Identifikationsmechanismen der Erzählerfigur in Christian Krachts "Faserland"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

26 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung: Relevanz biographischer Bezüge

2. Analyse der Erzählsituation nach Stanzel
2.1 Modus
2.2 Person
2.3 Perspektve
2.4 Erlebendes/Erzählendes Ich

3. Sprache

4. Plotstruktur
4.1 Einschübe
4.1.1 Kindheitserinnerungen
4.1.2 Obskure Geschichten
4.2 Intention der Einschübe
4.3 Gemutmaßte Geschichten
4.4 Bewegung von Nord nach Süd
4.5 Figurenkonstellation
4.6 Verteilung dramatischer Höhen und Tiefen

5. Figurenkonzeption
5.1 Präliminarien
5.2 Nebenfiguren
5.3 (Stereo)Typen
5.4 Politisches Verständnis
5.5 Kategorisierung durch Ästhetik

6. Schluß: Die Erzählerfigur als Spiegel der Jugendkultur?

1. Einleitung: Relevanz autobiographischer Bezüge

Der Autor Christian Kracht mußte sich oft dem Vorwurf gegenübersehen, sein Protagonist in “Faserland” zeichne sich häufig durch eine starke Parallelität zu seiner eigener Biographie[1] aus. Leicht lassen sich solche biographischen Spuren in “Faserland" finden wie etwa die Zeit Krachts im Internat Salem. Bei einer Analyse der Erzählsituation stellt sich jedoch die Frage wie wichtig dieser Umstand für das Buch an sich ist. Ist dieses zwanghafte Suchen nach den Autorpersonalien nicht eher Boulevardjournalismus denn ernsthafte Rezension? Die Erzählerfigur bleibt eine autonome literarische Figur, immer getrennt vom Autor, auch wenn die Bezüge zur Realität des Autors so ins Auge springen wie in diesem Fall.

Die namenlose Hauptfigur in “Faserland” ist ein konstruierter Handlungsträger, der uns Einblicke in ein fiktives Geschehen vermittelt, welches uns durch eine gewissenhafte Rezeption die Möglichkeit bietet bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge zu erkennen. Als solche will ich diese Erzählerfigur hier auch betrachten.

Diese Untersuchung soll zeigen, wie es sich mit der Identifikation des Hauptakteurs in Krachts Roman verhält und welche Schlüsse aus der Konstruktion der Figur gezogen werden können.

Dazu werde ich zunächst die Erzählsituation näher beleuchten und im weiteren Verlauf die Sprache des Romans dahingehend untersuchen, welche Aufschlüsse sie über die Erzählerfigur zuläßt. Nächster Prüfungspunkt soll die Plotstruktur sein, d.h. die verschiedenen Segmente, aus denen die Handlung zusammengesetzt ist. Eine Analyse der Konzeption des Ich-Erzählers und anderer Figuren soll schließlich die Erstellung der Identifikationsmechanismen der Erzählerfigur in „Faserland" vervollständigen.

2. Analyse der Erzählsituation nach Stanzel

Zur Beleuchtung der Identität der Erzählerfigur in „Faserland“ werde ich zunächst die Erzählsituation des Romans näher betrachten. Hierbei halte ich mich an das ausgewogene System Stanzels[2], mit welchem sich die Erzählerfigur klar markieren läßt.

Stanzel unterteilt die Erzählsituation in drei Konstituenten: Modus, Person und Perspektive. Diese Konstituenten wiederum sind jeweils in eine binäre Opposition unterteilt. Beim Modus wird zwischen Erzähler und Nichterzähler, bei der Person zwischen Identität und Nichtidentität und schließlich bei der Perspektive zwischen Außen- und Innenperspektive unterschieden.

2.1 Modus

Die erste Konstituente, die Stanzel zur Positionierung des Erzählers verwendet, ist die des Modus. Stanzel unterscheidet die beiden Typen der Erzählerfigur anhand einer Reihe von Punkten, die ich im weiteren auf „Faserland“ anwenden werde, um herauszuarbeiten, ob es sich um eine Erzählerfigur oder um eine Nichterzählerfigur, d.h. Reflektorfigur handelt.

Im Vorfeld läßt sich sagen, daß einer der Hauptunterschiede dieser beiden Figuren der Grad des Bewußtseins ist, daß die Wahrnehmung, die eine Figur beschreibt Teil eines Kommunikationsvorgangs ist.[3] Einer Erzählerfigur ist immer bewußt, daß sie erzählt. Eine Reflektorfigur hingegen hat keinen Leser vor Augen. Zwischen beiden Figuren ist eine Mischform möglich, die sich auch innerhalb eines Werkes modifizieren kann.[4]

Da der Prüfungspunkt der Modi nur einen minimalen Teilaspekt der gesamten Analyse der Identifikation der Erzählerfigur darstellt, bin ich gezwungen mich auf die sechs prägnantesten und wichtigsten Aspekte der Untersuchung durch Stanzel[5] zu beschränken.

Bietet der Erzählauftakt „für den Leser wichtige Informationen, wie Name und Herkunft des Helden“ (Stanzel, S. 208), zielt dies auf die Illusion des Lesers, sich einem Vermittler gegenüber zu sehen, der das Geschehen möglichst objektiv und vor allem schrittweise in allen relevanten Punkten beleuchtet. In „Faserland“ fehlen diese Erzählpräliminarien: „Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke.“ (S. 9). Auch im weiteren Verlauf der Handlung wird der Name des Protagonisten und Ich-Erzählers nicht genannt, und die anderen weit verstreuten Hinweise auf seine Identität lassen schwerlich einen exakten Hintergrund erkennen.[6]

Aufgrund der fehlenden Präliminarien kommt man leicht zu dem Schluß, es handle sich in „Faserland" um eine Reflektorfigur. Stanzel schließt jedoch diese Möglichkeit hier aus, da das „Personalpronomen in der ersten Person Singular erscheint“ (Stanzel, S. 211) und zwar deshalb, weil dieses Ich zur Erzählerfigur gehört, da es aufgrund der Mittelbarkeit des Erzählens auf den Vermittler verweist. Da aber mit „Mittelbarkeit“ vor allem ein reflektierter Erzählakt gemeint ist[7], kann man in „Faserland" eine Erzählerfigur finden, die stark an eine Reflektorfigur erinnert, da eine Thematisierung des Erzählvorgangs zwar vorkommt („... ich weiß nicht, ob ich mich da jetzt richtig ausgedrückt habe.“, S. 11), aber insgesamt wenig ausgeprägt ist.

Für eine Reflektorfigur spricht auch, daß „Faserland" eine Geschichte mit offenem Schluß ist[8], denn „zwischen einem Erzählanfang mit einer Reflektorfigur ... und einer offenen Schlußbildung“ besteht nach Stanzel „ein struktureller Zusammenhang“ (Stanzel, S. 216).

Ein weiterer Indikator zur Unterscheidung von Erzählerfigur und Reflektorfigur ist bei Stanzel die Bewältigung des Erzählten. Hält der Erzähler beim Erzählen eine Art Rückschau zu halten, handelt es sich um eine Erzählerfigur. Ist aber das Dargestellte noch unüberschaubar und die Sinnfindung noch problematisiert, hat man es mit einer Reflektorfigur zu tun.

Direkten Bezug hat hierzu meines Erachtens das Tempus der Erzählung. „Faserland" bewegt sich durchwegs im Präsens. Dies deutet ebenfalls auf eine Reflektorfigur hin, denn eine Darstellung „in actu“ verringert die, für eine Erzählerfigur typische, Erzähldistanz. Folglich ist die Figur in „Faserland" anhand der fehlenden Aspekte Distanz zum Erzählten und Erzähldistanz durch Präteritum als Reflektorfigur einzuordnen.

Des weiteren fügt Stanzel in sein Unterscheidungssystem den Begriff der Deixis ein. Hantiert der Erzähler mit Wörtern wie „damals – dort“, liegt das „Orientierungszentrum bei einer Erzählerfigur“ (Stanzel S. 223), die sich vorübergehend in die dargestellte Szene verlagern kann. Bei einer Reflektorfigur liegt das Zentrum der Orientierung in der Figur selbst, die „`jetzt-hier`-Deixis“ (Stanzel, S. 223) wird durch sogenannte „familiarizing articles“[9] noch verstärkt. Diese Kriterien einer Reflektorfigur finden wir bei Kracht: „Ich sehe mir den Nigel an...“[10]. Der Erzähler befindet sich beim Erzählen in der Zeit des Vorgangs, der beschrieben wird, auch benutzt er `familiarizing articles`[11], welche die Zusammengehörigkeit der Seinsbereiche von Erzähler- und Figurenwelt hervorheben.

Auch das Vorhandensein einer Ich-Erzählsituation mit spürbarer Dominanz eines erlebenden Ichs[12] und der innere Monolog sprechen laut Stanzel für eine Reflektorfigur. Eine Ich-Erzählsituation liegt in „Faserland" vor, und auch das erlebende Ich ist vorherrschend: „In diesem Moment merkt sie, daß ich ihr zusehe, und ich drehe mich weg, und das Flugzeug setzt ziemlich heftig in Frankfurt auf...“ (S. 59)

Schließlich ist noch die Perspektive des Erzählers in „Faserland" heranzuziehen. Eine Erzählerfigur bedient sich der Innen- wie auch der Außenperspektive, eine Reflektorfigur favorisiert jedoch klar die Innenperspektive. Stanzel versteht unter Perspektive den Beteiligungsgrad der Mittlerfigur am Geschehen. Krachts Protagonist befindet sich im Geschehen und ist gleichzeitig das einzige Sichtfenster des Lesers zur Handlung. Dies ist wiederum als Indiz dafür zu sehen, daß es sich bei der namenlosen Figur um eine Reflektorfigur handeln muß.

Bei der Erzählsituation läßt sich also aus einer Analyse des Modus in „Faserland" feststellen, daß wir es zumeist mit einer Reflektorfigur zu tun haben, die zeitweise die Züge einer Erzählerfigur annimmt. Was aber kann hieraus bezüglich der Motivation des Autors für diese Figur und deren Wirkung geschlossen werden? Nicht von der Hand zu weisen ist bei Kracht die Vorbildfunktion[13] von Autoren wie Salinger[14], die ihre Protagonisten eben als solche Reflektorfiguren konzipieren. Die Reflektorfigur bietet dem Autor die Möglichkeit, durch eine verdrängte Mittelbarkeit (wenig Thematisierung des Erzählvorgangs) beim Leser die Illusion von Unmittelbarkeit zu schaffen. Der Reflektor dient als Spiegel der fiktionalen Wirklichkeit. Durch den unmittelbaren Einstieg ergibt sich beim Leser eine Veranlassung zur Identifikation[15], und durch Mittel wie etwa die Verwendung direkter Artikel (der Nigel) soll ein Zustand als gegeben und eine Hinführung überflüssig werden. Auch die Sympathiesteuerung wirkt durch das Reflektorfigur-Mittel der Innensicht stärker als das etwa bei einer auktorialen Erzählerfigur der Fall wäre.

2.2 Person

Die zweite Konstituente in Stanzels Erzählsituationsmodell stellt die Identität bzw. Nichtidentität der Seinsbereiche des Erzählers und der Charaktere des Romans dar. Er bezeichnet diese als Person.

„... dann sitzen wir im Taxi ...“ ( S. 33 )[16]. Der Erzähler bezeichnet in diesem Zusammenhang mit dem Personalpronomen `wir` sich selbst und eine der Romanfiguren, Nigel. Er befindet sich also im gleichen Seinsbereich wie seine Charaktere. Diese Einheit hebt er nur auf, wenn er aus seiner Vergangenheit berichtet, wie etwa in der „Grünofantgeschichte“.[17]

Eine weitere Kritik an der Identität von Erzähler und Figur ließe sich möglicherweise erkennen, wenn der Erzähler sich direkt an den Leser wendet. Zwar findet sich in „Faserland" keine direkte Ansprache, doch Sätze wie: „... ich weiß nicht, ob ich mich da jetzt richtig ausgedrückt habe.“ (S. 11) zeigen einen Ansatz zur Reflexion über das Erzählte mit Blick auf ein Gegenüber. Auch dieses Phänomen findet sich bei „The Catcher In The Rye“ von Salinger wieder: Der Erzähler spricht den Leser direkt an: „If you really want to hear about it ...“ (Salinger, S. 1), bleibt aber in der Einheit der Identität der Seinsbereiche von Erzähler und Figur trotzdem existent. Stanzel erklärt dies folgendermaßen: „Wählt man als Transponierungsziel eine auktoriale Er-Erzählung nach dem Modell Tom Jones oder Vanity Fair, so muß die Person des Ich-Erzählers Holden Caulfield in zwei Figuren gespalten werden, in eine Romanfigur am Schauplatz der Handlung und in einen außerhalb der dargestellten Wirklichkeit stehenden Erzähler. Für einen solchen Erzähler wäre aber das schülerhaft vereinfachte System der Wertungen und Urteile Holdens ebenso unpassend wie die von Teenager-Slang durchsetzte Ausdrucksweise.“ (Stanzel, S. 83).

[...]


[1] Vgl. Walter Vogl: Schundiger Bericht zur Lage einer Nation. In: Süddeutsche Zeitung, 23.05.1995.

[2] Stanzel , Franz: Theorie des Erzählens. 6. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen. 1995.

[3] Vgl. Stanzel, S. 197.

[4] Vgl. Stanzel, S. 221.

[5] Vgl. Stanzel, S. 221.

[6] Genaueres hierzu in Punkt 3.

[7] Stanzel, S. 18.

[8] “Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.”, S. 154.

[9] Stanzel, S. 213f, 223.

[10] S. 27, Hervorhebung durch den Verfasser.

[11] „den Nigel“ S. 27, Hervorhebung durch den Verfasser.

[12] Siehe Punkt 3.

[13] Vgl. etwa: Thomas Hüetlin: Das Grauen im ICE-Bord-Treff. In: Der Spiegel, 20.02.1995.: “Kracht-Vorbilder Salinger, Ellis, Kerouac”.

[14] Salinger, J.D.: The Catcher in the Rye.Verlag Hans Heinrich Petersen Buchimport. 4. Auflage. Hamburg. 1992.

[15] Vgl. Stanzel, S. 212.

[16] Hervorhebung durch den Verfasser.

[17] S. 73f.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Identifikationsmechanismen der Erzählerfigur in Christian Krachts "Faserland"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Deutsche Philologie)
Veranstaltung
HS Pop und Literatur
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
26
Katalognummer
V6584
ISBN (eBook)
9783638141222
ISBN (Buch)
9783638639460
Dateigröße
433 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Faserland, Kracht, Popliteratur, Stuckrad - Barre
Arbeit zitieren
Helmut Wagenpfeil (Autor:in), 2001, Identifikationsmechanismen der Erzählerfigur in Christian Krachts "Faserland", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6584

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