheitserfahrung“ (Culler, 95). Aus dem New Criticism entwickelte sich später das Verfahren der textimmanenten Interpretation. Der Strukturalismus interessiert sich eher für die Entstehung der Bedeutung eines Werkes. Er entstand in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Saussureschen Sprachtheorie. Die Strukturalisten verstehen Sprache dabei als ein geschlossenes Zeichensystem und wollen die Struktur dieses Systems erfassen. Beim Feminismus geht es um eine Kritik „an der heterosexuellen Matrix, die Identitäten wie Kulturen in den Begriffen der Opposition von Mann und Frau organisiert“ (Culler, 183). Die Feministen würden auf die Frage nach dem ´worum` in einem Werk mit der Beschreibung der „Asymmetrie der Geschlechterverhältnisse“ (Culler, 95) antworten. Der Feminismus gehört zu den modernen Bewegungen. So auch die Psychoanalytische Literaturwissenschaft mit ihrem wissenschaftlichen Vokabular. Der Fokus bei dieser Theorie liegt auf psychoanalytischen Themen und Beziehungen. Vertreter dieser Theorie würden auf die Frage nach dem ´worum` in einem Werk antworten, dass es um einen „ödipalen Konflikt“ (Culler, 95) geht. Der New Historicism ist sehr auf die Renaissance und damit auf die „historischen Entstehungsbedingungen“ (Culler, 187) eines Werkes ausgerichtet, so dass ihre Antwort nach dem Inhalt lauten würde, es ginge um „die Inschachnahme subversiver Energien“ (Culler, 95). Der New Historicism entwickelte sich in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts und gilt damit als sehr modern. Die Postkoloniale Theorie ist die letzte der hier genannten Theorien. Mit Hilfe dieser Theorie wird versucht, die Probleme und Folgen der Kolonialisierung von Europa aus zu verstehen, so dass es bei ihnen um das „Aushöhlen des Imperialismus“ (Culler, 95) geht.

Neben diesen sehr stringent theoriegeleiteten Verfahren findet man auch den biografischen Interpretationsansatz. Ein literarisches Werk wird dabei als „Ausdruck der Psyche seines Autors verstanden“ (Wenzel, 154), welche wiederum „Ausdruck des Milieus und des Zeitalters ist“ (Wenzel, 154). Ein biografischer Kritiker benutzt also als Grundlage die Biografie eines Autors, um ein Werk zu beleuchten.

Die zuvor beschriebenen Theorien und Bewegungen an sich sind keine Interpretationsverfahren, sondern aus ihnen ergeben sich „bestimmte Typen des Interpretierens“ (Culler, 95). Vor dem Hintergrund der jeweiligen Theorie bzw. Bewegung kann ein Werk gelesen und interpretiert werden. Wenn aber jede Theorie bzw. Bewegung die Zielsetzung der Interpretation bestimmt, dann kann man daraus schließen, dass nicht das Ergebnis das Ziel ist, sondern der Weg der Interpretation bzw. die Art, wie man zu der Antwort kommt. Man liest, wie bereits erwähnt, ein Werk vor dem Hintergrund einer bestimmten Theorie oder Bewegung.

Läuft man dann aber nicht Gefahr, dass das Werk in den Hintergrund gerät? Um dies zu verhindern, könnte man entweder im Sinne des New Criticism interpretieren, der das Werk ja als einheitliches und in sich geschlossenens Objekt betrachtet oder aber – wie anfänglich erwähnt – das Werk nach individuellen Aspekten lesen. Der Text steht in beiden Vorgehensweisen direkt im Blickpunkt und kann in Folge dessen nicht durch eine Theorie in den Hintergrund geraten.

Besteht aber dann nicht die Gefahr der eingeschränkten Interpretation? Ohne Zweifel erweitert sich der Horizont eines Lesers - bezogen auf das Werk - nur dann, wenn man einen Text aus ganz verschiedenen Perspektiven betrachtet. Diese unterschiedlichen Perspektiven eröffnen die notwendige Vielfalt in der Auslegung eines vorliegenden Werkes.

Es ergeben sich also zwei gegensätzliche Betrachtungsweisen aus der vorhergehenden Argumentation. Vor diesem Hintergrund formuliere ich zwei Thesen:

These 1: Der jeweilige Interpretationsansatz legt das Augenmerk auf die Theorie und nicht auf das Werk selber und schränkt dadurch den Leser in der Perspektive des Deutens und Verstehens ein.
These 2: Erst diese Einschränkung des Lesers macht die Vielfalt der Betrachtungsweise von Literatur möglich.

Diese beiden Thesen erscheinen zunächst sehr widersprüchlich. Das Ziel dieser Arbeit liegt darin zu zeigen, dass sie es nicht sind, sondern dass sie sich notwendigerweise ergänzen.

Dies soll am Werk Frankenstein von Mary Shelley gezeigt werden. Frankenstein wird dabei aus der Sicht der neueren Literaturkritik interpretiert. Ich beschränke mich in dieser Arbeit – aus Platzgründen - auf die psychoanalytische Interpretation, die feministische Interpretation und die biografische Interpretation. Zu Beginn eines jeden Großkapitels gehe ich kurz auf dessen Funktion ein und beschreibe die Theorie, vor der Frankenstein interpretiert werden soll. Im Anschluss daran wird das Werk mit Hilfe der zuvor beschriebenen Theorie interpretiert bzw. analysiert. Am Ende des jeweiligen Interpretationsansatzes fasse ich die Ergebnisse noch einmal kurz zusammen und nehme persönlich Stellung dazu. Ganz am Ende vergleiche ich die drei Interpretationsverfahren miteinander und gehe persönlich auf deren Vor- bzw. Nachteile ein. Durch den Vergleich der Methoden und deren Ergebnisse soll deutlich werden, warum die beiden von mir aufgestellten Thesen wie Gegensätze wirken, sich aber dennoch ergänzen.

2. Der psychoanalytische Interpretationsansatz nach Freud

Beginnen möchte ich mit der Möglichkeit, Frankenstein von der psychoanalytischen Seite aus zu deuten. In den folgenden Kapiteln gehe ich erst auf den psychoanalytischen Interpretationsansatz an sich ein, worauf ein kurzer Abriss des psychoanalytischen Grundwissens nach Freud folgt. Im Anschluss daran analysiere ich Frankenstein unter dem psychoanalytischen Aspekt, wobei ich Victors Leben wie eine Art Fallbeispiel behandele. Dabei beginne ich chronologisch bei seiner Geburt und schließe mit seinem Tod. Am Ende dieses Kapitels fasse ich die wichtigsten Dinge noch einmal kurz zusammen und nehme kritisch Stellung, sowohl zu dem Ansatz an sich, als auch zur Theorie Freuds.

Der psychoanalytische Interpretationsansatz gehört zur Gruppe der „Autorbezogenen Ansätze“[6]. Dieser Ansatz versucht, „die Bedeutung des Textes auf den Autor zurückzuführen, aber nicht auf seine faktischen Lebensumstände, sondern auf die verdrängten, bis in die Kindheit zurückreichenden geheimen Bedürfnisse seiner Psyche“ (Wenzel, 154). Die Bewegung der „psychoanalytic literary criticism“[7] beschäftigt sich gelegentlich auch mit dem Autor selber, hauptsächlich aber wird versucht, allgemeine psychologische Aspekte in einem Text zu erläutern, die nicht zwangsläufig mit dem Autor verbunden sind. Beispielsweise können Charaktere, die in einem Text vorkommen, psychologisch so analysiert werden, als ob es sich um reale Personen handelt. Unter dem Einfluss von Sigmund Freud (1856 – 1939) entwickelten sich verschiedene psychologische Ansätze im Laufe der Zeit zur psychoanalytischen Literaturkritik. Neuere und scheinbar stark von Freud abweichende Entwicklungen auf diesem Gebiet der Literaturkritik lassen sich trotz alledem immer noch in den Ansatz von Freud integrieren. Somit kann man behaupten, dass überwiegend jede psychoanalytische Literaturkritik ihren Ursprung in der Freudschen Theorie hat. Durch die Psychoanalyse sollen die im Menschen tief verankerten versteckten Begierden bewusst gemacht werden. Im Vordergrund dieser Betrachtung stehen die von Freud geprägten Begriffe des ´Unbewussten` und der ´Sexualfunktion` des Menschen, die den Ödipuskomplex als ein natürliches Trauma beinhaltet, welches von jedem Menschen überwunden werden muss. Dinge, die, besonders in der Kindheit, ins Unterbewusstsein verdrängt wurden, sollen durch die Hilfe eines Psychiaters bewusst gemacht und daraufhin verarbeitet werden. Dieser Prozess scheint auf den ersten Blick nichts mit Literatur zu tun zu haben. Doch die Psychoanalyse ist eine „theory of human development, a process of interpretation, and a therapeutic interaction“[8]. Dieser Interpretationsprozess lässt sich auch auf die Literatur anwenden. Man verfährt mit den Charakteren eines Textes, als wären sie reale Menschen mit einer realen menschlichen Entwicklung. Der „psychoanalytic criticism“ (Klarer, 93) entwickelte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist heute eine der „einflussreichsten hermeneutischen Strömungen“ (Culler, 184). Eine für diesen Ansatz typische „autoritative Metasprache bzw. ein wissenschaftliches Begriffsinventar“ (Culler, 184) helfen einem zu verstehen, was in einem Werk wirklich geschieht.

2.1 Psychoanalytisches Grundwissen

In den nächsten Kapiteln gehe ich auf das zuvor angesprochene Begriffsinventar ein, welches sich die Psychoanalyse zu Eigen gemacht hat. Dabei werden der psychische Apparat, die Abwehrmechanismen, die menschlichen Triebe, die Sexualfunktion und das topografische Modell erläutert, welche dann auf das Werk Frankenstein von Mary Shelley angewendet werden.

2.1.1 Der psychische Apparat nach Sigmund Freud

Die menschliche Psyche oder der psychische Apparat besteht nach Freud aus drei Instanzen: dem Ich[9], dem Über-Ich und dem Es.

Die Instanz des Es beinhaltet alles, was ererbt ist, vor allem die Triebe (Destruktionstrieb und Eros). Man kann sagen, das Es repräsentiert bezüglich des Ererbten die Vergangenheit. Beherrscht wird das Es vom Lustprinzip, wobei es sich auf alle sexuellen und aggressiven Neigungen (Triebe) bezieht. Das Es wird als primitiver unbewusster Teil der Persönlichkeit betrachtet. Als Sitz der primären Triebe wird vom Es nicht in Betracht gezogen, ob das, was begehrt wird, auch im Bereich des Möglichen liegt, ob es sozial erwünscht ist oder moralisch akzeptabel ist.

Die Instanz des Über-Ichs muss das Ich in Übereinstimmung mit den Normen kontrollieren. Wie das Es repräsentiert auch das Über-Ich die Einflüsse der Vergangenheit, nämlich das, was von anderen übernommen wurde. Das Über-Ich ist demnach überall da anzunehmen, wo eine kindliche Abhängigkeit bestanden hat. Man kann sagen, dass das Über-Ich der Sitz der Werte und der in der Gesellschaft geltenden moralischen Regeln und Normen ist. Das Über-Ich entspricht also in gewisser Weise dem Gewissen und wird beschrieben als „representative in the mind of the real external world“[10]. Häufige Konflikte mit dem Es sind die Folge. „Eine Handlung des Ichs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über- Ich’s und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß.“[11]

Die Instanz des Ich vermittelt zwischen Es und Außenwelt. Das Ich muss die Befriedigung gewährleisten bzw. die Befriedigung der Es -Impulse durch Abwehr zurückstellen. Das Ich bedient sich dabei der Abwehrmechanismen. Man kann das Ich als Zentrum der Funktionen wie Wahrnehmung, Denken und motorische Kontrolle betrachten. Geleitet durch Reizspannungen empfindet das Ich Lust bzw. Unlust, wobei die Lust angestrebt wird und der Unlust durch z.B. Angstsignale ausgewichen wird. Das Ich steht im Konflikt zwischen den Impulsen des Es und den Anforderungen des Über-Ichs. Beherrscht wird das Ich vom Realitätsprinzip, das vernünftige Entscheidungen über lustbetonte Wünsche stellt.

2.1.2 Abwehrmechanismen

Es und Über-Ich in unserem psychischen Apparat werden häufig ganz lapidar mit dem Engelchen und dem Teufelchen, die einem auf der Schulter sitzen, verglichen. Der Engel entspricht dem Über-Ich und der Teufel ist das Es. Weder das Es noch das Über-Ich dürfen zu stark werden. Um den Triebimpuls/ Abwehr-Konflikt erfolgreich zu bewältigen, stehen dem Ich verschiedene Abwehrmechanismen zur Verfügung. Abwehrmechanismen sind nach Freud „psychische Strategien, die das Ich einsetzt, um die Konflikte abzuwehren, die im normalen Leben auftreten“[12]. Der grundlegende dieser Abwehrmechanismen nach Freud ist die Verdrängung. Es handelt sich dabei um einen psychischen Vorgang, bei dem Vorstellungen, die mit einem Trieb verbunden sind, ins Unbewusste abgeschoben werden. Es geht also um eine „Verhinderung des Eindringens unerwünschter oder gefährlicher Impulse ins Bewusstsein“ (Zimbardo, 534).

2.1.3 Menschliche Triebe

Freud ist der Meinung, dass der Mensch über angeborene Triebe oder Instinkte verfügt. Darunter versteht er „Systeme, (…) die Spannungen erzeugen und an Körperorgane gebunden sind“ (Zimbardo, 531). Das Es strebt permanent danach, alle Wünsche und Gelüste einer Person zu befriedigen. Die Befriedigung der Triebe ist demzufolge das Hauptziel des Es. Triebe werden nach Freud definiert als „Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen (…). Sie repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben“ (Abriss, 44). Es werden zwei Haupttriebe von Freud unterschieden. Auf der einen Seite gibt es den Liebestrieb, auch Eros genannt. Der Eros „comprises (…) the uninhibited sexual instincts (…), the impulses of a sublimated or aim-inhibited nature (…) and the self-preservative instinct, which must be assigned to the ego“ (Ego and Id, 708). Auf der anderen Seite gibt es den Destruktionstrieb, auch Thanatos genannt. Der Destruktionstrieb strebt ununterbrochen danach, Beziehungen zu zerstören. Beide Triebe arbeiten gegeneinander und gleichzeitig ergänzen sie sich, so dass sich ein gewisses Gleichgewicht einpendelt. Die Energie des Eros wird Libido genannt. Diese Libido, die nach Freud als die fundamentale sexuelle Energie und die Energie des Lebens beschrieben wird, stammt aus dem Es. Der Destrudo ist die Energie des Thanatos und damit ein selbst zerstörender Impuls. Die Libido soll also verbinden, der Destrudo zerstören. Eine gesicherte Balance, für die das Ich zuständig ist, ist notwendig. Zu Beginn ist die Libido vollständig im Ich gespeichert. Diesen Zustand nennt Freud Narzissmus. Es ist der Zustand der übertriebenen Selbstliebe. Erst in einem späteren Stadium werden andere Personen oder Objekte mit Libido besetzt. Dies geschieht in der Regel flexibel. Manchmal allerdings konzentriert sich die Libido nur auf ein einziges bestimmtes Objekt oder auf eine einzige Person. Freud spricht in diesem Fall von Fixierung.

2.1.4 Die Sexualfunktion

Nach Freud beginnt die Sexualität nicht erst mit dem Einsetzen der Pubertät, sondern schon mit der Geburt.

Die Phase, die in etwa bis zur Vollendung des 1. Lebensjahres besteht, nennt Freud die orale Phase. Das primäre Bezugsorgan als erogene Zone ist der Mund. Im Mittelpunkt der oralen Phase steht, „dieser Zone Befriedigung zu schaffen“ (Abriss, 49). Das Nuckeln und Lutschen am Daumen z.B. nennt Freud sexuell, denn nach ihm dienen diese Tätigkeiten dem Lustgewinn.

Kinder im Alter bis ca. 3 Jahren befinden sich nach Freud in der sadistisch-analen Phase, wobei die „Befriedigung in der Aggression und in der Funktion der Exkretion gesucht wird“ (Abriss, 50).

Die dritte Phase nennt Freud die phallische Phase (3-5 Jahre). Sowohl Mädchen als auch Jungen gehen davon aus, dass allein der Penis als Geschlechtsorgan (Phallus) vorkommt.

Die darauf folgende Phase nennt Freud die ödipale Phase (5-6 Jahre). In dieser Phase erfährt der Junge nach Freud das größte Trauma seines Lebens, welches er überstehen muss, den Ödipuskonflikt. Freud benannte diesen Konflikt „nach der mythologischen Figur des Ödipus, der unwissentlich seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete“ (Zimbardo, 531). Der Junge beginnt in dieser Zeit die Tätigkeit am Penis mit Gedanken an die Mutter zu verbinden. Der Junge fühlt sich hingezogen zu seiner Mutter, was zur Folge hat, dass der Vater zu einer Art Rivale wird. Gleichzeitig fürchtet der Junge, dass er vom Vater wegen diesem Streben bestraft bzw. kastriert wird. Der Ödipuskomplex ist also eine „collection of unconscious wishes, feelings and ideas focusing on the desire to ´possess` the opposite-sexed parent“[13]. Das Mädchen erkennt in dieser Phase ihren „Penismangel oder besser ihre Klitorisminderwertigkeit mit dauernden Folgen für die Charakterentwicklung“ (Abriss, 50), was Freud mit Elektrakomplex umschreibt.

Ab dem 6. Lebensjahr setzt die Latenzphase ein, die mit dem Ausbleiben jeglicher sexuellen Aktivität einhergeht. Während sich die Libido in der ödipalen Phase auf das gegengeschlechtliche Elternteil und gegen das Gleichgeschlechtliche richtet, orientieren sich die Kinder in der Latenzphase nach Freud am gleichgeschlechtlichen Elternteil als nachzuahmendem Vorbild.

Ab ungefähr 11 Jahren tritt das Kind in die genitale Phase ein. Die Libido wird auf außerfamiliäre Partner gelenkt.

2.1.5 Das topografische Model

Des Weiteren unterscheidet Freud zwischen drei unterschiedlichen Qualitäten des Psychischen: dem Bewussten, dem Vorbewussten und dem Unterbewussten.

Das Bewusste befindet sich wie das Vorbewusste im Bewusstsein. Dabei befindet sich das Bewusste im Gegensatz zum Vorbewussten aktuell im Bewusstsein, das Vorbewusste kann aber jederzeit abgerufen werden. Das Bewusstsein ist gekoppelt an die Wahrnehmungen der Sinnesorgane. Das Ich hat „die Qualität des Vorbewussten“ (Abriss, 58).

Das Unterbewusste dagegen befindet sich im Unterbewusstsein. Der Großteil unserer Gefühle, Emotionen und Impulse sind im Unterbewusstsein verankert. Sie sind sozusagen „repressed and not capable of becoming conscious“ (Ego and Id, 698). So ist beispielsweise der Ödipuskomplex im Unterbewussten verankert. Obwohl man sich dessen nicht bewusst ist, beeinflusst einen diese Tatsache unter Umständen ein ganzes Leben lang. Man kann das Unterbewusste als „herrschende Qualität im Es“ (Abriss, 58) bezeichnen. Zusammenfassend kann man sagen: „Es und Unbewusstes gehören ebenso innig zusammen wie Ich und Vorbewusstes“ (Abriss, 58).

2.2 Die Analyse des Textes unter psychoanalytischem Aspekt

Nach der Erläuterung der psychoanalytischen Grundbegriffe wird nun das Werk vor diesem Hintergrund analysiert bzw. interpretiert. Wie bereits erwähnt, beginne ich dabei bei Victors Kindheit, leite von da aus über zu seiner Jugend, bevor ich auf seine Studienzeit und die Erschaffung des Wesens eingehe. Im Anschluss daran analysiere ich die Entwicklung des Monsters und in einem letzten Schritt das Gespräch zwischen diesem und Victor einschließlich der Auswirkungen, die zu Victors Tod führen.

2.2.1 Victors Kindheit

Victor wird als ältester Sohn von Caroline Frankenstein und ihrem Mann geboren. Die Eltern reisen viel mit ihrem vorerst einzigen Kind. Es besteht eine sehr liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kind. Das Erste, an das sich Victor bezüglich seiner Eltern erinnert, ist „his mother´s tender caresses“ (MS, 35) und „his father´s smile of benevolent pleasure while regarding [him]“ (MS, 35). Später reist Caroline auch alleine mit ihrem Sohn, weil ihr Mann zu beschäftigt ist. Im Alter von sieben Jahren ist sich Victor bewusst darüber, dass „no human being could have passed a happier childhood than he did“ (MS, 45).

Victor ist vollständig eingebettet in eine traditionelle Familienstruktur. Seine Kindheit ist nahezu ideal. Nach Freud entwickelt der kleine Victor „an object-cathexis of his mother which originally related to the mother´s breast“ (Ego and Id, 705). Victor kann sich gleichzeitig völlig mit seinem Vater identifizieren. Zu Beginn seines Lebens befindet sich Victor in einem Zustand der übertriebenen Selbstliebe, auch Narzissmus genannt. Seine Libido ist vollständig in seinem Ich gespeichert. Später wird seine Mutter Caroline von ihm mit Libido besetzt. Sie ist auch diejenige, die Victors Über-Ich prägt. Durch sie erhält Victor moralische, soziale und humanistische Wertvorstellungen; denn das Über-Ich, wie bereits erwähnt, repräsentiert die ´parental structure` einer Person.

Im Alter von ungefähr fünf bis sechs Jahren befindet sich Victor in der phallischen bzw. in der ödipalen Phase. Die Gefühle für seine Mutter werden immer stärker und mit den Gefühlen auch die sexuelle Begierde. Er sieht, wie liebevoll und zärtlich seine Eltern miteinander umgehen und durch die Identifikation mit seinem Vater schlussfolgert Victor unbewusst, dass auch er ein so liebevoll-erotisches Verhältnis zu seiner Mutter haben könne wie sein Vater. Freud ist der Meinung, dass „the sexual wishes in regard to the mother become more and more intense and the father is perceived as an obstacle to them“ (Ego and Id, 705). Victor erfährt, unbewusst, den Ödipuskomplex. Die Tatsache, dass er teilweise mit seiner Mutter alleine reist, könnte für Victor bedeuten, dass er den Vater ersetzen kann. Der Vater steht bei diesen Reisen ´nicht im Weg` und damit werden die „unconscious wishes, feelings and ideas focusing on the desire to possess the mother“ noch verstärkt. Ein weiterer Grund für die übertriebene Liebe zu seiner Mutter mit einem daraus resultierenden Ödipuskomplex könnte seine Schwester Elizabeth sein. Durch die innige Beziehung zu Elizabeth ist Victor sicherlich aufgefallen, dass das Mädchen keinen Penis besitzt. Seine Schlussfolgerung aus dieser Feststellung könnte nun sein, dass sie bereits kastriert worden ist. Dies wiederum würde seine Angst vor der Rache des Vaters und vor der Kastration noch bestärken.

Diese sexuelle Begierde wird von der Gesellschaft jedoch konsequent abgelehnt und als Folge dessen muss die ´object-cathexis` zu seiner Mutter aufgegeben werden. Das Über-Ich hat nun die Aufgabe, den Ödipuskomplex zu unterdrücken. Bei der Unterdrückung handelt es sich nach Freud um einen Abwehrmechanismus, für den wiederum das Ich zuständig ist. Dinge, die gesellschaftlich nicht akzeptiert werden, müssen vom Über-Ich unterdrückt werden. Dies geschieht beispielsweise „under the influence of discipline, religious teaching, schooling and reading“ (Ego and Id, 706). Victor scheint seinen Ödipuskomplex erfolgreich zu unterdrücken, indem er sich vermehrt für natürliche Phänomene wie Blitz und Donner zu interessieren beginnt.

2.2.2 Victors Jugend

Im Alter von 13 Jahren beginnt Victor, sich mit den Arbeiten von Cornelius Agrippa zu beschäftigen. Für Victor ist die Welt ein Geheimnis, welches er entschlüsseln will. Er charakterisiert sich in diesem Alter durch „curiosity [and] earnest research to learn the hidden laws of nature“ (MS, 38). Mit 15 Jahren macht er erste Erfahrungen mit einem Gewitter. Als er 17 Jahre alt ist, stirbt Victors Mutter an Scharlach. Victor wird depressiv und entschließt sich nach Ingolstadt zu gehen, um Naturwissenschaften zu studieren.

In der Zeit zwischen der vermeintlichen Überwindung seines Ödipuskomplexes und dem Tod seiner Mutter scheint Victors Sexualität still zu stehen. Er durchläuft die Latenzphase, die durch diesen Stillstand der Sexualität gekennzeichnet ist. Als sich Victor in der genitalen Phase befindet, richtet sich seine Sexualität immer noch nicht auf das andere Geschlecht. Er lenkt die Libido von Frauen (seiner Mutter) auf das Studium der Naturwissenschaften. Mit der libidinösen Besetzung der Naturwissenschaften richtet er sich nach der Gesellschaft, die ihm indirekt vorschreibt, die Libido abzuwenden von seiner Mutter und hinzuwenden auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Gebiet. Dies nennt Freud Sublimierung. Damit ist die „Befriedigung nicht erfüllter sexueller Bedürfnisse durch Ersatzhandlungen, die von der Gesellschaft akzeptiert werden“ (Zimbardo, 534), gemeint. Obwohl ihm dies zu gelingen scheint, fällt er in eine tiefe Depression, als seine Mutter stirbt, indem er äußert „I need not describe the feelings of those whose dearest ties are rent by that most irreparable evil; the void that presents itself to the soul; and the despair that is exhibited on the countenance“ (MS, 45). Für Victor ist es unvorstellbar, dass er nie mehr den Glanz der Augen seiner Mutter sehen kann und nie mehr der vertrauten Stimme lauschen kann. Der Tod seiner Mutter ist unwiderruflich in Victors Bewusstsein gespeichert. Das Ziel seiner Libido ist verschwunden und mit seiner Mutter „the element that gave strength to his ego“[14]. Der Mittelpunkt seines Lebens geht von einem Tag auf den anderen verloren und kann demnach nicht weiter mit Libido besetzt werden. Nach Freud ist der Verlust der Mutter ein Trauma für Victor, denn sie als sein erotisches Objekt, verschwindet. Victor benötigt von nun an einen Transfer seiner „unconscious maternal longings on a different erotic object“ (Reuber, 79).

Nach dem Tod der Mutter beschäftigt sich Victor mit den Arbeiten von Cornelius Agrippa, Paracelsus und Albertus Magnus und geht an die Universität von Ingolstadt, um diese Wissenschaften vertieft zu studieren.

Es macht vereinzelt den Eindruck, als würde Victor von zu Hause fliehen. Er stürzt sich in seine Studien und verwendet damit erneut unbewusst einen Abwehrmechanismus. Das Ich ist nicht länger in der Lage, eine gesunde Balance zwischen Es und Über-Ich aufrecht zu erhalten und ist damit gezwungen, Victors Schmerz zu unterdrücken. Die Unterdrückung als Abwehrmechanismus wird von Freud als ein „element of avoiding pain“[15] definiert. „The essence of repression lies simply in the function of rejecting and keeping something out of consciousness“ (Repression, 422). Für seine Flucht von zu Hause könnte auch der Abwehrmechanismus ´Emotionale Isolierung` verantwortlich sein. Victor vermeidet erneute traumatische Erlebnisse, indem er seine vertraute Umgebung und die Menschen, die er liebt, verlässt. Mit dieser Isolierung auf emotionaler Ebene steuert er direkt in eine emotionale Passivität. Damit wäre zu erklären, warum er seine geliebte Familie Hals über Kopf verlässt und sich nicht bei ihr Trost, Hilfe und Zuwendung sucht. Victor ist entschlossen, nicht länger Teil ihrer Gesellschaft zu sein und wird damit in gewisser Weise zum Einzelgänger.

2.2.3 Victors Studienzeit und die Erschaffung des Wesens

Victor studiert zwei Jahre in Ingolstadt, ohne nur einmal an seine Familie zu denken. Sein Studium ist seine „sole occupation“ (MS, 51). Er beginnt, sich für Physiologie und Anatomie zu interessieren, bis er sich eines Tages sicher ist, leblose Materie zum Leben erwecken zu können. Er scheint „capable of bestowing animation upon lifeless matter“ (MS, 53). Dies ist der Tag, an dem Victor Frankenstein beschließt, ein lebendiges Wesen zu erschaffen. Angetrieben von einem „resistless, and almost frantic impulse“ (MS, 55), arbeitet Victor wie im Wahn an seinem Vorhaben. Während seiner sehr kurzen Schlafpausen träumt er heftig, er fühlt sich fiebrig und ist während seiner Arbeit „nervous to a most painful degree“ (MS, 57).

Durch den Transfer seiner Libido auf die Wissenschaften projiziert er seine Wünsche auf die leblose Materie, „her externalizes his longings and projects them on unanimated matter, until they take life of their own“ (Reuber, 80). Sein Studium und seine Forschung bilden sozusagen eine Art Deckmantel für Victors „incestuous imaginary enjoyment“ (Reuber, 80). Der Wunsch, ein Wesen zu erschaffen, ist rein psychoanalytisch betrachtet nichts anderes als eine Reaktion auf den Tod seiner geliebten Mutter. Victor erschafft also gar kein real existierendes Wesen. Das Material für sein Vorhaben ist ebenfalls kein wirkliches Material, sondern es ist das, was Freud „residues of memories“ (Ego and Id, 708) nennt. Das, was Victor für Leichenteile hält, sind in Wahrheit, so sieht es die Psychoanalyse, Kindheitserinnerungen. Eben diese Kindheitserinnerungen sind in Victors Unterbewusstsein gespeichert und verankert. Sie sind Victor nicht bewusst und genau das ist der Grund, warum Victor der Meinung ist, er würde ein wirkliches Wesen erschaffen. Die These, die sich vor diesem Hintergrund ergibt, ist die Folgende: Victor und das Wesen sind nicht zwei unabhängige Charaktere, sondern das Wesen ist Victors Doppelgänger.

Victor schafft es, sein Wesen zum Leben zu erwecken. Obwohl die Zähne des Wesens weiß wie Perlen sind und das Haar schwarz und schön ist, ist Victor bei dessen Anblick geschockt. Die Haut des Wesens ist „yellow and scarcely covered the work of muscles and arteries beneath“ (MS, 58) und die Augen sind furchtbar anzuschauen, denn sie wirken wässrig und sind von der gleichen Farbe wie „the dun-white sockets in which they [are] set“ (MS, 58). Erfüllt von Grauen und Ekel erscheint Victor sein Wesen wie ein Monster. Kurz darauf fällt Victor in einen tiefen Schlaf und träumt:

I thought I saw Elizabeth, in the bloom of health, walking in the streets of Ingolstadt. Delighted and surprised, I embraced her, but as imprinted the first kiss on her lips, they became livid with the hue of death; her features appeared to change, and I thought that I held the corpse of my dead mother in my arms; a shroud enveloped her form, and I saw the grave-worms crawling in the folds of flannel (MS, 59).

Als Victor aufwacht, erblickt er voller Entsetzen das Monster und flieht.

Für die Psychoanalyse und besonders für Freud haben Träume eine besondere Funktion. Freud ist der Meinung, dass früheste Eindrücke und Erinnerungen aus der Kindheit in Träumen auftauchen können. „Impressions from our childhood may appear in dreams, which do not seem to be at the disposal of the waking memory“[16]. Material, welches im Unbewussten oder im Vorbewussten gespeichert ist, kann also in einem Traum erscheinen.

In seinem Traum hat Victor sexuelle Absichten bezüglich seiner Schwester Elizabeth. Als er sie küssen will, verwandelt sich Elizabeths Körper in den Körper der toten Mutter. Dies ist nach Freud ein ganz typischer Inzest-Traum. Dieser Inzest-Traum „exemplifies the after-effects of Victor´s still unprocessed trauma of the (sexual) lost mother“ (Reuber, 80). Dieser Traum ist der Beweis dafür, dass Victor seinen Ödipuskomplex noch nicht überwunden hat. Zwar hat er seine Libido auf die Wissenschaft umgelenkt, aber die Wissenschaft dient nur als Deckmantel für seine inzestuösen Wünsche. Der Ödipuskomplex ist also nach wie vor unüberwunden. Er äußert sich in der Transformation von Elizabeth in Victors Mutter und von der Mutter in das Monster. Es bilden sich zwei Pole in diesem Traum. Elizabeth und die Mutter kann man zusammenfassen als eine Person, die Victors „latent incestuous longings“ (Reuber, 81) symbolisiert. Den zweiten Pol bildet das Monster als Symbol für „the loathsomeness of Victor´s latent incestuous longing“ (Reuber, 81). Elizabeth dient in dem Traum dazu, Victor klarzumachen, dass er nicht in der Lage ist, weibliche Sexualität von seiner Mutter zu trennen. Die Würmer in dem Traum sind so genannte Phallussymbole. Das Wort Phallus stammt von dem spätlateinischen Wort <phallus> und steht für das männliche Glied als Symbol der Kraft und der Fruchtbarkeit. Die Würmer kriechen in dem Traum sozusagen aus der Mutter (bzw. ihrem Totenhemd) heraus, was belegt, dass Victor in seiner Mutter ein sexuell anziehendes Wesen sieht. Die Augen des Monsters werden als wässrig beschrieben und können damit ebenfalls als Phallussymbol bezeichnet werden. Sie stehen stellvertretend für Victors „nightly erection and ejaculation“ (Reuber, 81). Die Mutter steht in dem Traum in direkter Verbindung zu dem Monster, so dass man die Erektion, die die Augen des Monsters symbolisieren, wieder direkt auf die Mutter beziehen kann. Als Victor nach seinem Traum das Monster erblickt, flüchtet er. Da es aus psychoanalytischer Sichtweise kein Monster gibt, kann man daraus schlussfolgern, dass Victor unbewusst versucht, vor sich selber bzw. vor seiner Erinnerung wegzulaufen.

Als Victor bewusst wird, dass er vor dem Monster nicht weglaufen kann, fängt er wie wahnsinnig an zu lachen. Mit dem Schrei „Oh, save me, save me!“ (MS, 62) und in dem Glauben, das Monster würde ihn fangen, fällt Victor in Ohnmacht. Von dem Zeitpunkt an, da Victor das Wesen erschafft bis zu seiner Ohnmacht, versucht er das Erlebte und seine Erinnerungen zu unterdrücken. Der Abwehrmechanismus funktioniert nicht ausreichend und als Konsequenz leidet Victor an „mental disturbances which result in fits of madness“ (Reuber, 82).

2.2.4 Die Entwicklung des Monsters

Nach Victors Ohnmacht entwickelt sich das Monster zu einem hilflosen nackten Wesen, welches nicht weiß, wie es seine Sinne zu gebrauchen hat. Es fühlt sich wie ein „poor, helpless, miserable wretch“ (MS, 105ff). Durch die bloße Observation der DeLacey Familie, die die Kreatur in einem Haus mitten im Wald beobachtet, lernt es zu sprechen und zu lesen. Es gewinnt an menschlichen Zügen und entwickelt sich zu einem hilfsbereiten und dankbaren Lebewesen, ohne auch nur ein Wort mit der Familie zu wechseln.

Da es sich nicht um ein reales Lebewesen handelt, sondern um Victors Doppelgänger, kann man behaupten, dass Victor unter einer Persönlichkeitsstörung, ausgelöst durch den nicht überwundenen Ödipuskomplex, leidet. Es handelt sich um eine Störung, die die Psychologie mit ´dissoziativer Identitätsstörung` umschreibt. Früher nannte man diese Störung ´multiple Persönlichkeit`. Bei der dissoziativen Persönlichkeitsstörung handelt es sich um die radikalste Form der Bewusstseinsveränderung. Die dissoziative Persönlichkeitsstörung (dissociative identity disorder; DID) ist eine Störung, bei der „in einem Individuum zwei oder mehr unterschiedliche eigenständige Persönlichkeiten existieren. Zu jedem Zeitpunkt dominiert immer eine dieser Persönlichkeiten das Verhalten“ (Zimbardo, 609f.). Die einzelnen Persönlichkeiten verfügen über einzigartige Identitäten, eigene Namen, eigene soziale Beziehungen und verschiedene Verhaltensmuster. Mit dem Schaffen des Monsters spaltet sich sozusagen eine Persönlichkeit von Victor ab. Diese Persönlichkeit bleibt im Hintergrund, bis Victor in Ohnmacht fällt. Das Monster als Victors abgespaltene Persönlichkeit beginnt sich zu entwickeln. Es hat eine eigene Identität und eigene soziale Beziehungen. Victor selber lernt die DeLaceys nie kennen. Weiterhin eignet sich das Monster eigene Verhaltensmuster an, wie zum Beispiel das dringende Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Zuwendung. Obwohl sich, laut der Psychoanalyse, die einzelnen Persönlichkeiten eines Menschen untereinander in einem Großteil der Fälle nicht kennen, scheint dies in Victors Fall anders zu sein. Victor ist sich bewusst darüber, dass es das Monster gibt. Er bringt es allerdings nicht mit sich selber in Verbindung, sondern denkt, es handelt sich um ein unabhängiges selbstständiges Lebewesen.

Das Monster als Victors zweite Persönlichkeit entwickelt sich weiter. Da es von der Außenwelt immer wieder auf Ablehnung stößt, erklärt es einen „ever-lasting war against the species, and, more than all, against [Victor] who had formed him“ (MS, 137f). Erfüllt von Hass und Rache bringt das Monster erst Victors kleinen Bruder William und später alle Mitglieder der Frankenstein-Familie um. In einer Wasserpfütze betrachtet sich das Monster und erkennt, dass es sich bei seinem Spiegelbild um Victor handelt. „At first I started back, unable to believe that it was indeed I who was reflected in the mirror; and when I became fully convinced that I was in reality the monster that I am, I was filled with the bitterest sensations of despodence and mortification“ (MS, 116f.).

Dies ist der Zeitpunkt, an dem Victor erkennt, dass das Monster ein Teil von ihm ist. Ihm wird bewusst, wie schlecht und hässlich sein wahres Ich ist. Psychoanalytisch kann dies so erklärt werden, dass Victors innere schlechte Gefühle nach außen gekehrt werden und sich in dem Monster manifestieren. Victor erkennt sein zweites Ich. Er weiß allerdings nicht um die Taten, die seine zweite Persönlichkeit verübt hat. Dass sein kleiner Bruder tot, ist erfährt Victor erst zwei Jahre später, im Alter von 23, durch einen Brief seines Vaters.

Auf dem Weg in seinen Heimatort und damit zu seiner Familie, durchquert Victor Plainpalais, den Ort, an dem William getötet wurde. Ein heftiges Gewitter zieht auf und Victor schreit unwillkürlich „William, dear angel! This is thy funeral, this is thy dirge!“ (MS, 77). Kurz darauf sieht er das Monster, welches aber schnell wieder verschwindet.

Bei dieser Szene handelt es sich um eine ähnliche Szene wie die bereits analysierte Traum-Szene. Mit dem Tod von William assoziiert Victor unbewusst den Tod seiner Mutter. In seinem Unterbewusstsein verknüpft er dabei den Tod der Mutter mit seinen unerfüllten inzestuösen Wünschen ihr gegenüber. Als er seinen Bruder einen Engel nennt, meint er eigentlich seine Mutter. Das Gewitter steht symbolisch für den Tag ihrer Beerdigung und für das Trauerlied, welches ihr zu Ehren gespielt wurde. Das Erscheinen des Monsters ist eng geknüpft an den Verlust der Mutter, ist es doch indirekt der Verlust der Mutter, der das Monster entstehen ließ.

Bis zu diesem Zeitpunkt weiß Victor zwar um sein zweites Ich, aber er kennt dessen Taten nicht. Erst als Justine, das Dienstmädchen, für den Mord an William verantwortlich gemacht wird, wird ihm bewusst, dass das Monster den Mord begangen haben muss. Im Gefängnis gibt er leise zu „But I, the true murderer, felt the never-dying worm alive in my bosom, which allowed no hope or consolation“ (MS, 89). Er ist sich sehr bewusst darüber, dass er schuldig ist an Williams Tod und darüber hinaus an Justines Tod, die unschuldig hingerichtet wird.

Das Über-Ich strebt sehr danach, die Taten zuzugeben und dafür zu büßen. Victor kämpft Tag für Tag mit seinem schlechten Gewissen. Das Es allerdings strebt in die genau entgegen gesetzte Richtung. Das Ich muss zwischen beiden Instanzen vermitteln, so dass beide befriedigt werden. Eine Balance zwischen Es und Über-Ich ist zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, daher setzt das Ich einen weiteren Abwehrmechanismus ein. Victor beginnt, die begangenen Gräueltaten zu verdrängen. Er verdrängt damit eine Erinnerung, die dem Über-Ich widerspricht, in das Unbewusste. Das Monster allerdings wird durch den Abwehrmechanismus nicht verdrängt.

2.2.5 Das Gespräch zwischen Victor und dem Monster und dessen Auswirkungen

Von da an leben Victor und sein zweites Ich isoliert von der Außenwelt. Beide fühlen sich einsam. Victor zieht sich in die Alpen zurück und begegnet erneut dem Monster. Das Monster hat nur einen Wunsch: Victor soll ihm zuhören. Das Monster erzählt Victor seine bisherige Lebensgeschichte und berichtet, wie er bei William das Bild der Mutter gefunden hat. Das Bild „softened and attracted him“ (MS, 145) und er „gazed with delight on her dark eyes, fringed by deep lashes, and her lovely lips“ (MS, 145). Allerdings ist er so „deprived of the delights that such beautiful creatures could bestow“ (MS, 145) gewesen, dass er nicht anders konnte, als William zu töten und Justine den tödlichen Beweis (das Bild der Mutter) in die Tasche zu stecken.

[...]


[1] Shelley, Mary. 1992. Frankenstein. London (im Folgenden abgekürzt als: MS).

[2] Massari, Robert. 1989. Mary Shelleys Frankenstein: Vom romantischen Mythos zu den Anfängen der Science-
Fiction. Hamburg. S. 7 (im Folgenden abgekürzt als: Massari).

[3] Crocker, John Wilson. 1818. “Review of Frankenstein; or the Modern Prometheus”. In: The Quarterly Review,
18
(January 1818). S. 379-385. Der Text ist abrufbar im Internet unter: www.rc.umd.edu.

[4] Wenzel, Peter. „Der Text und seine Analyse“. In: Bernhard Fabian, ed. 1998. Ein anglistischer Grundkurs:
Einführung in die Literaturwissenschaft ,
8. Auflage. Berlin. S.147 (im Folgenden abgekürzt als: Wenzel).

[5] Culler, Jonathan. 1997. Literaturtheorie – Eine kurze Einführung. Stuttgart. S.94 (im Folgenden abgekürzt als:
Culler).

[6] Nünning, Vera und Ansgar. 2001. Grundkurs anglistisch- amerikanistische Literaturwissenschaft. Stuttgart. S.39 (im Folgenden abgekürzt als: Nünning).

[7] Klarer, Mario. 2004. An Introduction to Literary Studies. 2. Aufl. London. S.86 (im Folgenden abgekürzt als: Klarer).

[8] Willbern David. „Reading after Freud“. In: Atkins, Douglas und Morrow, Laura, ed. 1989. Contemporary Literary Theory. Amherst. S.158 (im Folgenden abgekürzt als: Willbern).

[9] Zum besseren Verständnis werden die drei Instanzen in der Beschreibung des psychoanalytischen Grundwissens kursiv gesetzt. In der Analyse des Textes dagegen nicht.

[10] Freud, Sigmund. 1923. „The Ego and the ID“. In: Hutchins, Robert Maynard, ed. 1952. Great Books of the Western World, Freud. Chicago, London, Toronto, Geneva. S. 703 (im Folgenden abgekürzt als: Ego and Id).

[11] Freud, Sigmund. 1998. Abriss der Psychoanalyse – Einführende Darstellung. Frankfurt am Main. S.43 (im Folgenden abgekürzt als: Abriss).

[12] Zimbardo, Philip G, Gerrig, Richard J. 1996. Psychologie. Hrsg. von Siegfried Hoppe-Graff und Irma Engel. 7. Aufl.. Berlin, Heidelberg, New York. S.533 (im Folgenden abgekürzt als: Zimbardo).

[13] Reber, Arthur. 2001. The Penguin Dictionary of Psychology. 3. Aufl. New York. S. 481 (im Folgenden abgekürzt als: Reber).

[14] Reuber, A.M. 2004. Haunted by the Uncanny: Development of a Genre from the late 18th Century to the late 19th Century. Diss. Louisiana. S. 79 (im Folgenden abgekürzt als: Reuber).

[15] Freud, Sigmund. 1915. „Repression“. In: Hutchins, Robert Maynard, ed. 1952. Great Books of the Western World, Freud. Chicago, London, Toronto, Geneva. S.422 (im Folgenden abgekürzt als: Repression).

[16] Freud, Sigmund. 1900. „The Interpretation of Dreams”. In: Hutchins, Robert Maynard, ed. 1952. Great Books of the Western World, Freud. Chicago, London, Toronto, Geneva. S.215 (im Folgenden abgekürzt als: Dreams).

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Mary Shelleys Frankenstein in der Sicht der neueren Literaturkritik
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Note
2,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
86
Katalognummer
V78499
ISBN (eBook)
9783638799966
ISBN (Buch)
9783638803618
Dateigröße
811 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit hätte laut Gutachten mit mehr eigenen Ideen versehen werden können, sie basiert so vollständig auf Sekundärliteratur, was zu Punktabzügen führte.
Schlagworte
Mary, Shelleys, Frankenstein, Sicht, Literaturkritik
Arbeit zitieren
Tina Heesel (Autor:in), 2005, Mary Shelleys Frankenstein in der Sicht der neueren Literaturkritik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/78499

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