Das Motiv des "Indischen" in Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz"


Seminararbeit, 2003

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


1 Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Hauptteil
2.1 Religiöse Hintergründe des Romans
2.2 Berlin als Metapher der „Weltseele“
2.3 Franz Biberkopf und „das Andere“
2.4 Das Weibliche als komplementärer Aspekt des Biberkopf-Ichs
2.5 Reinhold als antagonistische Stimulans des Biberkopf-Ichs
2.6 Fazit

3 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Lektüre von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ läßt nach dem neunten Kapitel bzw. „Buch“ einige Fragen offen. Der Leser hat sich, während die Geschichte des Romans ihren Lauf nahm, mit der Vergangenheit und den drei großen Schicksalsschlägen des Protagonisten vertraut gemacht, und nimmt nun, am Ende der Geschichte, Anteil an der „Wiedergeburt“ Franz Biberkopfs als „Franz Karl Biberkopf“.[1] Indes erfahren wir lediglich, daß Franz (Karl) Biberkopf „sehr verändert, ramponiert, aber doch zurechtgebogen“ sei.[2] Der neue Biberkopf hat gelernt, besser über sich und seine Umwelt zu reflektieren; er nimmt sich nun als Bestandteil des Sozialwesens wahr und erkennt den inneren Zusammenhang zwischen sozialer Interaktion und individueller Lebensgestaltung.[3] Wie Biberkopf die nun erlangte Selbstverantwortlichkeit in der Zukunft praktisch umsetzen wird, und welche Auswirkungen diese auf seinen Charakter haben wird, läßt Döblin jedoch offen.

Wie Döblin in einem Brief an Julius Petersen erläutert hat, beruht dieser Umstand auf einem bestimmten Kalkül. Der Schluß von „Berlin Alexanderplatz“ sei ursprünglich als Überbrückung zu einer Fortsetzung des Romans gedacht gewesen, welche „den aktiven Mann, wenn auch nicht dieselbe Person“ beschrieben hätte.[4] Obgleich diese geplante Fortsetzung nie fertiggestellt wurde, verdeutlicht sie dennoch, daß das eigentliche Hauptthema von „Berlin Alexanderplatz“ nicht in der Entwicklung des individuellen Ichs von Franz Biberkopf besteht. Döblin verwendet seinen Protagonisten lediglich als Musterbeispiel, um anschaulich zu demonstrieren, auf welchen Kausalzusammenhängen die (bürgerliche) Gesellschaft aufbaut: „Es ist kein Grund zum verzweifeln. [...] Denn der Mann, von dem ich berichte, ist zwar kein gewöhnlicher Mann, aber doch insofern ein gewöhnlicher Mann, als wir ihn genau verstehen und manchmal sagen: wir könnten Schritt um Schritt dasselbe getan haben wie er und dasselbe erlebt haben wie er.“[5]

Inspiriert zu dieser Thematik wird Döblin durch sein vorheriges Werk, dem Versepos „Manas“, in welchem er Aspekte der indischen Mythologie verarbeitet hat. „Die Frage, die mir der „Manas“ zuwarf, lautete: Wie ergeht es nun einem guten kräftigen Menschen in unserer Gesellschaft, - laß sehen, wie er sich verhält und wie vor ihm die Menschen aussehen. Es wurde „Berlin Alexanderplatz“.“[6]

Der Hauptgegenstand dieser Untersuchung wird daher die Frage sein, wie sich das Motiv des „Indischen“ in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ ausgewirkt hat, und welche Rückschlüsse auf Döblins Interpretation des menschlichen Sozialwesens dies zuläßt. Da Döblin in „Berlin Alexanderplatz“ mit keiner indischen Terminologie gearbeitet hat, werde ich anhand eines direkten Vergleichs die inhaltlichen Verknüpfungen explizit machen.

Ich bin überzeugt, daß es nicht „die“ richtige Interpretation eines literarischen Textes geben kann. Das Interpretationsmodell, welches ich in der folgenden Untersuchung skizzieren werde, orientiert sich an dem konstruktivistischen Kriterium der „Viabilität“.[7] Dies bedeutet, daß ich eine Reihe von Problemen und Fragestellungen, welche sich aus dem Kontext von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ ergeben, diskutieren und auf etwaige Lösungsansätze hin untersuchen werde, ohne dabei den Anspruch auf „Vollständigkeit“ zu erheben. Ich erhebe den Anspruch, ein kohärentes Modell zu entwickeln, welches in Hinsicht auf den zu behandelnden Romanstoff keine inneren Widersprüche aufweist und „brauchbare“ Erklärungsansätze postuliert. Dies schließt jedoch nicht aus, daß ähnliche oder sogar völlig anders ausgerichtete Modelle ebenso geeignet zur persönlichen Erschließung des Romans sein können.

Alfred Döblin ist nicht der einzige deutsche Schriftsteller, welcher sich zu jener Zeit literarisch mit der Projektion „indischer“ Ideen auf die westliche Welt auseinander gesetzt hat. Hermann Hesse hat in seinem 1927 – also einem Jahr früher als Döblins „Berlin Alexanderplatz“ – erschienenen Roman „Der Steppenwolf“ Ideen aus der indischen Kultur und den psychologischen Theorien Carl Gustav Jungs kombiniert, um sein persönliches literarisches Interpretationsmodell zu konzipieren.

Am höchsten schätzt denn auch die naive Ästhetik das sogenannte Charakterdrama, in dem jede Figur recht kenntlich und abgesondert als Einheit auftritt. Nur von ferne erst und allmählich dämmert die Ahnung in einzelnen, daß das alles vielleicht eine billige Oberflächenästhetik ist, daß wir irren, wenn wir auf unsre großen Dramatiker die herrlichen, uns aber nicht eingeborenen, sondern bloß aufgeschwatzten Schönheitsbegriffe der Antike anwenden, welche, überall vom sichtbaren Leibe ausgehend, recht eigentlich die Fiktion vom Ich, von der Person, erfunden hat. In den Dichtungen des alten Indiens ist dieser Begriff ganz unbekannt, die Helden der indischen Epen sind nicht Personen, sondern Personenknäuel, Inkarnationsreihen. Und in unsrer modernen Welt gibt es Dichtungen, in denen hinter dem Schleier des Personen- und Charakterspiels, dem Autor wohl kaum ganz bewußt eine Seelenvielfalt darzustellen versucht wird. Wer dies erkennen will, der muß sich entschließen, einmal die Figuren einer solchen Dichtung nicht als Einzelwesen anzusehen, sondern als Teile, als Seiten, als verschiedene Aspekte einer höheren Einheit (meinetwegen der Dichterseele). Wer etwa den Faust auf diese Art betrachtet, für den wird aus Faust, Mephisto, Wagner und allen anderen eine Einheit, eine Überperson, und erst in dieser höheren Einheit, nicht in den Einzelfiguren, ist etwas vom wahren Wesen der Seele angedeutet. Wenn Faust den unter Schullehrern berühmten, vom Philister mit Schauer bewunderten Spruch sagt: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!“ dann vergißt er den Mephisto und eine ganze Menge andrer Seelen, die er ebenfalls in seiner Brust hat.[8]

Wir finden hier eine Kritik an der traditionellen Interpretation des europäischen Ich-Begriffes, welche sich ebenfalls in ähnlicher – wenn auch anders präsentierter – Form in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ erkennen läßt. Eine der Leitfragen dieser Untersuchung wird daher sein, ob sich in der literarischen Konzeption von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ exemplarisch ein Äquivalent zu Hesses „Überperson“ finden läßt, und welche Interpretationen von Döblins Ich-Verständnis daraus gefolgert werden können.

Zur Stützung meiner Thesen werde primär auf die bereits im Seminar verwendete Literatur zurückgreifen: Den Roman „Berlin Alexanderplatz“ nebst Anhang, den ebenfalls von Alfred Döblin verfaßten Hörspieltext „Die Geschichte von Franz Biberkopf“, „Drehort Stadt. Das Thema „Großstadt“ im deutschen Film“ von Hanno Möbius und Guntram Vogt, sowie das Drehbuch und Materialien zum Film aus der Edition text + kritik. Zusätzlich werde ich einen kurzen, exemplarischen Vergleich zu Goethes „Faust“ vornehmen.

Ich beginne mit einer kurzen Einführung in die Grundzüge des Hinduismus, um diese anschließend einem direkten Vergleich mit der Ich-Auffassung Alfred Döblins zu unterziehen. Im anschließenden Kapitel übertrage ich die daraus abgeleiteten Grundprinzipien auf die literarische Darstellung der Großstadt in Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Sodann untersuche ich das Spannungsverhältnis zwischen dem Protagonisten Franz Biberkopf und dem im Roman nicht explizit kategorisierten „Anderen“. Als nächstes untersuche ich den Einfluß des Weiblichen auf Biberkopfs Werdegang, um darauf folgend sein Verhältnis zu der Figur Reinholds näher zu untersuchen. Bevor ich die Untersuchung mit dem Literaturverzeichnis schließe, bringe ich noch ein kurzes Fazit ein.

[...]


[1] Döblin, Alfred, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte von Franz Biberkopf, München 2001, S.447

Ich werde künftig das Kürzel (BA) für Belege anhand des Romans verwenden, um die Unterscheidung von dem hier ebenfalls verwendeten Hörspieltext „Die Geschichte von Franz Biberkopf“ (FB) zu verdeutlichen.

[2] Ebd., S.11

[3] Ebd., S.453

[4] Ebd., S.851

[5] Ebd., S.217

[6] Ebd., S.839

[7] Vgl. etwa Glaserfeld, Ernst von, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Gumin, Heinz (Hg.) / Meier, Heinrich (Hg.), Einführung in den Konstruktivismus, München 2002, S.9 - 39

[8] Hesse, Hermann, Der Steppenwolf, Frankfurt a.M. 1974, S.78

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Das Motiv des "Indischen" in Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz"
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Germanistik II)
Veranstaltung
Seminar: Einführung in das Studium der neueren deutschen Literatur
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
18
Katalognummer
V19241
ISBN (eBook)
9783638234139
ISBN (Buch)
9783638788465
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Berlin, Alexanderplatz, Alfred Döblin, Großstadtroman, Hinduismus, Brahman, Atman, 20er Jahre
Arbeit zitieren
Ulrich Goetz (Autor:in), 2003, Das Motiv des "Indischen" in Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19241

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