Joseph Conrads "Heart of Darkness" als Kritik am europäischen Kolonialismus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

54 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSANGABE

I. EINLEITUNG
I.I. Zusammenfassung “Heart of Darkness”
I.II. Präzisierung der Fragestellung
I.III. Die Geschichte des Kongo
I.IV. Conrads Leben und Afrikareise

II. DER ERZÄHLER MARLOW - MORAL, DISZIPLIN UND LÜGE

III. DIE WILDNIS
III.I. Die Pforte zur Unterwelt
III.II. Die Kolonisatoren Afrikas
III.III. Der Urwald
III.IV. Das Flüstern der Wildnis

IV. KURTZ - DIE RADIKALE FREIHEIT
IV.I. Kurtz´ zivilisiertes ich
IV.II. Kurtz´ wildes ich
IV.III. Die Finsternis in Kurtz

V. MARLOWS VERSUCHUNG
V.I. Marlows Hoffen auf Erlösung durch Kurtz
V.II. Was Marlow in Versuchung führt
V.III. Marlows “Restraint”

VI. DIE DUNKLE ILLUMINATION DURCH DIE FINSTERNIS ALS KRITIK AM KOLONIALISMUS
VI.I. Warum Marlows Illumination negativ ausfallen muß
VI.II. Conrads Finsternis als Warnung an Europa

LITERATURVERZEICHNIS

I. EINLEITUNG

I.I. Zusammenfassung “Heart of Darkness”

Ein unbekannter Matrose berichtet uns, wie ein Seemann namens Marlow ihm eine Geschichte über eine Reise durch die afrikanische Wildnis erzählt.

Marlow hatte über Beziehungen seiner Tante eine Stelle als Schiffsführer für ein mit Elfenbein handelndes Unternehmen erhalten. Nach einem Vorstellungsgespräch im Hauptsitz des Unternehmens in einer europäischen Metropole, während dem Marlow recht düstere Vorahnungen beschleichen, schifft er sich nach Afrika ein.

Schon in der äußersten Handelsstation am Rande des dunklen Kontinents muß Marlow miterleben, wie die Händler des Unternehmens Hunderte ihrer schwarzen Arbeitssklaven umkommen lassen und selbst von tropischen Krankheiten dezimiert werden. Zu Fuß macht er sich auf den beschwerlichen Weg zur tiefer in Afrika liegenden Zentralstation, nur um dort mit noch schlimmeren Umständen konfrontiert zu werden. Zunächst hat der Stationsmanager bei einer Vergnügungsfahrt das Schiff, das Marlow kommandieren sollte, versenkt, so daß Marlow nun monatelange Reparaturarbeiten durchführen muß. Außerdem muß er feststellen, daß die weißen Händler die rechtsfreie Zone der afrikanischen Wildnis zu Intrigen und Verbrechen nutzen.

Marlow erhält den Auftrag, als Kapitän des reparierten Schiffes über einen in den Kontinent hineinführenden Fluß zur am tiefsten in der Wildnis liegenden, innersten Handelsstation vorzustoßen und den erkrankten Leiter dieser Station, einem gewissen Kurtz, zurückzuholen. Von den anderen Händlern erfährt Marlow, daß dieser außergewöhnlich fähige Kurtz nicht nur schon bald in den Vorstand des Unternehmens berufen werden soll, sondern auch ein Idealist ist, der seine Tätigkeit in Afrika als humanistische Mission auffaßt. Inmitten all der Habgier und Niederträchtigkeit in der Station nimmt der Gedanke an den idealistischen Händler Kurtz Marlow immer mehr gefangen.

Die Fahrt durch den Urwald wird für Marlow zu einer spirituellen Erfahrung. Er spürt die Faszination, die von der Wildnis ausgeht, und eine Verwandschaft zu den Eingeborenen, den “prähistorischen Menschen”. Auch erzählt er, daß die Wildnis ihm eine Botschaft zuflüstern will, die er allerdings nicht verstehen kann.

Die Begegnung mit Kurtz wird für Marlow zu einem Schock: der vormalige Humanist und Idealist ist nach den Monaten im Urwald auf die Stufe eines Wilden herabgesunken. Er hat einen Stamm brutal unterworfen, von dem er sich nun als Gott verehren läßt, und begeht “unaussprechliche Rituale”. Kurtz hat die Botschaft der Wildnis verstanden und ihr nachgegeben. Auch Marlow versteht nun und wird von der völligen Freiheit, welche die Finsternis ihm anbietet, in Versuchung geführt. Doch er kann sich beherrschen und überredet auch Kurtz, wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Der schwer erkrankte Händler aber stirbt während der Heimfahrt, seine letzten Worte sind: “Der Horror!”

Marlow hält Kurtz auch nach seiner Rückkehr nach Europa die Treue und verwaltet dessen Nachlaß so, daß die Öffentlichkeit nichts über seine Entgleisungen im Dschungel erfahren wird. Zuletzt besucht Marlow noch Kurtz´ trauernde Verlobte. Als diese von ihm wissen möchte, was Kurtz´ letzte Worte waren, möchte Marlow sie nicht mit der harten Realität des Horrors konfrontieren. Obwohl er immer wieder betont hat, wie abscheulich er Lügen findet, sagt er der jungen Frau nun, Kurtz letztes Wort wäre ihr Name gewesen.

Damit endet Marlows Bericht, dem der namenlose, erzählende Seemann nur noch hinzufügt, daß sich die Dunkelheit der Nacht nun überall ausgebreitet habe.

I.II. Präzisierung der Fragestellung

Joseph Conrads “Heart of Darkness”, publiziert im Jahre 1902, wird heute von vielen Kritikern als das erste Buch des Zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet. Die Erzählung hat alles, was einen konventionellen Abenteuerroman ausmacht: Spannung, mysteriöse Geschehnisse, exotische Schauplätze und unerwartete Angriffe Eingeborener. Auf den ersten Blick beinhaltet das Buch eine spannende Geschichte über Männer, die in der unerforschten Wildnis Afrikas auf eine unerklärliche, finstere Macht treffen.

Aber dies ist nur Vehikel für etwas sehr viel fundamentaleres, eine politisch und psychologisch tiefgreifende Geschichte. Die ungeheuer vielschichtige Erzählung wurde betrachtet als mythische Reise in die Unterwelt, als Dantescher Abstieg in die Hölle, als Freudsches Abtauchen ins Unbewußte oder als politisch-symbolische Darstellung der Sünden des europäischen Kolonialismus. Diese Hausarbeit wird alle genannten Ansätze in die Untersuchung einbeziehen, der Schwerpunkt wird auf dem letztgenannten Ansatz liegen, in dem “Heart of Darkness” als Kritik am europäischen Kolonialismus betrachtet wird.

“Kolonialismus” wird laut Duden bezeichnet als eine wirtschaftliche Expansion, die in Form politischer und militärischer Beherrschung einer “unterlegenen” Zivilisation abgesichert wird. Der Kolonialismus, auf den Conrad sich bezieht, begann bereits im 15. Jahrhundert mit dem Zeitalter der Entdeckungen in einer Verbindung von Rohstoffausbeutung und Missionsgedanken. In “Heart of Darkness” wird eine Art des europäischen Kolonialismus in Afrika dargestellt, der die grausame Ausbeutung der Natur und der Menschen des eroberten Landes meint. Conrad wollte so den oft brutalen und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezeichneten Kolonialismus kritisieren, den er selbst während seines Kongoaufenthaltes erlebt hatte. Auf welch ganz besondere Art und Weise er dies tut, wird nun in den folgenden Kapiteln untersucht. Denn seine Kritik trägt Conrad vor durch die Darstellung einer die ganze Welt bedrohenden “Finsternis” tief in der afrikanischen Wildnis. Wie genau gelingt ihm dies, und was ist überhaupt diese Finsternis? Marlow spricht ihr magische Kräfte zu, durch die sie ihn und Kurtz verhext. Ist Conrads Finsternis also, wie Marlow uns berichtet, eine unheimliche, magische Macht im Dschungel? Dies herauszufinden ist Gegenstand der Untersuchung in dieser Hausarbeit zu Dr. Stefan Glombs Seminar “Heart of Darkness im Lichte der Literaturtheorie”.

Dazu wird zunächst die Reise des Seemannes Marlow durch die afrikanische Wildnis einer eingehenden Betrachtung unterzogen, mit besonderem Hinblick auf seine Begegnung mit dem Händler Kurtz, der den Verlockungen der Finsternis nachgegeben hat, und Marlows eigener Versuchung durch die Mächte dieser Finsternis. Zum Schluß werden wir uns eingehend auf die negative Illumination konzentrieren, die Marlow durch die Finsternis erfährt, und auf die Warnung an Europa, die von dieser dunklen Erleuchtung ausgeht.

In der Einleitung soll nun kurz die Geschichte des Kongo umrissen werden, vor deren Hintergrund sowohl Joseph Conrads Erlebnisse dort als auch die tiefere Bedeutung seines wahrscheinlich zumindest in den Schilderungen der Verbrechen des Kolonialismus teils autobiographischen Buches “Heart of Darkness” leichter zugänglich werden. Anschließend wird der Lebenslauf des Autoren mit besonderem Hinblick auf seine Afrikareise beschrieben, die mit größter Wahrscheinlichkeit die Grundlage für seine Schöpfung “Heart of Darkness” gebildet hat.

I.III. Die Geschichte des Kongo

Dr. David Livingstone, der gefeierte schottische Forscher, war 1856 als erster Weißer in das Gebiet gereist, das knapp zwanzig Jahre später “Kongo” genannt wurde und bis 1871, zu seiner Entdeckung durch Morton Stanley, dort verschollen. Übrigens war Stanley der erste, der den Begriff “der dunkle Kontinent” benutzte, in seinem 1878 erschienenen Buch ”Durch den dunklen Kontinent.”

1876 formulierte König Leopold II von Belgien den Plan “to open to civilization the only part of our globe where Christianity has not yet penetrated and to pierce the darkness which envelops the entire population.”[1]

Auf der internationalen Kongokonferenz 1884 in Berlin wurde Leopold das Land als persönlicher Besitz bestätigt. Er teilte den Kongo in 16 Distrikte auf, die jeweils von einem Kommissar kontrolliert wurden. Einige dieser Distriktverwalter planten ihre persönliche Bereicherung durch die Eintreibung von Steuern. Da aber die Eingeborenen über nahezu keinen Privatbesitz verfügten, wurden sie versklavt und zur Arbeit gezwungen. Der König erhielt einen Anteil vom Profit der Kommissare, also war es auch in seinem Interesse, wenn Aufstände schnell und - zur Warnung an andere Aufständische - möglichst brutal niedergeschlagen wurden. Diese Praktiken endeten erst, als Berichte über unsägliche Verbrechen Europa erreichten und dort die öffentliche Meinung erregten.

1960 wurde Belgisch-Kongo unabhängig und heißt seitdem Zaire, eines der größten Länder Afrikas.

I.IV. Conrads Leben und Afrikareise

Józef Teodor Konrad Korzeniowski wurde 1857 in Polen geboren - einem Land, das zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr existierte, da Rußland, Österreich und Preußen es unter sich aufgeteilt hatten. Mit 16 verließ er seine Heimat und fuhr fünf Jahre lang auf französischen Schiffen zur See, bevor er 1878 nach einem mißlungenen Selbstmordversuch in die englische Handelsmarine eintrat. 1886 wurde ihm, der sich jetzt Joseph Conrad nannte, die englische Staatsbürgerschaft verliehen.

Während seine Reisen ihn nach Brüssel führten, erfuhr er von der “Société Anonyme Belge pour le Commerce du Haut-Congo”, zu der er bereits früher Kontakt hergestellt hatte, daß einer ihrer Dampfbootkapitäne in Afrika, ein Mann namens Fresleven, gestorben war. Conrads Tante Marguerite Poradowska stellte über ihre Beziehungen die Weichen für seine Anstellung an Freslevens Stelle.

Was den 32jährigen Matrosen der englischen Handelsmarine schließlich dazu getrieben hat, den Dienst auf Seeschiffen aufzugeben und sich in das mit einem geistigen und körperlichen Zusammenbruch endende Abenteuer einer Reise in das Innere Afrikas zu stürzen, gehört zu den Rätseln in Conrads Leben, über die sich nur Mutmaßungen anstellen lassen. Vielleicht faszinierte ihn das tropische Afrika und er wurde tatsächlich durch das Betrachten einer Karte dazu veranlaßt, diesen Kontinent betreten zu wollen.[2] Conrad selbst schrieb, daß ihn Karten, und hier besonders die Karte von Afrika, schon immer fasziniert hätten. Angeblich habe er mit neun Jahren den Zeigefinger auf eine Karte dieses Kontinentes gelegt und erklärt: ”When I grow up I shall go there.”[3] Außerdem war die angebotene Tätigkeit als Kapitän besser bezahlt als die Matrosentätigkeiten, die Marlow für die Engländer ausführte.

Conrad reiste von einem französischen Hafen aus im Februar 1890 nach Afrika. Im Juni landete er im Kongo und gelangte zu Fuß weiter ins Landesinnere, nach Kinchasa. In Briefen an seine Tante erwähnte Conrad die Vielzahl getöteter Eingeborener, auf die er unterwegs traf.

Am Ziel fand er sein Boot nach einem Unfall gesunken vor; somit war die angebotene Kapitänstätigkeit hinfällig. Conrad mußte als gewöhnlicher Matrose auf der “Roi des Belges” die vierwöchige Fahrt zur “Inneren Station” bei den Stanleyfällen (heute Boyoyafälle) antreten, wo ein Händler namens Anton Klein schwer erkrankt war. Klein starb, kurz nachdem er an Bord geholt wurde. Es gibt übrigens keine Hinweise darauf, daß der Händler Anton Klein etwas mit der Romangestalt Kurtz zu tun hatte - außer daß er krank war, zurück in die Zivilisation gebracht werden sollte und an Bord des Schiffes starb. Während der Rücküberführung seiner Leiche konnte Conrad immerhin für einige Tage das Kommando über die “Roi des Belges” übernehmen, da der Kapitän schwer erkrankt war.

Seiner Tante schrieb Conrad: “Everything here is repellent to me. Men and things, but above all men.“[4] Er wollte Afrika nun so schnell wie möglich verlassen und löste seinen Vertrag, offizielle Begründung war eine schlimme Krankheit, die ihn auf der Rückfahrt befallen hatte.

1894 ließ Conrad sich in England nieder und widmete sich nun ganz der Schriftstellerei. Erst fast eine Dekade nach seinem Kongoabenteuer, im Dezember 1998, begann Conrad mit der Arbeit an “Heart of Darkness”. Einem Freund teilte er mit, daß er nach einer längeren Schreibflaute bei anderen Themen nun bei der Verarbeitung seines Afrikareise wie von selbst schreibe und gar nicht mehr aufhören könne.

II. DER ERZÄHLER MARLOW - MORAL, DISZIPLIN
UND LÜGE

Der Erzähler Marlow liefert uns eine ganz bestimmte Sichtweise seiner Afrikareise. Wir müssen das ganze Abenteuer zusammen mit ihm durchmachen, auch die Wildnis oder den Händler Kurtz erleben wir nur in der Vermittlung durch Marlow. Dies ist der Grund, warum der Protagonist jetzt schon kurz charakterisiert werden muß und nicht erst im Kapitel “Marlows Versuchung”, welches sich dann genauer mit seinen Ansichten, seinem Innenleben und seiner Versuchung durch die Wildnis beschäftigen wird.

Joseph Conrad schuf Marlow mit einer ordentlichen Portion Moral, Intelligenz und Mut. Marlow, der immer beschäftigte Kapitän und moralisierende Erzähler, ist seinen eigenen Worten nach ein ehrlicher Arbeiter. Seine Vorliebe für Arbeit wird unterlegt durch viele Zitate und Geschehnisse, beispielsweise betrachtet er im Hauptsitz des Unternehmens eine Afrikakarte, auf der in verschiedenen Farben die Standorte europäischer Kolonien eingezeichnet sind, und über die rotmarkierten Gebiete des englischen Imperiums äußert er sich wie folgt: “There was a vast amount of red - good to see at any time, because one knows that some real work is done in here.”[5] Dies verrät uns auch wieder einiges über den arbeitsamen Charakter seiner Schöpfung Marlow. Auf weitere Beispiele dieser Art wird im Kapitel V. - “Marlows Versuchung” noch genauer eingegangen.

Der extremste Fall, der dokumentiert, wie wichtig Marlow Arbeitsamkeit ist, ist wohl seine Begegnung mit dem Buchhalter der äußersten Handelsstation. Dieser läßt seine schwarzen Arbeitssklaven zu Hunderten sich zu Tode schuften, und nicht einmal die Tatsache, daß in seinem Arbeitszimmer ein sterbender Weißer gebettet liegt, hält ihn davon ab, pedantisch seiner Arbeit nachzugehen. Erst als die Gewalt und Brutalität direkt vor seinem Arbeitszimmer zu laut werden, hält er kurz inne - aber nur, um festzustellen, wie sehr er es haßt, wenn die Wilden ihn bei der Arbeit stören.[6] Diese eigentlich abstoßende Figur respektiert Marlow, findet ihn gar sympathisch: “I respected the fellow (…) he kept up his appearance.”[7], da der Buchhalter inmitten all des psychischen und physischen Verfalls auf Ordnung achtet. Er hat Regeln, einen Code. Dies reicht Marlow schon, um sämtliche Grausamkeiten des Mannes zu übersehen, er konzentriert sich auf dessen Hingabe an die Arbeit und kann so nur zu einem positiven Gesamturteil kommen. Auch das sagt uns viel über Marlows Charakter und über die finsteren Abgründe in ihm. Er stellt hier Disziplin über alle anderen Werte. Auch wenn Marlow immer wieder seine Abneigung gegenüber dem brutalen europäischen Kolonialismus betont, ein Humanist ist er sicher nicht, wenn er angesichts einer Demonstration seiner geliebten Disziplin über brutalen Massenmord hinwegsieht.

Weiter ist Marlow mit einer gewissen Bauernschläue ausgestattet. Als seine Tante froh ist, daß das Unternehmen in Afrika “(is) weaning those ignorant millions from their horrid ways”, entgegnet Marlow zynisch: “I ventured to hint that the company was run for profit.”[8]

Marlow braucht keine allzu vertrackte Charakterisierung oder einen besonderen Hintergrund, denn seiner eigenen Erzählung nach steht er einfach für den ehrlichen Arbeiter mit einem gewissen Interesse an der Welt um sich herum; eine Figur, mit der - hoffentlich - jeder von uns sich identifizieren kann. Viele Kritiker beschreiben Marlow als den archetypischen Reisenden. Laut Goonetilleke qualifizieren seine Ehrlichkeit und Menschlichkeit ihn als Erzähler.[9] Dies ist allerdings nicht nachvollziehbar, wenn wir uns den vielen Widersprüchen im Bericht unseres “ehrlichen” Erzählers zuwenden.

Schon gleich am Anfang müssen wir von dem unbekannten Seemann, der uns Marlows Erzählung weitererzählt, erfahren, daß dieser kein typischer Seemann sei, abgesehen von seiner Neigung, Seemannsgarn zu spinnen. “He was a seaman, but he was a wanderer, too … but Marlow was not typical (if his propensity to spin yarns be excepted).”[10] Uns wird also schon zu Beginn nahegelegt, unserem sich selbst als absolut ehrlich darstellenden Erzähler nicht unbedingt völlig zu vertrauen. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang, daß Marlow immer wieder seine Vorliebe für Ehrlichkeit und seinen Haß auf Lügen betont, seinen Bericht dann aber mit dem Belügen von Kurtz´ Verlobter abschließen wird, was, wie im Seminar besprochen, die gesamte Erzählung am Schluß in ein ganz anderes Licht wirft.

Marlow ist also das mehr oder weniger transparente Medium, durch das wir die Ausbeutung der Eingeborenen im Kongo und die Erscheinung des Mr. Kurtz betrachten. Und wir sind gut beraten, diesem “unzuverlässigen Erzähler” trotz seiner Ehrlichkeitsbeteuerungen nicht bedingungslos zu vertrauen.

III. DIE WILDNIS

III.I. Die Pforte zur Unterwelt

Marlow betont zu Beginn seiner Erzählung, daß er schon als Kind von einer Landkarte Afrikas fasziniert war, vor allem davon, daß Afrika der Erdteil mit den meisten weißen, also unerforschten, Flecken war. Schon damals hatte Marlow sich vorgenommen, den Kontinent eines Tages zu betreten.[11] Daß die Reise, die er nun antritt, allerdings nicht zu einer kindlichen Wunscherfüllung wird, macht er auch sofort klar: “And as I looked at the map of it in a shop-window, it fascinated me as a snake would a bird - a silly little bird.”[12] Die Metapher vermittelt untergründige Gefahr und ist die erste Andeutung, die uns erahnen läßt, daß die so herbeigesehnte Afrikareise kein normales Unterfangen werden wird.

Marlows Reise in das Herz der Finsternis beginnt mit einem Vorstellungsgespräch im Hauptsitz des mit Elfenbein handelnden Unternehmens in einer Metropole auf dem europäischen Festland. Überdeutlich sind in den Text Hinweise eingestreut, daß dieser Hauptsitz die Pforte zur Totenwelt, in eine gräßliche, gefährliche Unterwelt darstellt.

Die Straße, die dortin führt, ist verlassen und liegt in tiefem Schatten, es herrscht “a dead silence”[13] An der Tür wird Marlow durch einen “skinny forefinger (…) into the sanctuary”[14] hereingewunken - ein Bildnis des bekannten Skelettfingers des Sensenmannes, der die Toten ins Schattenreich winkt.

Schon seine Anstellung hat Marlow nur durch die Einwirkung des Todes erhalten, denn sein Vorgänger Fresleven wurde von den Eingeborenen im Streit um zwei schwarze Hennen getötet. Marlow erwähnt, wie er später in der afrikanischen Wildnis auf Freslevens Skelett trifft, durch dessen Rippen Gras wächst - wie er auch von der knochenfarbenen Elfenbeinstadt - “a city that always makes me think of whited sepulchre”[15] - erwähnt, daß zwischen ihren Ritzen Gras wächst. Die zwei schwarzgekleideten Näherinnen im Büro, die laut Marlow “(are) guiding the door of darkness”[16], erinnern an die Führerin des Äneas, die kumänische Sibylle, die um die Geheimnisse der Finsternis weiß und die Pforten zu ihr hütet. Sie könnten auch für die schwarzen Hennen stehen, die der Grund für Freslevens Tod waren.

Der Vorsitzende des Unternehmens, in dämmrigem Licht sitzend, “had his grip on the handle-end of ever so many millions”[17], eine Wortwahl, die wohl nicht nur zufällig wie nach dem Sensenmann selbst klingt. Das Haus ist “as still as a house in the city of the dead”[18], und ein “eerie feeling”[19] beschleicht Marlow. In Gedanken verabschiedet er sich mit dem Gruß der todgeweihten Gladiatoren, den diese dem übermächtigen Imperator darboten, der über ihr Leben oder ihren Tod entschieed: “Morituri te salutant.“[20]

Der unheimliche Eindruck wird noch verstärkt durch ein Gespräch mit einem Geschäftsmann, das Marlow anschließend führt. Dieser glorifiziert die Tätigkeiten des Unternehmens auf dem afrikanischen Kontinent, aber als Marlow seiner Überraschung Ausdruck verleiht, daß der Mann ob seiner Begeisterung nicht selbst um einen Posten in Afrika ersucht, wird dieser auf einmal sehr kühl und abweisend: “I am not such a fool as I look.”[21]

[...]


[1] = Hennessy 1961, S. 13

[2] = Baines 1949, S.105

[3] = vgl. Curle 1926, S.16f

[4] = Curle 1926, S.17

[5] = “Heart of Darkness”, S.14

[6] = “Heart of Darkness”, S.27

[7] = “Heart of Darkness”, S.26

[8] = “Heart of Darkness”, S.18

[9] = Goonetilleke 1990, S.67

[10] = “Heart of Darkness”, S.8

[11] = vgl. “Heart of Darkness”, S.11

[12] = “Heart of Darkness”, S.12

[13] = “Heart of Darkness”, S.14

[14] = “Heart of Darkness”, S.15

[15] = “Heart of Darkness”, S.14

[16] = “Heart of Darkness”, S.16

[17] = “Heart of Darkness”, S.16

[18] = “Heart of Darkness”, S.16

[19] = “Heart of Darkness”, S.16

[20] = “Heart of Darkness”, S.16

[21] = “Heart of Darkness”, S.16

Ende der Leseprobe aus 54 Seiten

Details

Titel
Joseph Conrads "Heart of Darkness" als Kritik am europäischen Kolonialismus
Hochschule
Universität Mannheim  (Moderne Literatur)
Veranstaltung
Heart of Darkness im Licht der Literaturtheorie
Note
1,7
Autor
Jahr
2001
Seiten
54
Katalognummer
V4866
ISBN (eBook)
9783638129688
ISBN (Buch)
9783638638753
Dateigröße
609 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Hausarbeit beschreibt das Tiefergehende in Joseph Conrads Heart of Darkness und identifiziert die angeblich magische Wildnis als das Wilde in uns allen, die dunkle Illumination Marlows als Warnung an Europa. 252 KB
Schlagworte
Joseph Conrad, Heart of Darkness, Kolonialismus, Finsternis, Abenteuer
Arbeit zitieren
Florian Scharr (Autor:in), 2001, Joseph Conrads "Heart of Darkness" als Kritik am europäischen Kolonialismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4866

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