Zu: Hartmann von Aues "Gregorius"


Hausarbeit, 2004

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


1. Die Aktualität des „Gregorius“ - Stoffes

Hartmanns von Aue „Gregorius“ ist etwa im Zeitraum von 1187 bis 1189, oder in der ersten Hälfte der neunziger Jahre entstanden. Die Gregorius Legende bildet den Anfang einer weitverzweigten und jahrhundertenlangen Bearbeitungsgeschichte. Stellvertretend wären hier die „Gesta Gregorii peccatoris“ Arnolds von Lübeck zu nennen, der Hartmanns Werk ins Lateinische übersetzte. Auch die Prosafassung „Von sant Gregorio auf dem stain“, die in der Legendensammlung „Der Heiligen Leben“ enthalten ist, beschäftigt sich mit dem Gregorius - Thema. Ihren Abschluss findet die Rezeption des Gregorius - Motivs im „Erwählten“ von Thomas Mann.

Wo liegt der Grund für die Zeitlosigkeit dieses Stoffes? Was faszinierte einen Dichter um 1200 an der Gregorius- Legende? Was veranlasste 750 Jahre später Thomas Mann, diesen Stoff wieder aufzugreifen? Im Vordergrund der Legende steht die unermesslich große Schuld, die von den Protagonisten durch eine ungeheure Bußleistung gesühnt wird.[1]

Ein weiteres Zentrum der Beobachtung ist Gottes Gnade und die Frage, in wie weit der Mensch fähig ist, diese durch eigenes, verantwortetes Handeln zu beeinflussen und zu erlangen. Inwiefern ist das Individuum durch äußere Umstände wie Herkunft, Umgebung oder soziale Funktion in seinem Handeln determiniert? Welche Lebensbereiche bestimmt es vollkommen selbst? Die Aktualität des Gregorius- Stoffes liegt meiner Meinung nach im Begriff der Schuld des Menschen und in der Bedeutung Gottes. Ich frage mich, ob „Schuld“ ein wahrhaft tragbares Wort darstellt. Bestimmen nicht vielmehr die Gesellschaft, politische Verhältnisse und das Aufwachsen das Handeln eines Jeden?

Schuld ist ein Verbalabstraktum zu dem in Sollen vorliegenden Verb. Dessen Ausgangsbedeutung ist „schulden“, so dass das Nomen ursprünglich „das Geschuldete“ bedeutet.[2]

Dieses Wort erfuhr also eine Generalisierung. Es beschrieb zunächst eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die darin bestand, dass ein Teil rechtmäßig Materielles zurückforderte, was der andere Teil nicht imstande war, zu geben. Die materielle Schuld übertrug sich im Laufe der Zeit auch auf andere Lebensbereiche. Schuld wird heutzutage, abgesehen von finanziellen Schulden, meiner Meinung nach, vor allem auf emotionaler Ebene erlebt. Für Georg Büchner beispielsweise ist Woyzecks Mord an seiner Frau Marie im gleichnamigen Fragment ein Befreiungsschlag. Sein Schicksal ist das Beispiel für die Lebensbedingungen eines Individuums in den falschen, gesellschaftlichen Verhältnissen.[3] Für mich findet der Glauben an den Begriff der Schuld in erster Linie seinen Ursprung im Glauben an Gott. Für Gläubige ist Gott die oberste Instanz, die urteilt, was recht und falsch, was Schuld und Unschuld ist. Kann ungesühnte Schuld, wenn es eine richtende Instanz gibt, überhaupt existieren? Ist die Vergebung der Schuld durch Gott nicht vielmehr der tiefgreifendste Beweis für seine Existenz? So könnte man folgern, dass menschliche Verfehlungen notwendig sind. Sie bieten sich dem Individuum als Möglichkeiten, als Freiheiten an. Es irrt, verlässt den Weg Gottes, um ihn mit gefestigteren Glauben wiederzufinden. Doch nicht alle Menschen erleben das Gefühl der Schuld, empfinden Reue nach „schlechten“ Tun. Bedeutet dies, sie haben Gott noch nicht gefunden, oder existiert er gar nicht? Meiner Ansicht nach, ist die Gottesfrage reine Glaubenssache. Er lässt sich weder beweisen, noch widerlegen. Der Mensch hat die Möglichkeit, an ihn zu glauben, oder nicht. Schenkt man Religionskritikern wie Feuerbach, Marx, oder Sartre Glauben, so wird das Ich zum absoluten Ich, das für alles Verantwortung übernimmt. Einerseits wird hier die Freiheit des Menschen postuliert, andererseits wird sie durch permanente Verantwortung eingeschränkt. Nach Ludwig Feuerbach hält jeder Mensch für wirklich, was aus seinem Traum entstand. Das Individuum staunt über die Macht seiner seelischen und geistigen Kräfte, schreckt aber davor zurück, in ihnen sein Wesen zu erkennen. Der Mensch zerstört sein eigenes Bewusstsein und projiziert positive Wesenseigenschaften auf Gott. Diese dimensionalisiert er. Defizitäre Eigenschaften, wie seine Sterblichkeit, Abhängigkeit und Ohnmächtigkeit sieht der Mensch in Gott ins Gegenteil umgekehrt. Für Feuerbach ist der vollkommene Gott das nach außen verlagerte Wesen des Menschen. Die Religion treibt die Entzweiung des Menschen mit sich voran. Feuerbach fordert den progressiven Rückschritt, die Überwindung der Religion und damit die Überwindung der Entzweiung des Menschen. Marx lehnt sich an Feuerbach an, geht aber über ihn hinaus. Er glaubt, dass die anthropologische Reduktion, das heißt die Rücknahme der Projektion auf Gott, zu einer Enttäuschung führen würde, da sich das Diesseits des Menschen nicht verändert hat. Dieses Diesseits fordert in seinem Zustand die Schaffung eines Jenseits, die Schaffung Gottes. Marx glaubt an die Lösung des Problems durch die Revolution, die Aufhebung der Klassengesellschaft. Er fordert also die Schaffung eines neuen Diesseits, in dem keine Projektion mehr notwendig ist. Sartre, der behauptete, die Existenz des Menschen gehe der Essenz, dem was der Mensch werden soll, voraus, bildet wohl den auffallendsten Gegenpol zur kirchlichen Lehre, die den „Gregorius“ prägt.[4]

Dies alles erwähne ich, um der Gottesfrage, beziehungsweise der Gnade Gottes, die im Werk Hartmanns eine zentrale Rolle spielt, nicht mit blindem Religionseifer zu begegnen. Des weiteren, um auf die Frage nach der Freiheit des Menschen, die, meiner Meinung nach, bereits im Gregorius- Prolog zu beschränkt dargestellt wird, das Augenmerk zu legen.

In diesem Einstieg lag mir daran, die Aktualität des Gregorius- Motivs darzulegen und auf die mir am wichtigsten erscheinen Fragen, die der Stoff aufwirft, einzugehen.

2. Die Entstehungsgeschichte des „Gregorius“

Legendenhafte Epik wie der „Gregorius“, oder der „Arme Heinrich“ basiert meist auf romanischen Vorlagen. Die Quellen sind zum Teil unbekannt. Hartmann hat bezüglich des „Gregorius“ die altfranzösische Verslegende „La vie du pape Grégoire“ aus dem zwölften Jahrhundert umgestaltet. Mittelalterliche Autoren arbeiteten vorwiegend nach Vorlagen. Doch Hartmanns Werk lässt sich kaum mehr als reine Übersetzungsarbeit betrachten, da sehr viel eigenes Tun in das Werk mit einfloss.[5] Des weiteren vereint der „Gregorius“ Motive antiker und mittelalterlicher Inzestgeschichten. Zu nennen sind die Ödipussage, die Judaslegende, sowie die Andreaslegende. Doch diese sind als vorrangige Quellen eher auszuschließen. Die Protagonisten legendenhafter, höfischer Epik sind Exempelfiguren für ein gottgefälliges Leben. Ihr Lebensverlauf teilt sich oft in Krise und anschließende Bekehrung auf. So verhält es sich auch im „Gregorius“. Dieser erlebt große Schuld, findet am Ende doch immer wieder auf Gottes Wege zurück. Seine Abenteuer sind nicht vom Zufall bestimmt. Gregorius steht von Anfang an unter der Führung Gottes. Dennoch fällt es nicht leicht, Hartmanns Text eindeutig der Legendengattung zuzuordnen. Auch Elemente des höfischen Romans fließen ein. Der Hof stellt sich im Werk positiv und im Zusammenhang mit christlichen Werten und Geboten dar. Auch die Rolle des Erzählers, die vor allem im Prolog an Bedeutung gewinnt, ist die eines persönlichen Erzählers einer auktorialen Erzählsituation im Artusroman. Des weiteren ist die Doppelwegstruktur ein Merkmal des höfischen Romans. Doch die dominanten Gattungselemente stammen aus der Legende. Die gesamte Handlung ist auf das Heilsgeschehen angelegt.[6]

Ausgiebig wird diskutiert, ob Hartmanns Werk autobiographische Züge trägt, ob das Erzähler - Ich mit dem Autor identisch ist.[7] Diese Überlegungen auszuführen, würde jedoch den Rahmen meiner Arbeit sprengen. Man vermutet, dass der Ministeriale Hartmann vom Tode seines Herrn sehr betroffen war. Dieses Erlebnis stürzte ihn angeblich in eine tiefe innere Krise, aus der die Kreuzzugslegende und die Büßerlegende hervorgegangen sind. Möglicherweise hat Hartmann an einem der Barbarossa Kreuzzüge teilgenommen. Doch all dies bleiben Vermutungen, da zum Leben Hartmanns kaum verlässliche Forschungsergebnisse zur Verfügung stehen.[8]

2.1. Die Geschichte vom guten Sünder

Um die große Schuld des Gregorius, von der immer wieder gesprochen wird, greifbarer zu machen, möchte ich kurz auf den Inhalt der Legende eingehen. Gregorius ist ein Inzestkind zwischen Geschwistern. Diese stammen aus einem Fürstengeschlecht. Nach seiner Geburt wird er ausgesetzt. Seine Eltern treffen die Entscheidung, ihn und sein Schicksal dem Willen Gottes zu überlassen. Gregorius Vater tut Buße. Er verlässt die geliebte Schwester und tritt die Reise zum heiligen Grab an. Diese Sünden- und Bußfahrt bezahlt er mit dem Leben. Die Mutter bleibt allein zurück. Sie ist nun alleinige Herrscherin des Landes und beschließt, ihr Leben ganz Gott zu widmen. Zu all dem rät ihnen der wîse man[9], die personalisierte Lösung. Er kennt als einziger das Geheimnis der Geschwister. Gottes Gnade lässt Gregorius überleben. Dieser Sündenfall und die folgende Buße wird als erstes Schicksalsrad bezeichnet. Das Kind wird von einem Abt aufgenommen, der es in die Obhut eines Fischers gibt. In einem Streit mit seiner Ziehmutter, der Fischersfrau, erfährt Gregorius von dem Inzest seiner Eltern. Der Abt möchte Gregorius, auf Grund seiner moralisch vorbildlichen Lebensführung, zu seinem Nachfolger machen. Doch dieser entschließt sich, Ritter zu werden. Eines Tages trifft Gregorius auf seine Mutter, die er jedoch nicht als diese erkennt. Durch Heirat und erneuten Inzest stürzen sich die beiden wiederum, wenn auch unwissend, in große Schuld. Das Liebesglück der beiden wird durch die Aufdeckung der Sünde jäh zerstört. Als Gregorius die schreckliche Wahrheit erfährt, reagiert er zunächst zornig gegen Gott, ähnlich Judas, der an Gott zweifelnde und darum verlassene Mensch. Doch Gregorius sieht ein und vertraut in aufrichtiger Reue und tatkräftiger Buße auf Gott. Er verlässt das Land als Bettler, um seine Buße anzutreten. Die Mutter bleibt wiederum zurück, um ihr Leben in Demut den Armen zu widmen. Auf einem Felsen sitzend, der Sinnbild für die Kraft Gottes ist, leistet Gregorius seine Buße ab. 17 Jahre später hat Gott ihm verziehen. Auch dieser Sündenfall und die Rettung bilden ein Schicksalsrad. Zur gleichen Zeit stirbt der Papst. Am Ende wird Gregorius zum Papst erwählt. Er wird der gerechte Vertreter Gottes auf Erden.[10]

Strukturelle Grundelemente des Werkes sind die Trennung und Wiedervereinigung von Mutter und Sohn, sowie die Krise und Bekehrung der Protagonisten. Die Geschichte vom „guten Sünder“ ist eine Erwähltengeschichte, deren Verlauf nur auf Gott zurückzuführen ist. Er hat den Menschen zum Guten oder Bösen vorherbestimmt. Der freie Wille ist ausgeschlossen.[11]

[...]


[1] nach Beer, Ulrike: Das Gregorius- Motiv. Hartmanns von Aue „Gregorius“ und seine Rezeption bei Thomas Mann. Meldorf: Jörg Vogelsang Verlag 2002. S. 7.

[2] Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Berlin: Walter de Gruyter 1989. S. 655.

[3] Meier, Albert: Georg Büchner >Woyzeck<. Hg. v. Gert Sautermeister und Jochen Vogt. 2. unveränderte Auflage. München: Fink 1986. S. 74.

[4] nach den Aufzeichnungen des Grundkurses Religion

[5] nach den Aufzeichnungen des Proseminars I „Gregorius“ im WS 2003/04

[6] nach Beer, Ulrike: Das Gregorius- Motiv. Hartmanns von Aue „Gregorius“ und seine Rezeption bei Thomas Mann. S.10.

[7] nach Arndt, Paul Herbert: Der Erzähler bei Hartmann von Aue. Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Hg. v. Ulrich Müller, Franz Hundsnurscher und Cornelius Sommer. Göppingen: Kümmerle 1980.S.4, 5.

[8] nach Zäck, Rainer: „Der guote Sündaere“ und der „Peccator Precipuus“. Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Göppingen: Kümmerle 1989. (keine Seitenangaben möglich, da Buch nun verliehen).

[9] von Aue, Hartmann: Gregorius der gute Sünder. Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch. Stuttgart: Reclam 1963. S. 32, Vers 491.

ebenso alle nachfolgenden Angaben in (...)

[10] nach von Aue, Hartmann: Gregorius der gute Sünder. Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch. Stuttgart: Reclam 1963. S.4 – 232.

[11] Goebel, Dieter K.: Untersuchungen zu Aufbau und Schuldproblem in Hartmanns Gregorius. Philologische Studien und Quellen. Hg. v. Wolfgang Binder und Hugo Moser. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1974. S. 10.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Zu: Hartmann von Aues "Gregorius"
Hochschule
Universität Regensburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V74641
ISBN (eBook)
9783638716079
ISBN (Buch)
9783638770071
Dateigröße
442 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hartmann, Aues, Gregorius
Arbeit zitieren
Maria Schmid (Autor:in), 2004, Zu: Hartmann von Aues "Gregorius", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74641

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