Zu George Orwells '1984'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

43 Seiten, Note: 1


Leseprobe


1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der 1949 publizierten Dystopie „1984“ von George Orwell[1], welche nicht nur zu den meistgelesenen, sondern auch zu den am kontroversesten diskutierten Büchern der Weltliteratur zählt.

In Kapitel zwei werde ich darlegen, welche Intention der Zeit seines Lebens politisch denkende und schreibende Orwell mit seinem letzten Roman verfolgte.

Um dem Leser einen besseren Überblick hinsichtlich der textimmanenten Analyse zu geben, werde ich in Kapitel drei Aufbau und Handlung des Romans in einer Kurzzusammenfassung vorstellen.

Eines der zentralen Anliegen Orwells war es, zu zeigen, wie ausgehend von der politischen und sozialen Weltlage zur Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts eine post-totalitäre Schreckensherrschaft weltweit die Macht ergreift. Die historische Entwicklungsgeschichte des Systems, sowie Fundament und Struktur der Herrschaft, werden im vierten Kapitel dieses Aufsatzes erörtert.

Bei der Untersuchung von „1984“ als moderner Anti-Utopie ist dem Aspekt Rechnung zu tragen, dass Orwell mit seinem Entwurf der autoritär-etatischen Utopie-Tradition eine radikale Absage erteilt. Daher ist meine Vorgehensweise wie folgt: Parallel zu der Analyse des sozio-politischen Systems werde ich in den jeweiligen Kapiteln herausarbeiten, wie der Autor die Menschheit vor den dem utopischen Gedankengut immanenten totalitären Tendenzen, welche erst in der jüngsten Vergangenheit so verheerende Wirkung gezeigt hatten, warnt.

In Kapitel fünf werde ich den hierarchischen Staatsaufbau und die Funktion der einzelnen Glieder des dystopischen Leviathans rekonstruieren. Kapitel sechs schildert den metaphysischen Überbau des Regimes. Um das Ich-Bewusstsein des Individuums durch das Kollektivbewusstsein zu ersetzen, muss der menschliche Geist manipuliert und durch den verinnerlichten gesellschaftlichen Zwang kontrolliert werden.

In Übereinstimmung mit James Burnham sah Orwell im modernen Totalitarismus, verkörpert in Form des oligarchischen oder bürokratischen Kollektivismus, eine weltweite Gefahr. Kapitel 7, in dem ich das internationale System und den permanenten Kriegszustand untersuche, ist damit von elementarer Bedeutung für das Verständnis des Romans.

Kapitel neun beschäftigt sich mit der Macht als pervertierendem Faktor, durch den der Glaube an die emanzipatorische Vernunft diskreditiert wurde. Das psychologische Profil der Täter, die sich offiziell als Retter der Menschheit sehen, sich aber ebenso darüber im Klaren sind, dass ihr ideales Gemeinwesen ein System des „kontrollierten Wahnsinns“ ist, bildet die Voraussetzung für die abschließende Betrachtung der drei gesellschaftspolitischen Grundprobleme.

Bei der Bearbeitung des Themas war der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich bei „1984“, wie Orwell selbst zu bedenken gab, um eine dystopische Satire handelt.

2. Intention und Rezension des Werkes

Eingangs möchte ich darauf hinweisen, dass Orwells „1984“ wie kaum eine andere Utopie der Weltliteratur aus verschiedenen Perspektiven beziehungsweise mit unterschiedlicher Akzentuierung zentraler Aspekte interpretiert wurde. Ich denke (und das ist auch der Tenor der neueren Forschung), dass Orwells literarische Berufung und sein politisches Bewusstsein und Engagement eine Einheit bilden. Seine Werke tragen unbestritten autobiografische Züge. Dies gilt insbesondere für „1984“, das letzte und wohl berühmteste Buch des Autors, welchem testamentarischer Charakter zugeschrieben wird.

2.1. Orwell ein politischer Schriftsteller

Wie Orwell erklärte, ist für einen Schriftsteller der Gegenstand seiner Kunst bestimmt durch die Epoche, in der er lebt, zumindest wenn es sich um ein so unruhiges, revolutionäres Zeitalter handelt wie das seine.

“In a peaceful age I might have written ornate or merely descriptive books, and might have remained almost unaware of my political loyalties. As it is I have been forced into becoming a sort of pamphleteer.”[2]

In der Tat bezeugen Leben und Werk Orwells seine intensive Auseinandersetzung mit den bestimmenden Kräften des Zwanzigsten Jahrhunderts.

“I write because there is some lie that I want to expose, some fact to which I want to draw attention, and my initial concern is to get a hearing.”[3]

Vor allem drei persönliche Erfahrungen in seiner bewegten Biographie formten Verständnis, Weltsicht und schriftstellerische Ambition Orwells, der neben neun Romanen siebenhundert Essays und Artikel verfasste.[4]

Nach seinem Collegeabschluss in Eton diente Orwell fünf Jahre in der britischen ‚Indian Imperial Police’ in Burma. Er wurde Zeuge der dort herrschenden Missverhältnisse und war bald von den Methoden der Kolonialmacht angewidert. Die der imperialistischen Geisteshaltung nach legitime Ausbeutung und Erniedrigung der einheimischen Bevölkerung widersprach seinem Gerechtigkeitsempfinden. Orwells lebenslanger Hass auf den Imperialismus und seine Einsicht in die Psychologie der Unterdrücker spricht aus vielen seiner Werke.

Als besonders prägend sind auch die Jahre anzusehen, die Orwell als mittel- und erfolgloser Gelegenheitsarbeiter in den Proletariervierteln von London und Paris verbrachte. Er erlebte am eigenen Leib die erniedrigende Unfreiheit, die mit der Armut einhergeht. Das durch diese Erfahrung geschärfte Bewusstsein für Existenz und Bedeutung der Arbeiterklasse fand in seinen literarischen und journalistischen Schriften weitreichenden Niederschlag.

Den entscheidenden, wegweisenden Wendepunkt in Orwells Leben stellen zweifelsohne die seine Weltsicht erschütternden Erfahrungen während des Spanischen Bürgerkrieges dar. Sie bestimmten definitiv Orwells politischen Standort und literarische Berufung und ließen ihn zu dem ‚Mahner’ und ‚Warner’ werden, als der er in die Geschichte einging.

“The Spanish war and other events in 1936-37 turned the scale and thereafter I knew where I stood. Every line of serious work that I have written since 1936 has been written, directly or indirectly, against totalitarianism and for democratic socialism, as I understand it.”[5]

Waren zuvor Imperialismus und Faschismus die Hauptübel, welche es für Orwell zu bekämpfen galt, enthüllten sich ihm in Barcelona der russisch geführte kommunistische Terror und seine Methoden der bewussten Täuschung. 1936 kämpfte Orwell in der heterodox marxistischen POUM-Miliz gegen das faschistische Franco-Regime. Die Moskauhörige spanische KP richtete ihre totalitären Methoden jedoch auch gegen ihre eigentlichen Verbündeten, die Anarchisten und demokratischen Sozialisten. Diese wurden als trotzkistisch-francistische Verräter diffamiert und durch die Strassen Barcelonas gejagt.

Orwell, Zeit seines Lebens Verfechter früh-sozialistischer Ideale, erkannte, dass Faschismus und Kommunismus nur zwei unterschiedliche Erscheinungsformen des Totalitarismus waren, dessen Ausbreitung eine friedliche, humane Zukunft der Menschheit verhindern würde.

Nur knapp der Liquidierung entkommen, musste Orwell entsetzt feststellen, dass die britische Presse die Ereignisse, deren Augenzeuge er war, nicht wahrheitsgemäß kolportierte, sondern zugunsten der kommunistischen Seite verfälschte. Angesichts der weit verbreiteten unkritischen Haltung der westlichen Intelligenzija gegenüber Stalin fürchtete er, diese könnte endgültig den Lockungen totalitären Gedankenguts erliegen.

2.2. “1984”: Interpretation und historischer Kontext

Orwell ging es, wie aus dem vorangegangenen Kapitel deutlich geworden ist, de facto nicht um abstrakte politische Philosophie. Der generellen Sichtweise der neueren Utopie-Forschung zufolge ist „1984“ zum Einen eine Gegenwartsanalyse, auf der Basis persönlicher Wahrnehmung und Erfahrung, zum Anderen eine Schreckens-Version der Zukunft, die eintreten könnte, falls der Totalitarismus weltweit triumphiert.[6]

Faschismus, Nationalsozialismus und der real existierende Sozialismus hatten der Welt die nicht zu überschätzende Gefahr demonstriert, die von der Realisierung autoritär-etatistischer Utopien ausgeht. Ebenso wie Samjatin und Huxley suchte Orwell in „1984“ die strukturellen Defizite der autoritären Staats- bzw. Ordnungsutopien durch deren Selbstentlarvung deutlich zu machen.[7]

Nicht nur die dem Werk immanente Vielschichtigkeit und die Tatsache, dass das Opus unabhängig von der ursprünglichen Intention des Künstlers diverse Deutungsmöglichkeiten zulässt, sondern auch der historische Kontext zum Zeitpunkt der Veröffentlichung führten zu einer äußerst kontroversen Auslegung von „1984“. Im Zuge des beginnenden Kalten Krieges wurde das Buch allen voran von US-amerikanischer Seite als ideologische Waffe gegen das Sowjet-Regime instrumentalisiert und als fundamental anti-sozialistisch interpretiert. Mit dieser einseitigen Auslegung seines Werkes fühlte sich Orwell grundlegend missverstanden, was ihn dazu veranlasste, selbst zahlreiche eindrückliche Statements bezüglich der „1984“ zugrundeliegenden Intention abzugeben.

„My recent story is not intended as an attack on socialism or on the British Labour Party (of which I am a supporter) but as a show up of the perversions to which a centralized economy is liable and which have already been partly realized in Communism and Fascism. I do not believe that the kind of society I describe necessarily will arrive, but I believe (allowing of course for the fact that the book is satire) that something resembling it could arrive. I believe also that totalitarian ideas have taken root in the minds of intellectuals everywhere, and I have tried to draw these ideas out to their logical consequences. The scene of the book is laid in Britain in order to emphasize that the English-speaking races are not innately better than anyone else and that totalitarianism, if not fought against, could triumph anywhere.”[8]

Von linker Seite wurde dem Roman, da er den Ruf des Sozialismus und Kommunismus zu schädigen drohte, der politische Wahrheitsgehalt abgesprochen. Orwells warnende Botschaft wurde personalisiert und psychologisiert.[9] Man deutete das Werk als Ausfluss der persönlichen Frustration des schwer tuberkulose-kranken Autors und unterstellte ihm, sein eigenes Leid hätte ihn zu einer düsteren Gesellschaftssatire veranlasst. Mag Orwells Agonie die Entstehung von „1984“ auch mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst haben, so lassen sich doch meiner Ansicht nach die diversen impliziten wie expliziten Hinweise auf den Horror des stalinistischen Despotismus nicht ignorieren. Es ist nicht zu leugnen, dass eine tiefe Desillusionierung hinsichtlich der Realisierbarkeit des utopischen Sozialismus Niederschlag in diesem letzten Werk Orwells gefunden hat. Ebenso wie der Nationalsozialismus stellte das sowjetische Regime nach dem Scheitern des bolschewistischen Experiments ein historisches Vorbild für die in „1984“ geschilderte, post-totalitäre Schrecksherrschaft dar. Durch die eindeutigen Parallelen zu diesen abschreckenden Beispielen unmenschlicher Barbarei intendierte Orwell, auf die Bedrohung, die von solchen Systemen ausgeht, aufmerksam zu machen.

3. Aufbau und Handlung des Romans

Die Geschichte ist aus der Perspektive der ‚Dritten Person’ erzählt und spielt, wie der Titel sagt, im Jahre 1984. Der Schauplatz des Geschehens ist England beziehungsweise London, welches zu dieser Zeit die Bezeichnung „ Landefeld Eins “ trägt und zum Kernland der Supermacht „ Ozeanien” gehört.[10]

Der Protagonist des Romans, um den herum die gesamte Handlung aufgebaut ist, heißt Winston Smith. Orwell fokussierte sich ganz bewusst auf diesen zum Scheitern verurteilten Helden, in dessen Welt der Leser versetzt wird. Die übrigen Charaktere und soziale Interaktionen erscheinen eher skizzenhaft, wodurch zum Ausdruck gebracht wird, wie gleichförmig das Leben 1984 ist. Der Autor stellte den Kampf des Individuums gegen den allmächtigen totalitären Staatsapparat in den Vordergrund. Persönlichkeit, Charakter und Schicksal der Haupt- beziehungsweise Identifikationsfigur sind daher von elementarer Bedeutung für das Verständnis des Romans.

Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Die Handlung beginnt, als Winston kritische Gedanken gegen die Parteidiktatur entwickelt. Im ersten Part erfährt der Leser durch die detaillierte, naturalistische Schilderung der Lebensumstände des Protagonisten Winston Smith, wie die Welt von „1984“ aussieht. Es ist eine totalitäre Welt, in der eine winzig kleine Oligarchen-Riege alles kontrolliert, sogar die Gedanken und Gefühle der Bürger. Der Roman geht von einem internationalen System aus, das in drei große Machtblöcke zerfällt, die sich in einem permanenten Kriegszustand befinden. Winston, der noch vor der Revolution geboren wurde, ist Mitglied der Äußeren Partei und arbeitet im „ Ministerium für Wahrheit “, wo er damit befasst ist, Berichte und Zeitungsartikel der Parteidoktrin entsprechend umzuschreiben.

Im zweiten Teil des Buches geht es vor allem um die Entwicklung der Liebes-Affäre zwischen Winston und Julia, einer Parteigenossin, die ebenfalls revolutionärer Gesinnung ist. Für kurze Zeit gelingt es ihnen, sich eine eigene Welt zu schaffen, wo sie ihre Gefühle und menschlichen Triebe ausleben, sprich, sie selbst sein können. Das Paar vertraut sich O’Brien, einem Mitglied des inneren Parteikaders, an, den Winston ebenfalls für einen Dissidenten hält. Dieser nimmt sie scheinbar in die Widerstandsgruppe „ Die Bruderschaft “ auf und händigt Winston das von Emanuel Goldstein, dem Begründer und Anführer der Rebellen-Bewegung, verfasste Buch „ Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus “ aus. Aus der Lektüre erfahren Winston beziehungsweise der Leser, wie das System en detail funktioniert. An dieser Stelle ist anzumerken, dass es sich hierbei sozusagen um ein Buch im Buch handelt, welches ungefähr zehn Prozent der gesamten Novelle ausmacht. Es ist anzunehmen, dass Orwell diesen Kunstgriff wählte, um sachlich, präzise und direkt über Ideologie, Gesellschaftsstruktur und Herrschaftsmethoden einer totalitär-hierarchischen Welttyrannei aufzuklären.

Bevor Winston Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ findet, wird er verhaftet. Er war O’Brien, in Wahrheit einer der Chef-Inquisitoren der Inneren Partei, der Winston schon seit sieben Jahren als potentiellen Regimegegner überwachte, in die Falle gegangen.

Im Zentrum des dritten Teils steht die Bestrafung Winstons. Unter der von O’Brien geleiteten psychischen und physischen Folter lernt er am eigenen Leib das Wesen der Macht kennen und versteht, dass Macht in der totalitären Diktatur nicht Mittel, sondern Endziel ist. Für das Individuum gibt es letzten Endes kein Entrinnen, in der Schlüsselszene wird Winston dazu gebracht, dies zu akzeptieren. Der dystopische Held wird entmenschlicht und gebrochen, aber als konformes Parteimitglied in den totalitären Alltag entlassen.

4. Der Oligarchische Kollektivismus Ozeaniens

Goldsteins Buch, welches Orwell – wie bereits erwähnt – als Sprachrohr benutzt, beschreibt retrospektiv die historische Entwicklung, die zur Gesellschafts- bzw. Weltordnung, wie sie 1984 vorherrscht, führte.

4.1. Der Ursprung: Scheitern des utopischen Ideals

In dieser Schilderung nennt Orwell explizit Gründe für den dialektischen Umschwung von den klassischen Sozialutopien zu den nach den Zwanziger Jahren dominierenden negativen oder schwarzen Utopien, in deren Tradition er seinen Roman „1984“ sah.

Betrachtet man die Evolution von Mensch und Gesellschaft, so zeigt sich, dass sich Geschichte als Geschichte von Kämpfen um Macht konstituiert.

„Von Anbeginn der geschichtlichen Überlieferungen (…) gab es auf der Welt drei Arten von Menschen: die Oberen, die Mittleren und die Unteren (…) die Grundstruktur hat sich nie gewandelt.“[11]

Stets versuchten die Oberen ihren Machtanspruch und damit die Ungleichheit der Menschen festzuschreiben, während „die Mitte unter dem Banner der Gleichheit“[12] und durch Mobilisierung der Unterschicht Revolutionen führte. Sobald allerdings die alten Machthaber gestürzt waren, schwangen sich die ehemals so egalitär gesonnnen Mittelgruppen selbst zur Herrschaftselite auf und errichteten eine neue Tyrannei, um ihre Position zu sichern.

Auf Grund des technischen Fortschritts war seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen faktisch möglich geworden. Obwohl das utopische Ideal eines „irdischen Paradieses“ greifbar nah schien, wurde es dennoch nicht realisiert, sondern diskreditiert. Dies gilt in der politischen Utopienforschung als eine der entscheidenden Ursachen für den Umschlag zur Dominanz negativer Utopien.

Ein wesentliches Element der klassischen Sozialutopie war deren Hoffnung auf eine emanzipatorische Funktion des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts.[13] In der Entfaltung der industriellen Produktivkräfte sah man den Schlüssel zur Lösung des Verteilungsproblems. Durch die Hebung des allgemeinen Lebensstandards würde die Menschheit endlich aus Elend und Verdummung befreit werden. „Aber es war ebenfalls klar, dass ein allgemein wachsender Wohlstand die Fortdauer einer hierarchischen Gesellschaft bedrohte, ja, in gewissem Sinne ihren Untergang bedeutete.“[14] Die Machthabenden taten folglich alles, um die Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen für eine gerechte Verteilung zu verhindern. Der emanzipatorische Anspruch wurde in sein Gegenteil verkehrt, Wissenschaft und moderne Technik wurden von totalitären Regimes usurpiert, um die Ungleichheit zu manifestieren.

„(…) im vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts waren alle Hauptströmungen politischen Denkens autoritär. (…) Jede neue politische Theorie, welchen Namen sie sich auch geben mochte, führte zurück zur Hierarchie und Reglementierung. Und im Zuge der um das Jahr 1930 allgemein einsetzenden politischen Verhärtung wurden lange, in manchen Fällen seit Hunderten von Jahren aufgegebene Praktiken – wie Inhaftierung ohne Prozess, die Verwendung von Kriegsgefangenen als Arbeitssklaven, öffentliche Hinrichtungen, Folterung zwecks Geständniserpressung, Geiselnahme und Deportation ganzer Bevölkerungen – nicht bloß allgemein wieder eingeführt, sondern auch von Leuten toleriert und sogar verteidigt, die sich für aufgeklärt und fortschrittlich hielten.“[15]

4.2. Das theoretisch-ökonomische Fundament

Die staatstragende Ideologie des Oligarchischen Kollektivismus Ozeaniens trägt die Bezeichnung „ Engsoc “, was für „Englischer Sozialismus“ steht.

Nach der revolutionären Dekade Mitte des 20. Jahrhunderts traten weltweit „ Engsoc “ und seine Rivalen, der „ Neo-Bolschewismus “ Eurasiens sowie der „ Todeskult “ in Ostasien, als fertig ausgearbeitete politische Theorien in Erscheinung. Sie entwickelten sich ausgehend von den totalitären Regimes, welche in den Dreißiger und Vierziger Jahren dominant waren.

„Der Sozialismus, eine Theorie, die im frühen Neunzehnten Jahrhundert auftauchte und das letzte Glied in der Gedankenkette bildete, die zu den Sklavenaufständen der Antike zurückreichte, war noch stark infiziert vom Utopismus früherer Epochen. Doch in jeder seiner nach dem Jahr 1900 auftauchenden Varianten ließ der Sozialismus das Ziel, Freiheit und Gleichheit zu schaffen, immer offener fallen. Die neuen Bewegungen, die um die Jahrhundertmitte auftraten – Engsoc in Ozeanien, Neo-Bolschewismus in Eurasien, Todes-Kult in Ostasien -, hatten das erklärte Ziel, Unfreiheit und Ungleichheit fortbestehen zu lassen. Diese neuen Bewegungen erwuchsen natürlich aus den alten und waren bestrebt, deren Namen beizubehalten und ihren Ideologien Lippenbekenntnisse zu zollen. Doch sie hatten zum Ziel, den Fortschritt anzuhalten und die Geschichte in einem ganz bestimmten Moment einzufrieren. (…) Diesmal würden die Oberen durch eine gezielte Strategie ihre Position dauerhaft behaupten können.[16]

Aus diesen Zeilen spricht, wie dies im Übrigen für viele zentrale Passagen des Romans zutrifft, Orwells tiefe Desillusionierung hinsichtlich des real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion. Durch die bolschewistische Oktoberrevolution 1917 war letztendlich doch kein wirklicher Wandel der gesellschaftlichen Struktur herbeigeführt worden. James Burnham, dessen 1941 erschienenes Buch „Das Regime der Manager“ Orwell nachhaltig beeinflusste, beschrieb die Verhältnisse wie folgt:

„Von den drei entscheidenden Merkmalen der sozialistischen Gesellschaft – Klassenlosigkeit, Freiheit und Internationalität – ist Russland heute unermesslich viel weiter entfernt als während der ersten Jahre der Revolution.“[17]

In „1984“ übernimmt Orwell Burnhams Hauptthese, dass den kranken Kapitalismus nicht der utopische Sozialismus beerben werde, sondern eine neue, auf Kollektiveigentum basierende Ausbeutergesellschaft von technokratischen Managern. In der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland waren Vorformen dieser neuen Gesellschaftsordnung zu erkennen.

In Orwells dystopischem Entwurf verläuft die Entwicklung folgendermaßen: Die geistigen Väter des „Engsoc“ hatten aus der zyklischen Bewegung der Geschichte und aus den Fehlern früherer Diktaturen gelernt. Sie hatten erkannt, dass es für die Oligarchie, die sie in den Jahren nach der Revolution begründeten, „nur eine sichere Basis gab: den Kollektivismus“[18]. Denn „Wohlstand und Privilegien lassen sich am leichtesten verteidigen, wenn sie Gemeinschaftsbesitz sind“[19].

Die Abschaffung der privaten Eigentumsverhältnisse, mittels derer sich die Parteioligarchie mühelos die Herrschaft aneignen konnte, diente nur der Befestigung der sozialen Ungleichheit. Die Partei sicherte auf diese Weise den Fortbestand der hierarchischen Gesellschaftsordnung im Interesse ihres eigenen absoluten Machtanspruchs.

Das Ziel des oligarchischen Kollektivismus ist daher auch keinesfalls Produktionssteigerung, sondern die Verallgemeinerung des materiellen Mangels. Der Notstand dient vor allem dazu, das Volk weiterhin unmündig zu halten. Durch Armut verdummt und abgestumpft kann es sich nicht heranbilden und lernen selbstständig zu denken. Die breite Masse ist mit der bloßen Existenzsicherung beschäftigt und durch Propaganda und Unterhaltung zu befriedigen. Hier wird evident, warum die Partei „Unwissenheit ist Stärke“ als eine ihrer Parolen ausgibt. Der systematisch herbeigeführte allgemeine Verknappungszustand wird den Bürgern gegenüber durch die staatlich propagierte kollektive Ethik des Verzichts getarnt.

[...]


[1] geb. Eric Arthur Blair; vgl.: Biography. Availabel Online: http://www.k-1.com/Orwell/index.cgi/about/biography.html#top [02.08.2003]

[2] Orwell, George: “Why I write”. 1947. Available Online: http://www.k-1.com/Orwell/index.cgi/work/essays/write.html [10.07.2003]

[3] ebenda: Available Online: http://www.k-1.com/Orwell/index.cgi/work/essays/write.html [10.07.2003]

[4] ebenda: Available Online: http://www.k-1.com/Orwell/index.cgi/work/essays/write.html [10.07.2003]

[5] ebenda: Available Online: http://www.k-1.com/Orwell/index.cgi/work/essays/write.html [12.07.2003]

[6] vgl.: Kumar, Krishan: “Utopia and Anti-Utopia in Modern Times”. Oxford: Basil Blackwell, 1987; S. 288 ff

[7] vgl. zu diesem Thema: Saage, Richard: „ Innenansichten Utopias “. Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens. Duncker und Humblot: Berlin, 1999

[8] Letter to Francis A Henson of the UAW, 16 June 1949, CEJL, vol. IV, p. 564. Zitiert in: Kumar, Krishan (1987); S.290

[9] vgl. zur Rezensionsgeschichte auch: Kahrmann, Bernd: George Orwells Nineteen Eighty Four (1949), in: „ Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart “. Hrsg. v. Klaus L. Berghahn und Hans Ulrich Seeber, 2. Auflage, Königstein/Ts., 1986; S. 233-249.

[10] Zitiert wurde nach folgender Edition: Orwell, George: „1984“. Hrsg. v. Herbert Franke, 23. Auflage, München: Ullstein Taschenbuchverlag, 2002

[11] Orwell, George: „1984“; S. 242

[12] ebenda; S. 244

[13] Saage, Richard: „ Politische Utopien der Neuzeit “. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991; S. 268 ff

[14] Orwell, George: „1984“; S. 229

[15] ebenda; S. 246

[16] Orwell, George: „1984“; S. 244, 245

[17] Burnham, James: „ Das Regime der Manager “. Stuttgart: Union, Deutsche Verlagsgesellschaft, 1948; S. 61

[18] Orwell, George: „1984“; S. 248

[19] ebenda: S. 248

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Zu George Orwells '1984'
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Hauptseminar Politische Utopien
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
43
Katalognummer
V22856
ISBN (eBook)
9783638261005
ISBN (Buch)
9783638742900
Dateigröße
985 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
George, Orwells, Hauptseminar, Politische, Utopien
Arbeit zitieren
Miriam Helisch (Autor:in), 2003, Zu George Orwells '1984', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22856

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