Unsichtbare Hand, natürlicher grammatischer Wandel und Sprachökonomie. Beiträge zu Theorien des Sprachwandels von Keller und Wurzel


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

47 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

0. Einleitung

1. Grundsätzliches zum Sprachwandel
1.1 Was verändert sich? – Versuch einer Definition von »Sprachwandel«
1.2 Mit welcher Geschwindigkeit und innerhalb welcher Grenzen vollzieht sich der Sprachwandel in den einzelnen Subsystemen?
1.3 Warum verändern sich Sprachen? – Sprachsysteminterne und sprachsystemexterne Erklärungsmuster

0. Einleitung

»Das Phänomen des Sprachwandels erregt wahrscheinlich stärkere öffentliche Aufmerksamkeit und Kritik als jede andere linguistische Frage« (Crystal 1995, S.4). Dabei fällt auf, dass Sprachwandel »in allen Kulturnationen und über alle Zeiten hinweg: von Platon über Quintilian und Rousseau bis hin zu Kemal Pascha, Helmut Kohl oder Prinz Charles« (Keller 2002, S.1) immer wieder mit Sprachverfall gleichgesetzt wird.

Dieser vermeintliche Verfall der Sprache wird dabei an durchaus unterschiedlichen Erscheinungen festgemacht. So zeigt sich beispielsweise Prinz Charles angesichts der »zunehmenden Verunreinigung der britischen Variante des Englischen durch die amerikanische« besorgt (ebd.), während wiederum andere (bezogen auf das Deutsche) den Abbau der starken Verbkonjugation oder den Rückgang des Konjunktiv II beklagen. Insgesamt betrachtet ist die vorherrschende Meinung in Bezug auf Sprachwandel – so Keller - häufig folgende: »Der gegenwärtige Zustand meiner Sprache ist der korrekte, gute und schöne und von nun an geht´s rapide bergab« (ebd. S.2).

Einigkeit besteht im allgemeinen auch, wenn es darum geht, die Schuldigen dafür zu bestimmen, dass »die deutsche Sprache in akuter Gefahr ist [] und verludert«. In den allermeisten Fällen sind es die »Flut der „neuen“ Medien und die Schule« (ebd. S.1), die genannt werden, wenn es zu erklären gilt, warum der deutschen Sprache »irgendetwas unermesslich Zerstörendes [...] widerfährt«, oder auch warum die heutige Sprache, »wie sie über den Rundfunk oder im deutschen Bundestag gesprochen wird [...] nicht mehr die Sprache Goethes, Heines oder Nietzsches, [...] nicht einmal mehr die Sprache Thomas Manns« ist (G. Steiner 1960, zit. n. Linke u.a. 1996, S. 381).

Während G. Steiner sich vornehmlich über den „ästhetischen“ Verfall der deutschen Sprache beklagt, befürchtet der „Verein Deutsche Sprache e.V.“ (VDS) darüber hinaus sogar verheerende gesellschaftliche Konsequenzen des Sprachwandels. Die »in den deutschsprachigen Ländern [...] besonders weit fortgeschrittene« »Anglisierung und Amerikanisierung der Landessprachen [...] beeinträchtigt« - so der VDS - nicht nur die Fähigkeit sowie »Bereitschaft unserer Kinder und Enkel, die deutsche Sprache weiterhin schöpferisch zu nutzen und die Wirklichkeit mit ihrer Hilfe treffsicher zu bezeichnen«. Nein: Wenn »wir nicht nur in den privaten, sondern sogar in den öffentlich-rechtlichen Medien aus gedankenloser Effekthascherei mit Amerikanismen und Anglizismen traktiert werden«, so führt dies – so der VDS – auch dazu, dass »ganze Bevölkerungsgruppen durch die Mischmaschsprache „Denglisch“ vom sozialen Leben ausgegrenzt werden«, sich »Verständigungs- und Eingliederungsprobleme« ergeben, die bis hin zur sprachlichen Diskriminierung entgegen Artikel 3, Absatz 3 unseres Grundgesetzes („Niemand darf wegen (...) seiner Sprache (...) benachteiligt (...) werden.“)« reichen (VDS 2004, S.1f.).

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund solcher Einlassungen ist meiner Meinung nach Wurzel zuzustimmen, wenn er anmerkt, dass Interesse der Linguistik habe in den letzten Jahren »erfreulicherweise wieder zugenommen«, und darauf hinweist, dass die inzwischen vorliegenden - recht unterschiedlichen - »Wandel-konzeptionen« (Wurzel 1997, S.295) jeweils einen konstruktiven und wertvollen Beitrag zu einer „Theorie des Sprachwandels« darstellen, »die diese Bezeichnung wirklich verdient« (Wurzel 1988, S.510).

Wenn Wurzel von einer Sprachwandeltheorie spricht, die tatsächlich mit Recht als eine solche bezeichnet werden kann, so ist in dieser Formulierung - zumindest implizit – eine Absage an die aus linguistischer Sicht nicht haltbaren Sprachverfalls-Theorien enthalten. Darüber hinaus weist er damit aber auch auf eine (weiterhin fortbestehende) Aufgabe der Sprachwandelforschung hin (vgl. a. Keller 1982, S.1). Denn so wertvoll die Theorie der unsichtbaren Hand in der Sprache (Keller 1982/1990), der Ansatz der Sprachökonomie (u.a. Werner 1991) oder das Konzept des natürlichen grammatischen Wandels (Wurzel 1975/1984) auch sein mögen, die genannten Ansätze sind - jeweils für sich allein betrachtet – nicht in der Lage, sprachlichen Wandel in allen seinen Erscheinungen in angemessener Weise zu erklären. Insbesondere Wurzel (1997), aber auch Keller (1993) und Werner (1989) haben in diesem Zusammenhang jedoch darauf hingewiesen, dass eine systematische Verknüpfung ihrer Ansätze – nicht zuletzt wegen der verschiedenen Schwerpunktsetzungen – nicht nur möglich, sondern auch theoretisch als sehr gewinnbringend anzusehen ist.

Um zu einer Einschätzung darüber zu gelangen, inwiefern die »Invisible-hand-Theorie« Kellers, das Konzept des natürlichen grammatischen Wandels, wie es von Wurzel vertreten wird, oder auch der Ansatz der Sprachökonomie, der vor allem mit Werner verbunden wird, anzusehen sind als Beiträge zu einer »Theorie des Sprachwandels, die diese Bezeichnung wirklich verdient« (Wurzel 1988, S.510), gilt es zunächst, die wesentlichen Aussagen bzw. Grund-annahmen der oben genannten Ansätze herauszuarbeiten. Hierbei wird ein besonderes Augenmerk darauf zu richten sein, was jeweils genau als Sprachwandel definiert wird, welche Gründe bzw. Ursachen für sein Auftreten benannt werden und welche Phänomene erklärt werden (können). Anschließend ist es in einem weiteren Schritt möglich, aufzuzeigen, an welchen Stellen zwischen den – wie Wurzel zurecht anmerkt auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen - Ansätzen Verbindungspunkte und damit auch Chancen für eine Integration in eine umfassende bzw. umfassendere Sprachwandeltheorie bestehen.

Ein besonderes Gewicht ist dabei auf die Vorschläge von Keller und Wurzel zu legen. Während sich zumindest Berührungspunkte zwischen der Sprachökonomie und den beiden anderen Ansätzen recht schnell entdecken lassen, standen gerade in Bezug auf die „Invisible-hand-Theorie“ und den natürlichen grammatischen Wandel bislang vor allem »die Unterschiede [...] im Mittelpunkt«. Insbesondere hier kann der Eindruck entstehen, »als hätten die [...] Konzepte eigentlich nichts gemeinsam, als wären die ihnen zugrunde-liegenden Sehweisen unüberbrückbar« (Wurzel 1997, S.295).[1]

Bevor jedoch die Sprachwandeltheorien von Keller und Wurzel näher betrachtet werden, erscheint es sinnvoll, zunächst das Phänomen Sprachwandel genauer zu betrachten, um so zu einem Vergleichsmaßstab zu gelangen, der an beide Theorien angelegt werden kann.

1. Grundsätzliches zum Sprachwandel

1.1 Was verändert sich? – Versuch einer Definition von »Sprachwandel«

Um den Begriff »Sprachwandel« definieren zu können bzw. um bestimmen zu können, was sich verändert, wenn von Sprachwandel die Rede ist, ist es erst einmal notwendig, zu klären, was unter »Sprache« und »Wandel« zu verstehen ist bzw. verstanden werden soll. Notwendig ist dies vor allem, da eine konsensfähige Umschreibung für den Begriff des »Wandels« - wie z.B. »Veränderung in der Zeit« - leicht zu finden ist, wohingegen der Sprachbegriff, in der Linguistik grundsätzlich umstritten ist und aus diesem Grund auch uneinheitlich benutzt wird (vgl. Lüdtke 1984, S.3). Dennoch ist es möglich, eine Definition von »Sprache« zu geben, die sich wohl mit allen heutigen Sprachtheorien vereinbaren lässt. Man kann »Sprache« ganz allgemein auffassen als ein komplexes System, das sich zusammensetzt aus mehreren Subsystemen von Einheiten und Regeln, wobei diese sich danach unterscheiden lassen, ob sie in einer Kommunikationssituation dazu dienen, die grammatische Richtigkeit (im Sinne von phonologischer, morphologischer, syntaktischer und evtl. auch semantischer Korrektheit) sprachlicher Ausdrücke oder die pragmatische Angemessenheit einer Äußerung sicher zu stellen (vgl. Linke u.a. 1996, S.370f.).

Im Anschluss hieran lässt sich »Sprachwandel« definieren als ein partieller Einheiten- und Regelwandel. Dies bedeutet, dass generell alle Aspekte der Sprachstruktur und des Sprachgebrauchs Veränderungen unterworfen sind bzw. sein können, dies jedoch nicht »einfach eine ganz andere Sprache« entstehen lässt. Betrachtet man vor diesem Hintergrund z.B. Steiners Klage, dass die heutige Sprache »nicht mehr die Sprache Goethes, Heines oder Nietzsches, [...] nicht einmal mehr die Sprache Thomas Manns« sei (G. Steiner 1960, zit. n. Linke u.a. 1996, S. 381), so ist dies zwar nicht vollkommen falsch, jedoch wäre eine differenziertere Ausdrucksweise sicher angebracht. Denn: »Verändert haben sich nur gewisse Einheiten und Regeln in bestimmten Bereichen«, während viele andere »Einheiten und Regeln, ja ganze Bereiche unverändert geblieben« sind (ebd., S.371).

Auch wenn die gegebene Definition von Sprachwandel als partiellem Einheiten- und Regelwandel geeignet erscheint, den eingangs zitierten Sprachverfalls-Theorien entgegen zu treten, ist noch immer nicht vollständig geklärt, was unter Sprachwandel zu verstehen ist. Das Problem, das sich stellt, lässt sich wie folgt formulieren: »Ab wann ist etwas eine gültige Einheit, ist etwas die Regel und etwas anderes nicht mehr und hat sich somit die Sprache verändert?« (ebd.). Um hier Klarheit zu gewinnen, erscheint es hilfreich ein alltägliches Beispiel für diesen Prozess zu betrachten:

Wenn ein Schüler heute sagt, »er braucht morgen nicht kommen«, so wird ihn ein Lehrer möglicherweise korrigieren, indem er sagt: »brauchen ist kein Modalverb und muss deshalb mit zu verwendet werden, es muss also heißen er braucht morgen nicht zu kommen.«

In einem gewissen Sinne hat der Lehrer damit Recht; aber der Schüler könnte darauf wie folgt antworten: »Aus der Tatsache, dass brauchen so oft ohne zu mit reinem Infinitiv verwendet wird, lässt sich schließen, dass brauchen im Begriff ist, ein Modalverb zu werden. Alle Modalverben und alle Hilfsverben waren ehedem ganz normale Hilfsverben.« (Keller/Kirschbaum 2000, S.44)

Was hier deutlich wird ist, dass ein partieller Einheiten- und Regelwandel – d.h. Sprachwandel – sehr oft eingeleitet wird durch einen systematisch fehlerhaften Sprachgebrauch. Dies bedeutet, dass eine zunächst als fehlerhaft betrachtete sprachliche Innovation oder Variante nur dann zu einer gültigen Einheit oder einer neuen Regel werden kann, wenn hinreichend viele Sprachbenutzer systematisch gegen bestehende sprachliche Normen verstoßen. Erst wenn systematisch auftretende Fehler in der alltäglichen Kommunikation mit der Zeit ihren Charakter als Fehler verlieren bzw. verloren haben, kann man von Sprachwandel sprechen und nur dann ist es auch denkbar, dass sie Eingang in den Grammatik-Kodex finden und dadurch die eine zuvor gültige Einheit oder Regel ablösen (vgl. Keller/Kirschbaum 2000, S.44).

An dieser Stelle gilt es zu beachten, dass das oben genannte Beispiel bzw. die genauere Betrachtung eines Einheiten- und Regelwandels auch darauf hinweist, »dass das Reden von der historischen Einzelsprache eine monströse [...] Abstraktion ist« (Linke u.a. 1996, S.372). Eine Einzelsprache ist – ganz gleich, ob man sie unter synchroner oder diachroner Perspektive betrachtet – niemals ein homogenes oder starres Gebilde, sondern zu jedem Zeitpunkt

ein Nebeneinander von Ungleichzeitigem, von Varietäten, die schon den Geruch des Vergangenen an sich haben, und von Varietäten mit dem freiheitlichen Flair des Neuen und damit Provokativem, und von Varietäten dessen, was die Regel ist [...] (ebd.).

Im Anschluss an diese Überlegungen stellt sich die Frage, ob der - zu jedem Zeitpunkt - gegebene permanente Wandel der Sprache tatsächlich die Sprache als Ganzes in gleicher Weise betrifft, oder ob sich die Wandelprozesse in den verschiedenen Subsystemen von Einheiten und Regeln im Hinblick auf einzelne Kriterien voneinander unterscheiden lassen.

1.2 Mit welcher Geschwindigkeit und innerhalb welcher Grenzen vollzieht sich der Sprachwandel in den einzelnen Subsystemen?

Wenn man Sprachwandel als partiellen Einheiten- und Regelwandel bestimmt, dann ist es nicht nur möglich zu untersuchen, ob Sprachwandel stattgefunden hat, sondern es bietet sich - vor dem Hintergrund der oben aufgeworfenen Fragestellung – darüber hinaus auch an, Sprachwandelprozesse unter quantitativen Gesichtspunkten zu betrachten. So kann man beispielsweise nach der Stärke und der Geschwindigkeit von Sprachwandelprozessen fragen.

Ein starker Wandel wäre ein Wandel vieler Einheiten und Regeln, ein schwacher Wandel ein Wandel weniger Einheiten und Regeln. Unter Berücksichtigung des Faktors Zeit gelangen wir zur Metapher der Geschwindigkeit: Eine Sprache wandelt sich schnell, wenn sich viele Einheiten und Regeln pro Zeiteinheit verändern, und langsam, wenn es nur wenige sind (Linke u.a. 1996, S.373).

Um zu klären, ob sich – im Hinblick auf die Parameter Stärke und Geschwindigkeit - tatsächlich alle Subsysteme der Sprache in gleicher Weise verändern, erscheint es hilfreich, erneut von einem konkreten Beispiel auszugehen.

Es ist (heute) durchaus vorstellbar, dass ein Kind einen Ausruf wie » Geil! Käpt´n Blaubär trifft den größten Teddybär der Welt!« (Schlagzeile auf einem Plakat der Messe Essen, Oktober 1999, zit. n. Schmitz 2000, S.80) benutzt, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Im hier diskutierten Zusammenhang sind an dieser Äußerung sowohl die Verwendung des Wortes »geil« als »expressiver Ausdruck der Begeisterung und Wertschätzung« (Keller/Kirschbaum 2000, S. 41) als auch der Verzicht auf die Kasusmarkierung (-en) am Substantiv »Teddybär« interessant.

Betrachtet man das Adjektiv »geil«, so fällt auf, dass es - im (sprach-geschichtlich betrachtet) nicht allzu großen Zeitraum der letzten 800 Jahre - »recht turbulente Zeiten durchgemacht hat:

Im Mittelhochdeutschen hatte es [...] die unschuldige Bedeutung »fröhlich, übermütig, ausgelassen«. Dementsprechend waren »geile Recken [...] nicht wild hinter Frauen her, sondern« - wie geile Dirnen auch - »einfach gut drauf« (Keller/Kirschbaum 2000, S.41). Mit der Zeit ist die Bedeutung von »geil« dann - ähnlich wie die des Wortes »Wollust« (früher: Vergnügen im allgemeinen Sinne) - auf den sexuellen Bereich eingeschränkt worden. Dies hat schließlich dazu geführt, dass »geil« eine Zeit lang sogar den Staus eines Tabuwortes hatte, d.h. das Wort war zwar bekannt, durfte jedoch nicht ohne weiteres benutzt werden (vgl. Brandt 1989, S.115ff.). Die zuletzt genannten Eigenschaften waren es schließlich, »die das Wort geil sodann dazu prädestinierten«, zum Gegenstand „semantischer Kreativität“ zu werden (vgl. Fritz 1998, S.868), d.h. »Jugendlichen als ein besonders expressiver Ausdruck der Begeisterung und Wertschätzung zu dienen. Denn besondere Expressivität lässt sich hervorragend durch Tabubruch zum Ausdruck bringen« (Keller/Kirschbaum 2000, S.41). Gegenwärtig scheint das Wort geil jedoch einiges von seiner ehemaligen Ausdruckkraft zu verlieren. Während es noch bis vor zehn bis 15 Jahren fast ausschließlich von Jugendlichen gebraucht worden ist, dient es heute auch Kindern und (jüngeren) Erwachsenen als Prädikat, um positive Dinge zu bezeichnen. Sollte sich dieser Trend weiter fortsetzen, dann ist es durchaus möglich, dass der ehemals sexuelle Bedeutungsinhalt völlig in Vergessenheit gerät, geil dann unter Umständen zu einem ganz gewöhnlichen Wort der Alltagssprache wird und vielleicht sogar ein Wort wie toll – das seinen Tabucharakter schon sehr lange verloren hat – aus dem Sprachgebrauch verdrängt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte dies wiederum zur Folge, dass in der Jugendsprache ein neues Tabuwort an die Stelle von geil nachrückt (vgl. Keller/Kirschbaum 2000, S.41f.).

Im Vergleich zur Bedeutungsgeschichte des Wortes geil weist die zweite im Beispiel hervorgehobene Stelle - der Verzicht auf die Kasusmarkierung am Substantiv »Teddybär« – auf einen sehr viel weniger »turbulenten« Sprachwandelprozess hin:

Nach Schmitz (2000, S.79) ist der Verzicht auf Kasusendungen am Substantiv eine Erscheinung, die zusammen mit mehreren anderen, dazu beiträgt, dass die deutsche Sprache »ihren Sprachbau von einem synthetischen zum analytischen Typ« verändert. Mit dieser »Tendenz des Deutschen« (Diewald 1997, S6) - insbesondere aber mit der »nachlassenden Vitalität der Kasusflexion« (Schmitz 2000, S.80) – ist ein Sprachwandelprozess angesprochen, der - so von Polenz -

»vor mehr als zwei Jahrtausenden durch die germanische Akzentuierungs-tendenz ausgelöst worden ist« und auch »noch weitere Jahrhunderte andauern« wird (von Polenz 1984, S.30; zit. n.: Schmitz 2000, S.81).

Bislang hat die »nachlassende Vitalität der Kasusflexion« dazu geführt, dass einerseits die 40 Endungen der gotischen Substantivdeklination auf immerhin noch 25 im Althochdeutschen und schließlich auf nur noch 6 im Neuhochdeutschen reduziert worden sind (ebd., S.80). Andererseits hat der hier angesprochene Sprachwandelprozess dazu geführt, dass »die Funktion der Flexion immer mehr durch Artikelflexion« - wie im „Teddybär-Beispiel“ - »oder Präposition übernommen« wird (von Polenz 1999, S.343; zit. n.: Schmitz 2000, S.81).

Wenn man sich vor Augen führt, dass sich nicht nur im gesprochenen Gegenwartsdeutsch, sondern »selbst in gepflegter Schriftsprache« zahlreiche Belege für schwindenden (Beispiel, Wegfall des Genitiv-(e)s) oder unsicheren Kasusgebrauch (Dativ statt Genitiv; Dativ statt Akkusativ und umgekehrt) finden lassen (ebd., S.84f., 87, 91f. ), so scheint sich der Trend der »nachlassenden Vitalität der Kasusflexion« auch in Zukunft fortzusetzen.

Vergleicht man die beiden hier dargestellten Sprachwandelprozesse, so ist zunächst auffällig, dass die jeweils in den Blick genommenen Zeiträume sich deutlich voneinander unterscheiden. Hieraus lässt sich zunächst einmal schließen, dass sich (mögliche) Einheiten- und Regelveränderungen in den verschiedenen Teilsystemen der Sprache hinsichtlich der Geschwindigkeit in der sie vollzogen werden (können) deutlich voneinander unterscheiden:

Grammatische Regeln (besonders im Bereich der Morphologie und Syntax) sind sehr viel stabiler als beispielsweise die Wortsemantik, als stilistische Regeln, als Regeln der Sprachverwendung. Dieser Befund korrespondiert [...] mit der Tatsache, dass wir es in der Grammatik einer Sprache mit einem sehr viel geschlossenerem System von Regeln zu tun haben als etwa im Wortbestand, in der Wortbedeutung und in der Pragmatik (Linke u.a. 1996, S.374).

Neben diesen für die einzelnen Sprach-Subsystem gültigen »Geschwindigkeits-begrenzungen« für Wandelprozesse gilt es - mit Blick auf die sprach-wissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte - auch zu beachten, dass »den prinzipiellen Möglichkeiten sprachlichen Wandels [...] zugleich auch prinzipielle Grenzen [...] gesetzt« sind (ebd.). In Form »von sprachlichen Universalien, d.h. Eigenschaften, die allen menschlichen Sprachen zukommen« betreffen sie zunächst einmal die Sprache als Ganzes, d.h. sie legen den Rahmen fest, in dem »eine Sprache sich wandeln kann«. Darüber hinaus ist allerdings auch zu vermuten, dass es prinzipielle Beschränkungen auch für die einzelnen Subsysteme gibt. Es wäre verfehlt, anzunehmen, dass die Veränderungen selber in einer beliebigen oder rein zufälligen Schrittfolge verlaufen:

Eine bestimmte Regel wird nicht beliebig durch eine bestimmte andere Regel abgelöst werden können; eine bestimmte Wortbedeutung kann sich nicht von heute auf morgen in eine beliebige andere Wortbedeutung wandeln, vielmehr geschieht wortsemantischer Wandel als Verengung, als Erweiterung, als Verschiebung [...]; im Extremfall kann durch einen metaphorischen Prozess eine sehr starke Bedeutungsveränderung passieren (z.B. Maus für Computermaus), doch ist selbst in diesem Bereich längst nicht alles möglich (ebd.).

1.3 Warum wandeln sich Sprachen? – Sprachsysteminterne und sprachsystemexterne Erklärungsmuster

Abschließend bleibt festzustellen, dass sich die Sprachwandelforschung selbstverständlich nicht darauf beschränkt hat, zu beschreiben bzw. zu definieren, was unter Sprachwandelprozessen zu verstehen ist, zu untersuchen von welchen Faktoren ihr Verlauf abhängig oder welche prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen sprachlichen Wandels es gibt. Sie hat auch danach gefragt, warum Sprachwandelprozesse überhaupt auftreten.

»In Bezug auf den Wandel der Sprache haben wir die Wahl zwischen zwei Fragen: „Warum ändert sich die Sprache?“ oder „Warum ändern die Sprecher ihre Sprache?“ (Keller 1990, S.19). Das Besondere an diesen beiden Fragen ist, dass mit ihnen zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Sprache - und damit auch zwei unterschiedliche Erklärungsmuster für Sprachwandel – verbunden sind.

Vertritt man die Auffassung, dass die Sprache ein Naturgegenstand ist, so wird man daraus wahrscheinlich auch den Schluss ziehen, dass sie bzw. ihr Wandel den Naturgesetzen unterliegt. Im konkreten Fall ist dann zu fragen: »Warum ändert sich die Sprache?«. In der Antwort auf diese Frage werden sprachsysteminterne Erklärungen für Sprachwandelprozesse genannt.

Man kann jedoch auch der Auffassung sein, dass Sprache ein Artefakt - ein von Menschen planvoll entwickeltes Kommunikationsinstrument - ist. Vor diesem Hintergrund wäre davon auszugehen, dass Sprachwandel nicht auf naturgesetzliche Prozesse im Inneren der Sprache, sondern auf die kommunizierenden Individuen zurückzuführen ist. Im konkreten Fall ist dann zu fragen: »Warum ändern die Sprecher die Sprache?« In der Antwort auf diese Frage werden sprachsystemexterne Erklärungen für Sprachwandel genannt.

Wenn – wie eingangs erwähnt – in Bezug auf die Theorie der unsichtbaren Hand Kellers und Wurzels Konzept des natürlichen grammatischen Wandels, leicht der Eindruck entstehen kann, die Ansätze hätten »eigentlich nichts gemeinsam« und es scheint als seien die »ihnen zugrundeliegenden Seh-weisen unüberbrückbar« (Wurzel 1997, S.295), so ist dies vor allem dadurch begründet, dass Kellers Theorie insgesamt so eindeutig mit sprach-systemexternen Erklärungsmustern operiert, wie Wurzels mit sprach-systeminternen.

[...]


[1] Aus diesem Grund werden im Rahmen dieser Arbeit auch Kellers Theorie der unsichtbaren Hand und Wurzels Ansatz des natürlichen grammatischen Wandels genauer betrachtet, wohingegen ausgewählte Grundannahmen der Sprachökonomie lediglich in knapper Form an geeigneter Stelle (mit) in den Blick genommen werden.

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Unsichtbare Hand, natürlicher grammatischer Wandel und Sprachökonomie. Beiträge zu Theorien des Sprachwandels von Keller und Wurzel
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
47
Katalognummer
V25193
ISBN (eBook)
9783638279000
ISBN (Buch)
9783638713535
Dateigröße
589 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Unsichtbare, Hand, Wandel, Sprachökonomie, Beiträge, Theorien, Sprachwandels, Keller, Wurzel, Tendenzen, Gegenwartssprache
Arbeit zitieren
Marius Diekmann (Autor:in), 2004, Unsichtbare Hand, natürlicher grammatischer Wandel und Sprachökonomie. Beiträge zu Theorien des Sprachwandels von Keller und Wurzel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25193

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