Das System The Thin Blue Line

Versuch eine Rezeption nachzuvollziehen


Seminararbeit, 2000

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

die rezeptionstheoretischen Überlegungen

The Thin Blue Line und die Folgen

die Lüge des Bildes

die Auswahl des Materials

die detective story kreieren

die Zeugen

die Reenactments

Narration zur „Wahrheitsfindung“

nochmal die detective story

zum Schluss: Leben_Film_Leben

Literaturverzeichnis

Einleitung

Gegenstand der folgenden Überlegungen unter dem übergeordneten Thema „Dokumentarische Bilder – Dokumentarisierende Lektüre“ ist eine Themen-Kombination: Ein Untersuchungsgegenstand ist der Film The Thin Blue Line (Regie: Errol Morris) aus dem Jahr 1988: Er stellt das als dokumentarisch angenommene Bild dar. Die „dokumentarisierende Lektüre“ findet statt im Rückgriff auf Texte der sogenannten rezeptionsorientierten Dokumentarfilm-Theorie. Spannend werden diese theoretischen Gedanken gerade in der Erprobung an einem solchen Film, bedenkt man die ungewöhnliche und ungewöhnlich heftige Rezeption, die er erfahren hat. Dabei stößt man – getreu den zitierten Theorien – auf die Frage, ob denn die Erklärung überhaupt im einzelnen Film selbst zu suchen sein kann. Oder wie weit nun diese Wirkung für Film an sich von Bedeutung ist. Zunächst geht es um die Erprobung der theoretischen Gedanken – zur Entstehung eines Dokumentarfilms als solchem – an gerade diesem Film The Thin Blue Line. Dabei spielen die Aspekte, die ihn zu einem dokumentarischen machen können, eine bedeutende Rolle. Die Art von Rezeption, die dieser Film erfahren hat, macht es aber interessant, über die allgemeine Theorie hinaus, die Wirkung dieses speziellen Films zu verfolgen und daraus weitere Fragen abzuleiten: bezüglich der Spezifik oder Verallgemeinerbarkeit seiner Wirkung oder der Zugehörigkeit einer solchen Rezeption zu dem „System“The Thin Blue Line.

die rezeptionstheoretischen Überlegungen

Die filmtheoretischen Texte, die sich mit Dokumentationen im Hinblick auf ihre Rezeption auseinandersetzen, versuchen die Zwickmühle zu vermeiden, die viele Theorieansätze zum Thema schon ausgeschaltet oder doch zumindest erschwert und in Teilen hinfällig gemacht hat: die Definition dessen, was als dokumentarisch zu bezeichnen ist, anhand von bestimmten stilistischen Elementen des Films in ihrem Bezug zur Realtität vorzunehmen.

Roger Odin weist in seinem Beitrag mit dem programmatischen Titel Dokumentarischer Film – Dokumentarisierende Lektüre darauf hin, dass sich „der Begriff des Wirklichkeitsbezugs“[1] „nicht ohne Schwierigkeiten verwenden“[2] läßt. Zwar ist es üblich, „daß sich für die meisten Zuschauer mit dem Genre ein besonderer Wirklichkeitsbezug verbindet, den viele Filmemacher explizit suchen und der auch eine konstante Annahme in gegenwärtigen Begriffsbestimmungen ist“, wie Christof Decker in seinem Artikel Die soziale Praxis des Dokumentarfilms feststellt.[3] Neben dieser Beziehung wird in der neueren Dokumentarfilmtheorie allerdings stets die Rezeption durch das Publikum betont.

Die „Entscheidung“ über „Dokumentarfilm oder nicht?“ liegt sozusagen beim Zuschauer, sei es nun in Odins Arbeit Dokumentarischer Film – Dokumentarisierende Lektüre, die dem Bezug zur Wirklichkeit als Eingrenzungskriterium die Lektüre des Films als dokumentarisch entgegensetzt, oder (wie schon im Untertitel) in Dirk Eitzens Beitrag: Der Dokumentarfilm als Rezeptionsmodus[4]. Gleichgültig, was diese Autoren von dem Kriterium des Wiklichkeitsbezugs als Definition halten, sind auch ihre Rezeptionstheorien auf ein In-Beziehung-Setzen zur Realität angewiesen, in diesem Fall zur Realität des Zuschauers im Moment der Betrachtung. Es scheint sich hier allerdings mehr um eine Zustands- oder Vorgangs beschreibung zu handeln, denn um eine Klassifizierung. (Was viel zu ihrer Attraktivität für diese Arbeit beiträgt.)

Decker nennt im Bezugsfeld von Film-Zuschauer-Realität eine weitere interessante Relation: In seiner Stellungnahme zu Eitzens Beitrag will er die Rezeption weniger als ein „Defintionskriterium des Genres“[5] verstanden wissen: „Wichtiger als Definitionsbemühungen erscheinen mir also die Veränderungen kulturspezifischer Debatten, an denen Dokumentarfilme beteiligt sind.“[6] Hier taucht der Dokumentarfilm als „Akteur“ auf in einer Realität, der auch die Zuschauer angehören. Interessant ist Deckers Formulierung: „an denen Dokumentarfilme beteiligt sind“, zumal er in seinen weiteren Ausführungen die hier implizierte Aktivität des Films selbst nicht ausführlicher untersucht. Decker weist den Filmen lediglich eine Auslöserfunktion zu, wenn er erläutert: „Wichtiger als Fragen nach einer Klassifizierbarkeit des Dokumentarfilms [...] werden damit letztlich jene Debatten, Interventionen und Diskurse, die die Filme kontextspezifisch auszulösen imstande sind [...] An die Stelle von Klassifizierungsversuchen tritt das Interesse für die Transformation von Kommunikations prozessen[7]. Was nichtsdestoweniger eine Form von Definition des Dokumentarfilms ist, in diesem Fall über die ihnen attestierte Auslöserfunktion. Dies führt jedoch nicht zu einer scharfen Trennung zwischen dokumentarischen und nicht dokumentarischen Filmen oder auch nur Filmelementen. Vielmehr existiert weiterhin ein Interesse für den Prozess, der dem Film (als vorgeführtem) eingeschrieben ist, weniger für seine ontologische Form.

Man könnte in diesem Zusammenhang etwas vereinfacht von einer Interaktion der Filme mit ihren Zuschauern sprechen. Die rezeptionsorientierte Dokumentarfilm-Forschung geht davon aus, dass der Dokumentarfilm besonders durch seine Lesart oder eben die Aufnahme, die er durch den Zuschauer oder die Zuschauerin erfährt, als solcher bestimmt wird. Zuschauer „machen“ den Dokumentarfilm oder dokumentarische Teile eines Films zu ebensolchen. In dieses „Machen“ bringen sie Elemente ihres (Er-)Lebens ein; der Film wird dadurch dokumentarisch, dass er auf die Zuschauer als Dokument wirkt, dass Teile des Films z.B. das Aussehen eines bestimmten Ortes zu einer bestimmten Zeit zu bezeugen scheinen oder dass der ganze Film Auskunft über ein Ereignis der Vergangenheit gibt.

Welche „Wirkung“ ist aber damit gemeint? Der Zuschauer setzt die Themen, Aussagen, schlicht: die Elemente des Films in Bezug zu der ihn umgebenden Welt. Er nimmt bestimmte Äußerungen, die der Film macht, als Äußerungen über die Realität an. Zu dieser Realität setzt sich der Zuschauer ebenfalls in Beziehung. Affekte werden evoziert. (Diese Entwicklung ist theoretisch auch beim nicht-dokumentarischen Film möglich und wahrscheinlich.) Als affektives Element wird wiederum der Film zum Bestandteil des Lebens des Zuschauers, seiner Realität. Die Hypothese lautet nun: Als Teil dieser „Realität“ wirken Strategien des Films durch den Zuschauer in der Realität fort, als Reaktion, Vorsatz, Einfluß, Konditionierung. Hier könnte sich der Unterschied zum nicht-dokumentarischen Film zeigen: in der Modifikation dieser Reaktionen.

Anschaulicher kann dieser Gedanke werden anhand der Betrachtung der Reaktionen auf Errol Morris‘ The Thin Blue Line und damit auf den „Fall Randall Adams“. Die Art der Reaktionen läßt sich in Bezug zur Dramaturgie von The Thin Blue Line setzen. Eine These dazu könnte lauten: Durch den Dokumentarfilm – und vielleicht gilt dies für jeden Film – wird die Lesart des Zuschauers der Welt gegenüber, in der sich beide (Film und Zuschauer) befinden, beeinflußt. Die Realität wird durch die am Film gelernten Strategien des Lesens bestimmt.

Eine Untersuchung dazu referiert natürlich auf das, was in der Folge des Films geschehen ist. An dieser Stelle sollen aber zuerst die Voraussetzungen, die der Film bietet: die filmischen Bestandteile, untersucht werden. Der rezeptionsorientierten Dokumentarfilm-Theorie scheint sich unter einem bestimmten Gesichtspunkt mit diesem Film ein besonders angemessener Untersuchungsgegenstand zu bieten: nämlich bezogen auf die Aktivität des Zuschauers. The Thin Blue Line hat ein enormes Echo hervorgerufen, wie weiter unten auch noch näher ausgeführt wird. Es gab zum Teil Reaktionen auf, zum Teil Fortführungen von im Film gezeigten oder antizipierten Handlungen. Man kann also im weitesten Sinn behaupten: die Zuschauer (also diejenigen, die diesen Film in irgendeiner Form rezipiert haben) waren aktiv. Und die Zuschaueraktivität wird vom genannten Theoriegebilde fokussiert. Diesem Film lässt sich also sehr wahrscheinlich die schon erwähnte „Auslöserfunktion“ zuschreiben. In der Folge dessen wird interessant, was darüber hinaus gehend der Film noch leistet. Zunächst erwächst daraus aber ein Interesse für den Aufbau, die Beschaffenheit des Films, der so etwas leistet. Und darauf soll der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegen, quasi als Vorarbeit und Grundlage der eher grundsätzlichen Fragestellungen, die mit dem genannten Funktionssystem entstehen, eben der Fragen nach dem, was ausgelöst wurde. Dabei muss allerdings betont werden, dass die angesprochene Wirkung auf den Zuschauer und dessen Rezeption hauptsächlich introspektiv und im Vergleich mit Sekundärtexten ermittelt wurden. Bezüglich der Kausalketten, die hier von filmischen Elementen zu folgenden Handlungen geknüpft werden, bewegt man sich natürlich hauptsächlich im Bereich der Vermutungen. Was aber nicht davon abhalten soll, die filmischen Elemente, die von Bedeutung sein könnten, einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Was für Überlegungen oder Aktionen sich hier anschließen, sei den Lesern überlassen...

The Thin Blue Line und die Folgen

Im Fall von Errol Morris‘ The Thin Blue Line lassen sich exemplarisch Interaktionsmuster beschreiben, die über die von Christof Decker genannte Auslöserfunktion hinausgehen. Anhand dieses Films lässt sich die Komplexität eines Ringens um Äußerungen zur Realität auf spannende Weise greifbar machen – ehemals Hauptanliegen dokumentarischer Bilder. Denn hier findet nicht nur eine filmische Behandlung der Realität statt, die Gegenstand eines Diskurses werden kann, sondern diese vorfilmische Realität selbst steht auf dem Prüfstand. Es geht nicht nur um die Plausibilität der filmischen Präsentation, um den „Wahrheitsgehalt“ der gefilmten Bilder und ihrer Zusammensetzung: Der Film verfolgt selbst eine Fährte und deckt die Strukturen von (juristischer) Wahrheitsfindung auf.

Zu dem Ineinander von Beweis und Widerlegung, Hypothese und naheliegendem Schluß gesellt sich die besondere Wirkungsgeschichte des Films: Eine Ebene, auf der Reales geprüft werden kann, bietet „das wahre Leben“, denn The Thin Blue Line hat ein Nachspiel, das sogar die Ungeheuerlichkeiten, die der Film dem Zuschauer präsentiert, in den Schatten stellt und in seiner Relevanz für Gedanken über die Schnittstelle oder die Durchdringung von nicht-fiktionalem Film und (vielleicht fiktionalem) Leben die vorliegenden Gedanken entscheidend gelenkt hat. Frank Kessler bestimmt im Rückgriff auf die Terminologie der Ecole de filmologie in seiner Arbeit Fakt oder Fiktion?[8] eine solche Beziehung wie folgt: „Das Afilmische ist also nicht allein der Bezugspunkt, auf den sich der filmische Text bezieht, es funktioniert gleichzeitig als ein Horizont, mit dem das im Film gezeigte immer wieder abgeglichen wird.“[9] Im Fall Randall Adams hat aber anscheinend eine extreme Umwertung dieses Satzes stattgefunden: Es scheint hier vielmehr so, als sei sein Leben, auf den Horizont des Films The Thin Blue Line bezogen, mit dem Filmischen abgeglichen und in Übereinstimmung gebracht worden.

[...]


[1] Odin, Roger: Dokumentarischer Film – Dokumentarisierende Lektüre. In: Blümlinger, Christa (Hg.): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien, 1990. S.286

[2] Ebd.

[3] Decker Christof: Die soziale Praxis des Dokumentarfilms. ZurBedeutung der Rezeptionsforschungfür die Dokumentarfilmtheorie. In: Montage / AV 1,1.

[4] Eitzen, Dirk: Wann ist ein Dokumentarfilm? Der Dokumentarfilm als Rezeptionsmodus. In: Montage / AV 7, 2 1998.

[5] Decker,

[6] Ebd., S.46

[7] Ebd., S.57f. (Kursiv im Original.)

[8] Kessler, Frank: Fakt oder Fiktion. Zum pragmatischen Status dokumentarischer Bilder. In: Montage / AV 7, 2 1998.

[9] Ebd., S.72f.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Das System The Thin Blue Line
Untertitel
Versuch eine Rezeption nachzuvollziehen
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Seminar für Filmwiss. am Institut für Theaterwissenschaft)
Veranstaltung
Dokumentarische Bilder, Dokumentarisierende Lektüre
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
25
Katalognummer
V4156
ISBN (eBook)
9783638125802
ISBN (Buch)
9783638638487
Dateigröße
563 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dokumentarfilm, Regisseur Errol Morris, Rezeptionsanalyse, Todesstrafe in den USA
Arbeit zitieren
M.A. Sibylle Meder Kindler (Autor:in), 2000, Das System The Thin Blue Line, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/4156

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