Biografisierung der individuellen Handlungsorientierung


Hausarbeit, 2003

20 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Die Narrative Biographieforschung und ihre theoretischen Prämissen
1.1. Identität als leitendes Prinzip der narrativen Selbstdarstellung
1.2. Erinnerung als retrospektives Element der Selbstwahrnehmung
1.3. Erfahrung als konstitutives Element des Lebenslaufs

2. Wichtige Einflussgrößen der zeitgenössischen Biographiegestaltung
2.1. Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung Kritik an Gehlens Institutionsbegriff
2.2. Das Paradox der Individualisierung

3. Sinnverlust - Biographisierung als neuer Sinn?

4. Gestaltungsprinzipien des Lebenslaufes: Biografisierung oder Alltagsbewältigung ?

5. ArbeiterInnenbiographien: Ein generalisierbares Fallbeispiel?

6. Anstelle eines Fazit: Versuch einer analytischen Thesengenerierung

Literatur

Einleitung

„Was kann ich mit meinem Leben sinnvolles anfangen?“ ist eine Frage, die sich heutzutage besonders viele junge Menschen[1] stellen. Die Antwort liegt für die meisten nicht - und vor allem: nicht mehr - nur in der Wahl und Ausübung des vermeintlich richtigen Berufes. Die Kriterien, die der Beantwortung dieser Frage heute zugrunde gelegt werden, sind vielfältig und komplex. Die Antwort heißt nicht (mehr) einfach: „Wenn ich eigenes finanzielles Einkommen habe, kümmert mich alles Übrige nicht oder zweitrangig“. Die Fülle von möglichen Antworten, die es heute auf diese Frage gibt, und derer jede einzelne beinahe ein eigenständiges Sinnsystem voraussetzt, macht die Lage so unübersichtlich und für viele so ausweglos. Die Orientierung an der eigenen Biografie verknüpft themenübergreifend diese vereinzelten Handlungsstränge und -motivationen.

Der Themenbereich der Biographisierung erweist sich bei der Bearbeitung als außerordentlich komplex und vielfältig. Er stellt ein ideales Anwendungsfeld für nterdisziplinäre Ansätze dar, auf dem beispielsweise Einzelanschauungen aus der Soziologie, der Sozialpsychologie, der Sozialphilosophie, aber auch der Politikwissenschaft und nicht zuletzt, in Anbetracht der Verwendbarkeit sozialisationstheoretischer Analysen, der Pädagogik zur Aufklärung der Problematik beitragen.

In der vorliegenden Arbeit wird das Theoriepotential eines noch immer wenig erschlossen Forschungsfeldes umrissartig angedeutet und ansatzweise erhellt. Ziel der Arbeit ist es nicht, die historische Perspektive auszuleuchten, das heißt den Wandel von „früher war alles einfacher“ zu „heute ist alles so komplex“ zu belegen. Vielmehr wird herausgestellt, inwiefern die aktuelle Situation strukturimmanente Schwierigkeiten bei der konkreten und planerischen Orientierung individuellen Handelns innerhalb eines Lebenslaufes aufweist. Eine gelegentliche Bezugnahme auf historisierende Betrachtungen erweist sich hierbei als hilfreich.[2]

1. Die Narrative Biographieforschung und ihre theoretischen Prämissen

Im Bereich der Biographieforschung[3] zählt die Methode des narrativen Interviews zu den wichtigsten Erhebungsinstrumenten der Datenerhebung. Im Gegensatz zu offenen oder halboffenen Interviews, die mit Leitfäden arbeiten, ermöglicht diese von Fritz Schütze (1978) entwickelte Technik eine Erhebung von ohne Daten ohne Vorgabe von gesprächsbestimmenden oder thematischen Erzählrahmen. Die thematische Auswahl, die besondere Betonung einzelner Elemente sowie die subjektiv-sinnhafte Verknüpfung von Strukturen der Erzählung bleibt dem Erzählenden selbst überlassen[4]. Die Asymmetrie innerhalb der

Kommunikationsebene zwischen Forscher und Beforschtem kann sich sogar zu einer Höherstellung des Erzählenden umkehren oder aber zumindest aufheben. Der Interviewte wird auf diese Weise zum Experten seiner eigenen Darstellung und bestimmt den Verlauf des Interview sowie die Relevanz des Gesagten selbst. Aufgabe des Interviewführenden ist es, durch geschickte Fragestellung und Strategien die Erzählung in Gang zu setzten und allenfalls noch durch themenimmanente, also inhaltsbezogene Fragen („Wie kam es, dass...?“ oder „Was geschah dann?“[5]...) zu schüren. Der Erzählende unterliegt bei dieser Methode gewissermaßen einem Zugzwang, der darin besteht, das Schema der Sachverhaltsdarstellung beizubehalten. Kritisierbar ist diese Methode insofern, als der Befragte relativ schutzlos den Interessen der Befragenden ausgesetzt ist, indem er mit der subjektiv-sinnhaften Konstruktion der Erzählung die Grundzüge der eigenen Erlebniswelt preisgibt. Der Erzählende kann sich dem nur entziehen, indem er das Darstellungsschema des Erzählens verlässt und zu möglichen anderen Schemata, wie zum Beispiel dem argumentativen wechselt. Schütze nennt[6] verschiedene Zwänge, denen der Interviewte bei dieser Befragungstechnik unterliegt. Der „Detaillierungszwang“ setzt dann ein, wenn kausale oder motivationale Begründungen für die Übergänge zwischen Ereignissen nicht plausibel genug sind, der „Gestaltschließungszwang“ bewirkt, dass einmal aufgenommene

Rahmenbedingungen bei gleichzeitiger inhaltlicher (subjektiv-sinnhafter) Entleerung und motivationaler Grundlosigkeit.

Strukturen wie zum Beispiel Ereignisketten zu einem Abschluss gebracht werden müssen. Der Zwang zur Festlegung von Relevanzen[7] führt gewissermaßen zu einer Ökonomisierung der Erzählung, indem festgelegt werden muss, welche Infoformationen im Gesamtkontext relevant sind.

Erzählte Biographien können den Erzählenden als handlungsautonomen Akteur ausweisen, der gewissermaßen den Verlauf seines Lebens weitestgehend selbst festlegt. Es stellt sich in solchen Fällen allerdings immer die Frage nach der Objektivität beziehungsweise Richtigkeit der Erinnerung[8]. Gerade in Hinblick auf die Tatsache, dass lebensgeschichtliche Erinnerung weniger nur eine passive Verlebendigung des Vergangenen bedeuten kann, als vielmehr eine „aktive Rekonstruktionsarbeit“[9], kann von Verfälschungen zugunsten eines antizipierten Selbstbildes und somit letztlich zugunsten der Integrität der eigenen Identität ausgegangen werden[10].

Je mehr Verfälschungen biographische Erzählungen aufweisen, (sofern sich diese überhaupt nachvollziehen lassen,) desto naheliegender ist, dass vom Erzählenden „handlungsheteronome“[11] sozialspezifische Rahmenbedingungen, die von dem Biographieträger selbst nicht beeinflusst werden können, ausblendet werden. Biographische Erzählungen, die im Bewusstsein geringer oder nicht vorhandener Möglichkeiten der biographischen Selbstbestimmung unternommen werden und bestimmt sind von einer äußerlichen Geschehenslogik (‚Eben noch ereignete sich A, da folgte auch schon B’,) weisen verständlicher Weise den Erzählenden nicht vordergründig als handelnden Akteur aus.

1.1. Identität als leitendes Prinzip der narrativen Selbstdarstellung

Einen etwas reduzierten Identitätsbegriff verwenden Clemens Tesch-Römer und Michael Chapman, da Identität für sie „das Bild einer Person von sich selbst in der Welt [ist], das sie sich selbst und der Welt präsentiert.“[12] In dieser Definition schwingt allerdings die Vorannahme mit, dass Individuen biographisches Wissen und Erinnerungen an ihre eigene Lebensgeschichte, zu einem zusammenhängenden Gesamtbild integrieren und das dies überhaupt möglich ist.

Lewis Konzept der Identität setzt voraus, dass der Beurteilende sich bei der rückblickenden Beurteilung der eigenen Biographie für identisch hält mit dem handelnden Subjekt seiner Erinnerungen[13].

1.2. Erinnerung als retrospektives Element der Selbstwahrnehmung

Erinnerungen als wesentliches Element bei der retrospektivischen Bewertung der eigenen Biographie sind keine Konstanten. Erinnerungen verändern sich, nicht zuletzt natürlich, da sie fortwährend vom Vergessen belagert sind.

Und somit unterliegen die individuellen Ergebnisse der Retrospektive möglicherweise

- vergleicht man sie über einen längeren Zeitraum hinweg - Änderungen, die sich zu einander möglicherweise konträr verhalten und die daher keine einheitliche und handlungsmotivierende Ableitung für zukünftige Entscheidungen ermöglichen. Wer hat nicht schon einmal die Erfahrung gemacht, eine Situation im Nachhinein völlig anders zu bewerten oder sich zu fragen, wie man eine zurückliegende Entscheidung ‚so’ und nicht anders hatte treffen können und gar müssen. Hier spielt dann freilich die Wirkung der Erfahrung als entscheidungsorientierendes Element der Lebensgestaltung eine wichtige Rolle.

1.3. Erfahrung als konstitutives Element des Lebenslaufs

Erfahrung kann die Funktion individueller sozialer Orientierung leisten. Doch Orientierung verliert ihren Sinn als Handlungsressource, wenn kein Bezug zu einer erwarteten Zukunft hergestellt werden kann; ohne Vergangenheitsbezug verliert sie gleichsam ihren Bezug zur Realität. Bereits gewonnene Typen von Erfahrungen werden immer dabei gleichzeitig bestätigt beziehungsweise modifiziert, das heißt sie werden neu bewertet und dadurch reproduziert oder transformiert. Die Problematik der Erfahrungsreproduktion und -transformation fasst Erika Hoerning treffend zusammen, indem sie davon ausgeht, dass sich für jeden Menschen im Lauf des Lebens „sowohl der Erfahrungstypus als auch die Erfahrungsinhalte verändern“[14]. Für kurze Zeit entsteht dann der Eindruck, dass alles, „was er [der Mensch] bis zum Zeitpunkt der Umwälzung gelernt hat, […] nicht mehr verwertbar“[15] zu sein scheint. Doch fügt sie ergänzend hinzu, dass weder persönliche noch historische Veränderungen vollkommen anschlußlos bleiben, „denn jede neue Struktur baut auf eine vorangegangene auf. […] Sozialisation im Lebenslauf heißt dann nicht nur, dass das Individuum in die Gesellschaft von entsprechenden Sozialisationsagenten (Eltern, Lehrer Ausbilder, Vorgesetzte, Richter, Ärzte und andere) einsozialisiert wird, sondern […], dass die eigene Lebensgeschichte bei allen Sozialisationsprozessen quasi als ‚Sozialisationsagent mit in Erscheinung tritt.“[16]

Bereits Goethe hat die Problematik der wahrheitsgetreuen Darstellung und objektiven Bewertung des gelebten eigenen Lebens thematisiert, unter anderem in einem Brief an Zelter vom 15. Februar 1830 über die Paradoxie des Titels „Dichtung und Wahrheit“: Es geht um das

„...Bestreben, das eigentliche Grundwahre […] möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung, und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt, gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar, daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde.“[17]

Goethe verleiht hiermit der Schwierigkeit Ausdruck, den „Generationenunterschied in der eigenen Person“[18] kognitiv zu verarbeiten, die besonders häufig beim Schreiben von autobiographischen Texten, aber auch in erzählten Lebensläufen auftritt. Bei der Methode des narrativen Interviews, das als Instrument der empirischen Biographieforschung häufig angewandt wird, muss diese Problematik immer mitreflektiert werden.

[...]


[1] Wenn hier und im Folgenden verallgemeinernd von den ‚jungen Menschen heutzutage’ die Rede ist, so ist im Wesentlichen die große und noch immer anwachsende Gruppe von Gebildeten und Bildungsnahen, denen kognitive und intellektuelle Möglichkeiten des Zugang zu derartigen universalen Fragestellungen erschlossen ist.

[2] Als wichtiges Antezedenz sei hier noch knapp auf die nachfolgende Verwendung des Modernitätsbegriffs hingewiesen, der - sofern nicht ausdrücklich gekennzeichnet - nichts Geringeres, aber auch nicht mehr bezeichnet als die Formalisierung der lebensweltlichen

[3] Alheit, 1985 4, 219f

[4] Alheit, 1985 2, 85f

[5] ebd., 89

[6] Schütze, 1978, 1

[7] ebd., 14

[8] vgl. Hoerning, 1989, 148-163

[9] ebd., 151

[10] Clemens Tesch-Römer und Michael Chapman gehen von der These aus, dass individuelle Identität als typologisches Projekt mit Lebenszeitperspektive entworfen und verinnerlicht wird. Die Bewertung biographischer Erinnerung bleibt schließlich gebunden an das Projekt einer narrativ rekonstruierbaren Identität. vgl. Tesch-Römer/Chapman, 1989, 169ff

[11] Alheit, 1985, 221

[12] Tesch-Römer/Chapman, 1989, 164

[13] Diese Annahme formuliere ich analog zu David Lewis These, dass jeder bestehende mentale Zustand von den (mentalen) Vorzuständen direkt kausal abhängt. vgl. Lewis, 1976, 17

[14] Hoerning, 1989, 161

[15] ebd.

[16] ebd.

[17] Goethe, 1908, Abt. IV/46, 241f

[18] Kuczynski, 1989, 30

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Biografisierung der individuellen Handlungsorientierung
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Sozialwissenschaftliche Fakultät Göttingen)
Veranstaltung
Zur Konstitution der moderne Biografie
Note
1,8
Autor
Jahr
2003
Seiten
20
Katalognummer
V18647
ISBN (eBook)
9783638229456
ISBN (Buch)
9783638758826
Dateigröße
578 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Biografisierung, Handlungsorientierung, Konstitution, Biografie
Arbeit zitieren
Thomas Schröder (Autor:in), 2003, Biografisierung der individuellen Handlungsorientierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18647

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