Hip-Hop zwischen Kommerzialisierung und Authentizität


Hausarbeit, 2005

29 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Zwischen Kommerzialisierung und Authentizität

2 Versuch einer Definition

3 Die vier Elemente
3.1 MC' ing
3.2 DJ' ing
3.3 Breakdance
3.4 Graffiti

4 Die kulturellen Wurzeln
4.1 Signifying am Beispiel des Signifying Monkey
4.2 Toasts am Beispiel des Stagolee und The Dozens
4.3 Gospel am Beispiel der afro-amerikanischen Kirche

5 Die begleitenden Faktoren
5.1 Soziales Milieu der Hip-Hop Generation
5.2 Einflussnahme der Musikindustrie

6 Perspektiven

Bibliographie

1 Zwischen Kommerzialisierung und Authentizität

"I live wireless", erzählt Russell Simmons, Vorstandsvorsitzender und Haupt-geschäftsführer von Rush Communications, sowie Mitbegründer und Aufsichts-ratsvorsitzender von Def Jam Records, dem Auditorium der CITA Wireless 2004, "right now I've got a phone in my ear, a phone in my lap and a BlackBerry in my left hand. That's just what I do."[1] (Simmons zit.n. Ankeny, 2004a, o.S.).

Wer Russell Simmons genauer kennt, wird sich mit Verwunderung fragen, warum einer der Hip-Hop-Pioniere auf der weltweit größten und bekanntesten Messe für drahtlose Informationstechnologie und Kommunikation referiert. Simmons, der mit Rick Rubin 1984 Def Jam Records gegründet hat, hatte schon immer das richtige Gespür für profitable Geschäfte. Sein Label hat u.a. Run-DMC, Public Enemy, LL Cool J, Jay-Z, DMX und die Beastie-Boys ver­marktet und ist das erfolgreichste Hip-Hop-Label der Musikgeschichte. Dabei hat Russell Simmons Hip-Hop von Anfang an begleitet und zu "America's most compelling cultural explosion of the latter 20th century"[2] (brooklyniteOne, 2004, o.S.) gemacht (Ankeny, 2004a; Ankeny 2004b; brooklyniteOne, 2004).

Heute ist Hip-Hop ein milliardenschwerer Teil der Unterhaltungsbranche, der sich nicht nur in der Musik, sondern auch in Fernsehen, Kino, Kleidung, Print­medien, gesellschaftlichen Vereinigungen, etc. äußert (Ankeny, 2004b; IGN Music, 2004; Kitwana, 2002; Negus, 1999).

In diesem Kontext lassen sich berechtigter Weise einige Fragen stellen:

Was macht Hip-Hop als kulturelle Ausdrucksform einer ethnischen Minderheit so einzigartig und faszinierend? Nach welchen Prinzipien ist Hip-Hop be­schaffen? Welche Strukturen hat Hip-Hop und welche sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konstellationen hat er durchlaufen?

Besteht Hip-Hop in seiner heutigen Form überhaupt noch als die Kultur, die einst aus größtenteils afro-amerikanischen Einflüssen entstanden ist - oder ist Hip-Hop längst einer kommerziellen Maschinerie einverleibt worden?

2 Versuch einer Definition

Die Suche nach einer griffigen Definition für den Begriff Hip-Hop erweist sich als schwierig, da dieses Genre nur mit vagen Formulierungen in der Literatur um­rissen wird. Dabei haben sich zwei generelle Betrachtungstendenzen heraus­kristallisiert, die Hip-Hop zum einen als Musikrichtung interpretieren, zum anderen als "Black youth culture" (Kitwana, 2002, S. 7), "black popular culture" (Dyson, 1996, S. 177) oder "cultural practice" (Negus, 1999, S. 83). Aufgrund der zentralen Stellung, die Musik und mündlicher Ausdruck[3] in der Kultur des Hip-Hop haben, ist eine Differenzierung dieser beiden Sichtweisen wenig sinn­voll. Vielmehr liegt eine wechselseitige Beziehung vor[4]. Da die kulturelle Darstel­lung des Begriffes Hip-Hop die musikalische Ausprägung impliziert, sind beide Betrachtungsweisen kombinierbar und Hip-Hop kann als kultureller Ober- bzw. Sammelbegriff verwendet werden, der wiederum in seine jeweiligen Elemente untergliedert werden kann, verwendet werden.

As I sit and demand my pen to write scriptures

I look on the other hand, raps are all fixtures

Like lookin @ artist pictures - all have different meanings.

Religions with different believings, its deceving

Rap as a God to some, and Satanic to others

Brothers, and whites.. come together for one

From a notepad, to a mic, to a net-cee

And a Emcee... one family.

(Can I Buss - Rap As A Life, 2004)

Verschiedene Beschreibungen von Hip-Hop lassen eine exakte Definition schwierig werden. Hip-Hop ist ein kultureller Prozess, der den Zeitgeist einer Gesellschaftsschicht widerspiegelt und dabei einer stetigen Wandlung unter­zogen ist. So unterscheidet sich zum Beispiel in New York City die Auffassung und Umsetzung von Hip-Hop von Stadtteil zu Stadtteil, ja sogar von Hood zu Hood[5]. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftaucht, ist, inwiefern Hip-Hop noch authentisch, d.h. in den Traditionen afro-amerikanischer Kultur zu sehen ist oder aufgrund seiner Kommerzialisierung jenseits dieser Tradition anzusiedeln ist[6] (Grimm, 1998).

Die Gründe für die regionalen Disparitäten und die ständigen Veränderungen in der Hip-Hop-Kultur sind Einflüsse aus vielen Kulturkreisen, die sich im Hip-Hop entfalten und deren Auslegung, Annahme und Integration individuell variiert. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da im US-amerikanischen Raum, der auch Melting Pot genannt wird, eine Vielzahl von ethnischen Gruppen vertreten ist, die zwar ihren jeweiligen kulturellen Habitus aufrecht erhalten, sich aber zugleich an vorhandenen Gesellschaftsnormen orientieren (vgl. Booth, 1998). Das Resultat ist eine Kulturenvielfalt, die sich auch im Hip-Hop manifestiert und durch Kleidung, Musik, Tanz und Sprache zum Ausdruck gebracht wird (Grimm, 1998).

Dennoch lassen sich grundlegende Elemente des Hip-Hop aufzeigen (Kapitel 3) und in einen kulturellen und historischen Kontext stellen (siehe Kapitel 4 und 5), "who may now be seen as parts of one whole but each one (...) developed separately and was assimilated into Hip Hop culture"[7] (JHBlive, 2004, o.S.).

3 Die vier Elemente

Hip-Hop wird in vier grundlegende Elemente – „MC' ing“, „DJ' ing“, „Break­dance“ und „Graffiti““[8] - aufgeteilt, welche alles Essentielle seines Wesens um­fassen sollen. Leider sind in der verfügbaren Literatur noch keine Alternativen zu diesem Modell aufgeführt, die seiner Komplexität gerechter werden. Um diesem entgegenzuwirken, werden vor allem im vierten und fünften Kapitel kul­turelle Ursprünge und Begleitumstände der Hip-Hop-Kultur beschrieben, die maßgeblich zu seiner Form beigetragen haben und zum tiefergehenden Ver­ständnis dienen. Trotzdem sollen im Folgenden diese vier Bestandteile des Hip-Hop kurz beschrieben werden, da sie einen ersten Überblick über einige Formen dieser Kultur geben.

3.1 MC' ing

MC' ing beschreibt die Aktivität des MC's[9]. Oft wird dieser Begriff mit dem Rap­pen gleichgesetzt. Beide beziehen sich auf das Reimen von Sprache nach einem rhythmischen Muster. Ursprünglich wurden die Texte vollkommen frei vorgetragen, schriftliche Aufzeichnungen gab es nicht. Bei den Freestyles und den Freestyle-Battles wird noch nach diesem Prinzip verfahren. Bei diesen Sonderformen des MC' ing werden improvisierte Texte vorgetragen und direkt gegen einen Konkurrenten eingesetzt. Die dafür nötige Rhetorik ist ein ge­wichtiger Bestandteil afro-amerikanischer Traditionen und ist neben dem Inhalt der Lieder, das größte Beurteilungskriterium für die Fertigkeiten des MC's (Farin, 1998).

MC' ing nutzt die Techniken des Signifyings, der Toasts, der Dozens, etc., zu­dem haben sich viele Praktiken der afro-amerikanischen Kirche auf die Form des Rappens ausgewirkt[10]. In den Texten tauchen Anspielungen und Bezug­nahmen zu gesellschaftlichen und geschichtlichen Ereignissen auf, werden kommentiert, interpretiert und parodiert. Auch die eigene Vergangenheit und das eigene soziale Umfeld können Inhalt des Rappens sein (Gates, 1993; Gates, 1988).

Nahezu alle MC's versuchen gereimte Silben in ihren Texten unterzubringen und rhythmisch aufeinander abzustimmen, um einen sogenannten Flow, einen musikalischen Redefluss, zu schaffen, der sowohl den Zuhörer - als auch den MC selbst - fesselt und mitreißt (Farin, 1998).

MC' ing lebt von der Einbeziehung der Rezipienten, sei es nun durch verbale Attacken oder Aufforderungen zur Partizipation. Das Call- & Response-Modell, welches hier seine Anwendung findet, soll die aktive Mitwirkung des Publikums sicherstellen[11]. Dies ist notwendig, da beim Hip-Hop durch Musik keine größeren Emotionen geweckt werden sollen, sondern der Inhalt des Textes und seine Bedeutung als Stimuli fungieren. Im Gegensatz zu anderen Musikgenres, bei denen der Sinngehalt des Textes eine untergeordnete Rolle spielt und Melodien, Motivgestaltung und deren musikalische Entwicklung im Vordergrund stehen, will der MC ausschließlich lyrischen Inhalt vermitteln, bzw. durch seine Reimtechnik Annerkennung erhalten (Conyers, 2001; Grimm, 1998).

3.2 DJ' ing

Beistand erhält der MC von seinem DJ, dem Disc-Jockey. Die einzige Aufgabe des DJ's ist es, Musik von Tonträgern wie CD's, LP's, Computern, Synthesizers, etc. abzuspielen. Dadurch entsteht der Beat, eine zusätzliche rhythmisch unter­stützende Begleitung für den MC. Das Bemerkenswerte beim Hip-Hop ist, dass beim DJ' ing trotzdem neue Musik und zwar durch mixing, body-tricks, slip-cueing, needle drops, scratching, phrasing, cutting, beat juggling, beatmatching, phasing, etc. geschaffen wird[12]. Der DJ wird somit zum Künstler, er kreiert aus Samples und Breaks[13] neue Beats (Niemczyk & Schmidt 2000; Poschardt, 1998).

In den 60er Jahren begannen die Disc-Jockeys in Jamaika mit diesen tonalen Techniken zu arbeiten, 1970 führte Kool DJ Herc, der als Vater des Turntabilism gilt, sie in Amerika ein, animierte eine ganze DJ-Generation zur Nachahmung und erfand unter anderem das Loopen[14], das seitdem fester Be­standteil fast jeden Hip-Hop-Beats ist. Im Laufe der Zeit haben die DJ's ihre Fertigkeit immer weiter ausgebaut und perfektioniert. Regelmäßig finden Wett­bewerbe statt, in denen DJ's aus der ganzen Welt gegeneinander antreten. Aus dieser Entwicklung entstand eine eigene Subkultur, das Turntabilism. Turntabilism wird unabhängig von Musikgenres betrieben, es geht um die alleinige Musikgestaltung durch den Disc-Jockey. Führende Vertreter sind im Electro, Funk, Trance und House zu finden. (JHBlive, 2004; Klein, 2002; Niemczyk & Schmidt 2000; Poschardt, 1998).

3.3 Breakdance

Das dritte Element des Hip-Hop ist der Breakdance, ein Tanz der afro- und puertoamerikanischen Jugend. Seine Entstehungsgeschichte ist eng mit der des DJ' ing verknüpft. In den 70ern traten die Breakdancer zunächst auf den Blockpartys der DJ's als Animation für das Publikum auf. Nach und nach ent­wickelte sich Breakdance jedoch zu einer eigenständigen künstlerischen Form. Der Breakdance war nun nicht mehr bloßes Rahmenprogramm, sondern visua­lisierte die Musik der DJ's durch artistische Tanzeinlagen. Schon bald gab es die ersten Wettbewerbe, auf denen die Breakdancer gegeneinander antraten, um ihr Können zu messen (Chalfant & Prigoff, 1987; Kimminich, 2003).

Breakdance setzt sich aus drei Tanzformen zusammen, dem B-Boying[15], dem Locking und dem Popping. B-Boying enthält die akrobatischsten Elemente des Breakdance, z.B. halsbrecherische Drehungen um die Körperachsen auf den Händen, den Füssen, dem Rücken, dem Kopf oder anderen Körperteilen. Locking steht für das Imitieren von Comic- und Marionettenfiguren durch Gestik und Mimik. Beim Popping, auch Electric Boogie genannt, schlüpft der Break­dancer in die Rolle eines Roboters und verändert seine Haltung durch stakka­tische Bewegungen (Kimminich, 2003).

Breakdance setzt Körperbeherrschung und Beweglichkeit voraus. Seine Be­deutung im Hip-Hop hat zwar abgenommen, jedoch diente er vielen anderen Tanzformen als Inspiration. Sowohl die klassischen Tänze als auch das moderne Ballet haben Bewegungsmuster des Breakdances in das eigene Re­pertoire aufgenommen. In der R&B-Musik hat der Breakdance heutzutage seinen größten Einfluss und wird oft in die Musik-Clips der Künstler integriert (Kimminich, 2003; Kitwana, 2002).

3.4 Graffiti

Graffiti ist der Plural des italienischen Wortes graffito, welches seinerseits aus dem Lateinischen entstammt und die Bedeutung 'mit dem Griffel kratzen' hat.

Modernes Graffiti besteht erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert und zählt zum Genre der Street-Art. Bei dieser kontrovers diskutierten Kunstform geht es um den kreativen Kampf zwischen den Graffiti-Künstlern, die Writer ge­nannt werden. Street-Art selbst versteht sich als eine "für jeden zugängliche Kunst im öffentlichen Raum" (van Treeck, 2001, S. 51). In diesem Sinne wird auch Graffiti betrieben. Die Writer benutzen Sprühdosen um ihre kunstvoll chiff­rierten Botschaften auf Wände, Brücken und Züge zu sprühen. Oft wird Graffiti von Gangs zur Kennzeichnung des eigenen Territoriums oder zur geheimen Nachrichtenübermittlung genutzt (Chalfant & Prigoff, 1987; Cooper & Chalfant, 1988).

Die Relation von Graffiti und Hip-Hop ist umstritten, Graffiti entstammt nicht wie Hip-Hop der Oral Culture[16], sondern einer literarisch geprägten Kultur. Zudem bedienen sich auch andere Jugendkulturen dieser Kunstform, z.B. in den 80er Jahren die Punk-Szene (Chalfant & Prigoff, 1987; Cooper & Chalfant, 1988).

4 Die kulturellen Wurzeln

Der in seiner heutigen Form anzutreffende Hip-Hop hat einen langen Weg hinter sich, von seinen jahrtausende alten afrikanischen Wurzeln zu den ersten Blockpartys der frühen 70er in den South Bronx[17], bis hin zur Kommerziali­sierung und der damit verbundenen globalen Vermarktung der Ware Hip-Hop durch die Musikindustrie. Doch welche kulturellen Etappen markieren diese Reise im Detail und formten die Kultur des Hip-Hop zu dem, was sie heutzutage ist?[18]

4.1 Signifying am Beispiel des Signifying Monkey

Zur Beantwortung dieser Fragen ist es hilfreich, den Blick auf Westafrika und eine seiner bedeutendsten Traditionen, die Oral Culture zu richten (Klein, 2002). Dort spielen bei den Yoruba[19] verbale Ausdrucksformen seit Generationen eine beachtliche Rolle und werden von den Griots, den Sängern und Geschichten­erzählern des Stammes, überliefert (Farin, 1998). Spottgedichte gelten als Verständigungs- und Ausdrucksmittel, dienen dem Aufrechterhalten des sozia­len Gefüges und geben die Mythologie des jeweiligen Stammes wieder. Bei diesem Volk taucht eine Figur namens Esù-Elégbára[20] in den Fabeln auf, die - ähnlich Jesus Christus - eine Vermittlerposition zwischen göttlicher und menschlicher Existenz einnimmt. Dieser Halbgott charakterisiert sich durch seine phallozentrische Sprache und vulgäre direkte Art. Er ist ein Meister des Wortwitzes und versteht es seine Rhetorik perfekt für seine Vorhaben einzu­setzen (Gates, 1993; Gates, 1988).

Die Gestalt des Esù-Elégbára ist als Signifying Monkey in die afro-amerika­ni-sche Kultur eingegangen. Alle Erzählungen über den Signifying Monkey sind nach einem grundlegenden Prinzip aufgebaut: Der Signifying Monkey erzählt dem Löwen, der Elefant habe ihn beleidigt. Der Löwe erkennt aber nicht, dass der Affe nur mit der Sprache spielt und rhetorische Mittel gebraucht bzw. miss­braucht, er glaubt an das Gesagte[21]. Daraufhin kommt es zum Streit zwischen dem Löwen und dem Elefanten. Eine typische Einleitung in eine dieser varian­tenreichen Geschichten sieht folgendermaßen aus:

Deep down in the jungle so they say

There's a signifying monkey down the way

There hadn't been no disturbin' in the jungle for quite a bit,

For up jumped the monkey in the tree one day and laughed,

"I guess I'll start some shit."

(Gates, 1988, S. 237)

In der afro-amerikanischen Kultur steht der Signifying Monkey stellvertretend für den sozialen Status der Schwarzen[22] im amerikanischen Gesellschaftssystem und spiegelt ihren Handlungsspielraum wider. Ohne die Rassendiskriminierung an dieser Stelle weiter zu thematisieren sei gesagt, dass den Afro-Amerikanern lange Zeit einzig und allein ihre Sprache als Instrument der gesellschaftlichen Teilhabe und Ausdrucksform zur Verfügung stand (Kitwana, 2002; Streek, 2001). Hieraus leitet sich die große Bedeutung der Sprachgewandheit im Hip-Hop ab, die zu großen Teilen auf der Technik des Signifyings[23] aufbaut. In den Vereinigten Staaten benutzen die Schwarzen Sprache in dieser Art und Weise sowohl im eigenen kulturellen Umfeld als auch in der Öffentlichkeit. Dabei abstrahiert Hip-Hop Sprache vom üblichen Gebrauch als bloßes Verständi­gungsmittel und codiert sie zu einem komplexen Konstrukt aus lyrischen und rhetorischen Stilkomponenten[24], welches dann zur Täuschung, Provokation oder Beleidigung eingesetzt wird. Besonders in den unteren sozialen Schichten der schwarzen amerikanischen Bevölkerung spielt der mündliche Diskurs auf­grund der oft defizitären Bildung nach wie vor eine bedeutende Rolle. Populäre Anwender des Signifyings sind z.B. Eddie Murphy, Bid Daddy Kane oder LL Cool J (Conyers, 2001; Dyson, 1996).

4.2 Toasts am Beispiel des Stagolee und The Dozens

Ein weiterer Bestandteil der Hip-Hop-Kultur sind Toasts, die zum Teil auch das Signifying verwenden und nach McLemee (2003, o.S.) als "rhymed oral performances"[25] beschrieben werden. Dennoch lassen sich Toasts klar vom Genre des Signifying Monkey abgrenzen. Ähnlich wie deutsche Märchen, Mythen und Sagen schildern sie Ereignisse des gewöhnlichen Volkes mit einem mysteriösen Helden als Protagonisten. Diese anrüchig gereimten Geschichten, die dem Zeitvertreib dienen, entstanden vor allem in den Gefängnissen und beim Militärdienst und verbreiteten sich dann allmählich in den urbanen Gebie­ten. Die berühmtesten Erzählungen handeln von Stagolee[26], der als herzloser Gangster auftritt und ohne Rücksicht und Erbar­men handelt. Obwohl diese Geschichte unzählige Male erzählt wurde[27], ist bis heute ungewiss ob sie auf einer wahren Begebenheit aufbaut (Conyers, 2001; Gates, 1993).

Der Legende nach soll Stagerlee am Weihnachtsabend des Jahres 1896 seinen Freund William Lyons in einer Bar in St. Louis getötet haben. Anlass für die Auseinandersetzung war die Respektlosigkeit Lyons. Allen Schilderungen ist die explizite Darstellung des brutalen Charakters gemein, der Selbstjustiz ausübt. Das Ende dieses Toasts spaltet sich in zwei Versionen auf. In der einen wird Stagerlee verhaftet und hingerichtet, in der anderen ist selbst die Polizei von seiner Brutalität und Boshaftigkeit so verängstigt, dass er ohne Konsequenzen davonkommt (Conyers, 2001; Gates, 1993).

Stagger Lee went to the ballroom

And he strolled across the ballroom floor.

He said 'You did me wrong, Billy.'

And he pulled his .44.

'Stagger Lee, ' said Billy,

Oh, please don't take my life!

'I've got three hungry children,

'And a very sickly wife.'

Stagger Lee shot Billy

Oh, he shot that poor boy so hard

That a bullet went through Billy

And broke the bartender's bar.

(Price - Stagger Lee, 1958)

Doch warum ist dieser Mord zu einem Mythos geworden? Warum hat er die ge­samte afro-amerikanische Kultur einschließlich des Hip-Hop beeinflusst und ist bis heute präsent geblieben?

Eine von vielen Deutungshypothesen setzt das antiautoritäre Verhalten von Stagolee in Bezug zum civil rights movement, einer Bürgerrechtsbewegung in den USA, die für volle Gleichberechtigung der Schwarzen eintritt und sich z.B. als NAACP, Black Panther, etc. organisiert (Dyson, 1996; Kitwana, 2002).

Indem er Kriminalität und die Bereitschaft, Gewalt einzusetzen zum Ausdruck seiner Autonomie nutzt, befreit Stagolee sich von weißer Diskriminierung und kann so vom Verbrecher zum schwarzen Befreier und Volkshelden stilisiert werden (vgl. Grimm, 1998; Saloy, 1989, The Guardian, 2003). Dieser durch Gewalt selbst definierte soziale Status ist wesentliches Element, das tief in der Kultur des Hip-Hop verwurzelt ist[28] und als direkte Auswirkung des Stagerlee-Mythos zu sehen ist (Grimm, 1998; Kitwana, 2002).

Auch heute noch wird Stagerlee als "Godfather of Gangsta"[29] (The Guardian, 2003, o.S.) tituliert und mit "bad to the bone"[30] (McLemee, 2003, o.S.) beschrie­ben, gleichzeitig aber mit Bobby Seale, Malcom X, Huey Newton & Eldridge Cleaver verglichen (Hauser, 2003), welche allesamt als Führer im civil rights movement der militanten Partisanenorganisation Black Panther Ende der 60er Jahre tätig waren (Dyson, 1996; Kitwana, 2002).

Vom europäischen Standpunkt aus, scheint es verwunderlich, dass sich dieser sinnlose Mord zu einem prägenden Mythos entwickeln konnte, zumal Stagolee aus einer spontanen Emotion heraus gehandelt hat. Vergleicht man den Stagerlee-Mythos mit europäischen Volkshelden wie Störtebecker, Robin Hood, Andreas Hofer oder dem Schinderhannes, so fällt auf, dass diese zumindest vorgaben, für soziale Gerechtigkeit und gegen die Armut Benachteiligter zu kämpfen. Stagolee hat aus rein eigennützigem Anlass gehandelt. Sein Mord hatte weder eine Relevanz für die damalige gesellschaftliche Situation der afro-amerikanischen Bevölkerung, noch hatte Stagerlee die Absicht eine Ver­änderung an ihr vorzunehmen. Erst im Nachhinein wurde dieser Bluttat eine Bedeutung beigemessen, die nach europäischen Maßstäben schwer verständ­lich ist (vgl. Conyers, 2001; vgl. Dyson, 1996; vgl. Kitwana, 2002).

Eine Abwandlung der Toasts sind die sogenannten Dozens. Sinn dieser verba­len Duelle ist es, seinen Kontrahenten durch Beleidigungen zu verletzten und seine eigene rhetorische Schlagfertigkeit unter Beweis zu stellen. Dabei sind die Rivalen jeweils bemüht, die Inhalte und die Struktur des gegnerischen Sprech­gesanges aufzugreifen und dann gegen ihn zu wenden. McKelly (1998, o.S.) beschreibt The Dozens als "mean game because what you try to do is totally destroy somebody else with words"[31]. Auch hier wird der Anspruch einer gesell­schaftlichen Positionierung deutlich, vergleichbar mit den Toasts um Stagerlee. Im Hip-Hop sind die Freestyle-Battles als direkte Abkömmlinge dieser Dozens-Tradition zu sehen, bei denen improvisierte Texte in einem direkten Schlagab­tausch gereimt werden (Streek, 2001). In der Filmbranche lassen sich bei­spielsweise in White Men Can't Jump mit Woody Harrelson und Wesley Snipes eine Vielzahl von Beispielen für die Anwendung der Dozens-Technik finden.

4.3 Gospel am Beispiel der afro-amerikanischen Kirche

Die bisher dargelegten kulturellen und historischen Ursprünge des Hip-Hop be­ziehen sich größtenteils auf den Inhalt der Oral Culture. Außer der damit ver­bundenen Technik des Rappens hat die afro-amerikanische Kirche maßgeblich das Erscheinungsbild und die Form von Hip-Hop geprägt (Streek, 2001).

Die Vorgehensweise in der afro-amerikanische Kirche ist wiederum auf die Tra­dition der chanteys und der work-songs[32] aus der Sklaverei in den Südstaaten der USA zurückzuführen, dies soll in diesem Kontext aber nicht weiter vertieft werden (Goines, 2004; Streek, 2001).

In der afro-amerikanischen Kirche verschmelzen Musik und Sprachgesang zum Gospel. Dies geschieht durch das Vortragen des biblischen Textes durch die zentrale Figur des Priesters. Instrumente spielen eine eher untergeordnete Rolle, wichtiger ist eine rhythmische Untermalung durch Lautmalerei und die metrische Gestaltung des Satzbaus[33]. Rhythmische Bewegungen unterstützen den Sprechgesang. Interaktivität zwischen Auditorium und Pastor wird durch das Call- & Response-Modell hergestellt. Der Pfarrer sucht den Kontakt mit seinem Publikum durch rhetorische Fragen als Aufforderung zur Bekräftigung seiner Aussagen. Die Gemeindemitglieder lassen sich dadurch in einen Zustand nahezu hypnotischer Partizipation versetzen und der Inhalt der Bibel wird emotional nachempfunden (Conyers, 2001; Goines, 2004; Streek, 2001; The African American Registry, 2004; The Colonial Williamsburg Foundation, 2004).

Lord, I can't stay here by myself, by myself

My mother has gone, and left me here / My father has gone and left me here

I'm going to weep like a willow / And mourn like a dove

O Lord, I cannot stay here by myself

Yes, I got my ticket at the low depot / Low depot / I got my ticket at the low depot

Low depot / Yes I got my ticket at the low depot

O Lord, I can't stay it by myself

(Dorsey - Lord, I Can't Stand Here By Myself, 1958)[34]

Call & Response lässt sich in allen Sparten des Hip-Hop aufzeigen, die ge­samte Kultur lebt von diesem Modell. Da die Hip-Hop-Kultur größtenteils auf gesprochenem Gedankengut und tatsächlich Erlebtem beruht, ist sie auf den Diskurs und die Interaktion der schwarzen Gemeinschaft angewiesen, ganz im Gegensatz zum literarisch veranschlagten Kulturkonzept der weißen Bevölke­rung mit ihren europäischen Wurzeln. Orale Reflektion und Reproduktion sind wesentliche Bestandteile dieses expressiven Charakters, der in seinen ver­schiedenen Facetten, wie z.B. Mode, Musik, Sprache und Habitus zur Geltung gebracht wird (Conyers, 2001; Grimm, 1998; vgl. Negus, 1999; vgl. Streek, 2001).

[...]


[1] Ü.d.V.: "Ich lebe kabellos. Genau jetzt habe ich ein Telefon im Ohr, in meinem Schoß und einen BlackBerry in meiner linken Hand. Genau das mache ich."

[2] Ü.d.V.: "Amerikas bedeutendster kulturellen Entwicklung des späten 20. Jh."

[3] A.d.V.: Ab dem 4. Kapitel wird ausführlich auf diese Thematik eingegangen.

[4] A.d.V.: Hip-Hop hat einerseits seine Ursprünge in der Rap-Musik und der Oral Culture Afrikas, andererseits ist die Musik Hip-Hop / Rap auch aus bzw. innerhalb der kulturellen Bewegung selbst entstanden (vgl. Conyers, 2001; Grimm, 1998).

[5] A.d.V.: Hood sollte im US-amerikanischen Raum als soziologische Gemeinschaft nach Tönnies & Weber interpretiert werden (vgl. Cahnman, Maler, Marcus & Tarr, 1995).

[6] A.d.V.: Dieser Gedankengang wird in den folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen und weiter vertieft.

[7] Ü.d.V.: "die heutzutage vielleicht als Teile eines Ganzen angesehen werden könnten, sich aber separat voneinander entwickelt haben und im Laufe der Zeit in die Hip-Hop-Kultur mit eingeflossen sind"

[8] A.d.V.: Die Zulu Nation erweitert Hip-Hop um ein fünftes Element: Knowledge (Bambaataa, 1986).

[9] A.d.V.: MC ist die Kurzform für Master of Ceremonies, andere Synonyme sind: Rapper, MC, emcee, Microphone Controller, etc.

[10] A.d.V.: Im 4. Kapitel werden dieses Techniken näher beschrieben.

[11] A.d.V.: Das Call- & Response-Modell wird im Zusammenhang mit der afro-amerikanischen Kirche im Kapitel 4.3 erläutert.

[12] A.d.V.: Um den Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit nicht zu sprengen, kann leider nicht näher auf diese Techniken eingangen werden.

[13] A.d.V.: Samples und Breaks sind Fragmente aus bestehender Musik.

[14] A.d.V.: Loopen ist das Abspielen eines Samples oder Breaks in Endlosschleife.

[15] A.d.V.: B-Boying wird auch Breaking genannt.

[16] A.d.V.: Die Oral Culture ist Schwerpunkt des 4. Kapitels.

[17] A.d.V.: Blockparties mit den Szenegrößen Kool DJ Herc und Grandmaster Flash etablierten sich in New York City nachdem die Ghettobildung einsetzte (JHBlive, 2004; Klein, 2002; Weiß, 1998).

[18] A.d.V.: Um den Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit nicht zu sprengen, kann leider nur ein Abriss dieser Traditionen aufgeführt werden.

[19] A.d.V.: Die Yoruba sind eine in Westafrika lebende Ethnie (Gates, 1993; Gates, 1988; Klein, 2002).

[20] A.d.V.: Bei dem Stamm der Fon tritt Esù-Elégbára als Legba auf (Gates, 1993).

[21] A.d.V.: Der Löwe kann die Sprache des Affen nicht deuten bzw. interpretieren (signifying / figuratively) und nimmt die Aussagen wörtlich (literally).

[22] A.d.V.: Obwohl die Begrifflichkeiten schwarz und weiß rassistische Stereotypen abbilden, spielen sie im kulturellen Kontext des Hip-Hop als Identifikatoren eine bedeutende Rolle und sollten deswegen als soziale Konstruktionen betrachtet werden (vgl. Cahnman et al., 1995; Conyers, 1997; Grimm, 1998; vgl. Kitwana 2002).

[23] A.d.V.: Signifying wird auch mit capping, jiving, joaning, joning, sounding und snapping beschrieben (vgl. The Mavens' Word of the Day, 2004).

[24] A.d.V.: Typische Elemente des black english sind z.B. Ironie, Metaphern, Übertreibungen, etc.

[25] Ü.d.V.: "gereimte mündlich vorgetragene Aufführungen"

[26] A.d.V.: Stagolee tritt auch unter den Aliasen Lee Shelton, Stagger, Lee Stackalee, Stack O'Lee, etc. auf.

[27] A.d.V.: Als Inspiration für eigene Werke wurde die Legende von Stagolee u.a. von Cliff Edwards, Duke Ellignton, Elvis Presley, Fats Domino, Grateful Dead, Ike & Tina Turner, James Brown, Lloyd Price, Nick Cave, Taj Mahal, The Beach Boys, The Clash, The Isley Brothers, Wilson Picket, etc. benutzt (Torrez, 2003).

[28] A.d.V.: Dieser Gedankengang wird im 5. Kapitel wieder aufgegriffen und vertieft.

[29] Ü.d.V.: "Pate des Kriminellen"

[30] Ü.d.V.: "bis auf die Knochen böse"

[31] Ü.d.V.: "bösartiges Spiel, weil man versucht jemanden mit Worten vollkommen zu zerstören".

[32] A.d.V.: Die chanteys und work-songs der Sklaven stellen die erste, wenn auch passive, Kritik der schwarzen Bevölkerung an ihrer damaligen gesellschaftlichen Situation dar (vgl. Dolan, o. A.).

[33] A.d.V.: In der Literatur werden diese Techniken als rhythmic pattern, parsing, parallelism und construction of lists benannt, sollen an dieser Stelle aber nicht weiter erläutert werden (Conyers, 2001; Streek, 2001).

[34] A.d.V.: Thomas A. Dorsey gilt als Vater der Gospelmusik, er schrieb mehr als 800 Gospel-Lieder und gründete 1932 die National Convention of Gospel Choirs and Choruses (NegroSpirituals, o. A.).

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Hip-Hop zwischen Kommerzialisierung und Authentizität
Hochschule
Hochschule Fresenius; Köln
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
29
Katalognummer
V34589
ISBN (eBook)
9783638347723
ISBN (Buch)
9783638652780
Dateigröße
731 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hip-Hop, Kommerzialisierung, Authentizität
Arbeit zitieren
Till Zier (Autor:in), 2005, Hip-Hop zwischen Kommerzialisierung und Authentizität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34589

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