Wandel des polnischen Regierungssystems nach 1990


Seminararbeit, 2006

39 Seiten, Note: gut


Leseprobe


GLIEDERUNG

A. Einleitung
I. Phase I: Ausgehandelte Revolution (1989/1990 - 1991)
1. Wandel auf der Verfassungsebene
(1.) Neue Wahlordination zum Sejm und Einführung des Senats
(2.) Konstituierung des Präsidentenamtes
(3.) Neues Gesetzgebungsverfahren
(4.) Territoriale Selbstverwaltung
2. Regierungspraxis: Erste Lernphase in Sachen Demokratie
(1.) Die Wahlen vom 4. Juni 1989
(2.) Regierungspraxis
a. Präsident W. Jaruzelski (Juni 1989 - Dez. 1990)
b. Regierung von T. Mazowiecki (Sept. 1989 - Dez. 1990)
c. Präsident L. Waá sa in der I. Phase
d. Regierung von J. K. Bielecki (Aug. 1991 - Dez. 1991)
3. Ergebnis zur I. Phase des Wandels
II. Phase II: Cohabitation á la polonaise (1991 - 1997)
1. Die Situation vor Verabschiedung der Kleinen Verfassung
2. Die Kleine Verfassung: Ein Verfassungsprovisorium
(1.) Sejm und Senat: Schwächung zu Gunsten von Effektivität
(2.) Präsidentenamt: Schwächung zu Gunsten von Effektivität
(3.) Ministerrat: Stärkung zu Gunsten von Effektivität
(4.) Referendum
3. Regierungspraxis: Gezwungene Zusammenarbeit
(1.) Präsident L. Waá sa in der II. Phase: Präsident vs. Parlament
(2.) Regierung von J. Olszewski (Dez. 1991 - Juli 1992)
(3.) Regierung von H. Suchocka (Juli 1992 - Mai 1993)
(4.) Regierung von W. Pawlak (Oktober 1993 - März 1995)
(5.) Regierung von J. Oleksy (März 1995 - Januar 1996)
(6.) Präsident A. Kwa niewski in der II. Phase
(7.) Regierung von W. Cimoszewicz (Feb. 1996 - Okt. 1997)
4. Ergebnis zur II. Phase des Wandels
III. Phase III: Stabilisation des Regierungsystems? (1997 - bis heute)
1. Verfassung von 1997
(1.) Konkrete Bedeutung der Verfassung für das Regierungssystem
(2.) Änderungen gegenüber der Kleinen Verfassung
a. Präsidentenamt: Stärkung des Präsidentenamtes
b. Ministerrat: Wichtigstes Organ der Exekutive
2. Regierungspraxis: Runde Nr. 2 der Gezwungene Zusammenarbeit
(1.) Präsident A. Kwa niewski in der III. Phase
(2.) Regierung von J. Buzek (Okt. 1997 - Okt. 2001)
(3.) Regierung von L. Miller (Okt. 2001 - Mai 2004)
(4.) Regierung von M. Belka (Mai 2004 - Okt. 2005)
(5.) Regierung von K. Marcinkiewicz (amtierend seit Okt. 2005)
(6.) Präsident L. Kaczynski (amtierend seit Dez. 2005)
3. Ergebnis zur III. Phase des Wandels

B. Zusammenfassung und Ausblick

LITERATURVERZEICHNIS

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

GLOSSAR MIT DEUTSCHER ÜBERSETZUNG

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einleitung

Nach dem Fall des realen Sozialismus im Jahr 1989/90 folgte in Polen ein lang andauernder Wandlungsprozess zum demokratischen Regie- rungssystem. Polen nahm als letzter post-kommunistischer Staat das demokratische System, 1997, in eine Vollverfassung auf. Die Verzöge- rung erscheint ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Polen als Vor- reiter zum Untergang der kommunistischen Regierungsstruktur beige- tragen hat. Diese Arbeit soll einen Überblick über den langen polni- schen Wandlungsprozess vom kommunistischen zum semi- demokratischen präsidentiell-parlamentarischen Regierungssystem geben. Polen hatte zwar mit der Verfassung, vom 3. Mai 1791, die längste Verfassungstradition Europas, allerdings stand man 200 Jahre später vor anderen Problemen. Das damalige Regierungssystem brach komplett zusammen, das Rechts- und Wirtschaftssystem musste revidiert werden und die Politik war, ohne die sowjetische Großmacht, auf sich allein gestellt. Des Weiteren kam hinzu, dass die Gesellschaft sich nach einem demokratischen und souveränen Regierungssystem sehnte, für das es aber keine Vorbilder in Polen gab. Nach ca. 50 Jah- ren Kommunismus fehlte es an Erfahrung, um ein demokratisches System aufzubauen. Man musste zuerst vieles lernen. Somit erfolgte die Etablierung des demokratischen Regierungssystems nicht deduk- tiv, indem eine neue Verfassung verabschiedet wurde, sondern induk- tiv, indem das Regierungssystem Schritt für Schritt aufgebaut wurde und erst nachfolgend in die Verfassung fand. Deswegen ist es wichtig, sich neben dem Wandel auf der Verfassungsebene auch die Regie- rungspraxis anzuschauen. Wie ein roter Faden zieht sich der Einfluss der Regierungspraxis durch den Wandlungsprozess Polens.

Der Wandel des Regierungssystems war im großen Maße durch den Untergang des Kommunismus geprägt. Er begann im zweiten Halbjahr 1989 mit einer friedlichen Reformation des bestehenden kommunistischen Systems bis 1991. 1991 bis 1997 knüpfte eine Über- gangszeit mit dem Provisorium der Kleinen Verfassung an. Die Frage, ob der Wandel zum jungen demokratischen Regierungssystem mit der Verabschiedung einer Verfassung beendet wurde, soll in der dritten Wandlungsphase, 1997 bis heute, beantwortet werden.

I. Phase I: Ausgehandelte Revolution (1989/1990 - 1991)

Aufgrund der Streiks der 90er Jahre[1] folgte 1989 eine schwere Krise in allen Bereichen des politischen Lebens in Polen. Es blieb diesmal nicht nur bei einer internen Parteikrise der PZPR[2], sondern es wurde das gesamte Regierungssystem der sozialistischen Führung, öffentlich und breitflächig, angezweifelt.[3] Aufgrund der Misserfolge und der wach- senden Popularität der Solidarnoüeröffnete man letztendlich den Dia- log am Runden Tisch[4]. Dieser sollte den Anfang für den Wandel vom kommunistischen zum demokratischen Regierungssystem bilden.

1. Wandel auf der Verfassungsebene

Die Vereinbarungen des Runden Tisches vom 5. April 1989, wurden in Form der Verfassungsnovelle des 7. April 1989[5] vom Sejm angenom- men. Teilweise freie Wahlen zum Sejm wurden eingeführt, der Senat und das Amt des Präsidenten wiedereingeführt, ein neues Gesetzge- bungsverfahren eingeleitet und die territoriale Selbstverwaltung einge- führt.

(1.) Neue Wahlordination zum Sejm und Einführung des Senats

Die Sitze im Sejm konnten zu 35 Prozent frei vom Volk gewählt werden. Allerdings wurden den Kommunisten 65 Prozent der Plätze im Sejm eingeräumt. Der wieder eingeführte Senat wurde zwar zu 100 Prozent frei gewählt, konnte aber von der kommunistischen Mehrheit im Sejm überstimmt werden. Folglich wurden demokratische Freiheiten nur soweit wie nötig zugelassen.

(2.) Konstituierung des Präsidentenamtes

Der Präsident wurde mit weit reichenden Kompetenzen ausgestattet. Er wurde zum höchsten innerstaatlichen und außerstaatlichen Reprä- sentanten[6] und sollte vom Sejm und vom Senat gemeinsam gewählt werden. Er hatte das alleinige Initiativrecht den Ministerpräsidenten vorzuschlagen. Dieser musste bei der Regierungsbildung den Präsi- denten konsultieren. Er konnte die Regierung und den Sejm auflösen, wenn diese seine Kompetenzen tangierten. Darüber hinaus bekam er ein Gesetzesinitiativrecht und konnte den Ausnahmezustand ausru- fen.[7] Durch die Einführung des Präsidentenamtes, auf Grund seiner Kompetenzen und der Versicherung, dass der Präsident aus dem kommunistischen Lager gewählt werden sollte, erhofften sich die Kommunisten den Machterhalt durch richterliche Entscheidung und militärische Durchsetzungskraft.[8] Trotz der Befürchtung, dass ein star- ker kommunistischer Präsident die Entwicklung zur freien Demokratie hemmen würde, willigte die Opposition letztendlich ein, weil man den erkämpften Kompromiss über die teilweise freien Wahlen zum Sejm nicht gefährden wollte.[9]

(3.) Neues Gesetzgebungsverfahren

Das Recht zur Gesetzesinitiative sollte den Abgeordneten des Sejm, den Senatoren, dem Ministerrat und dem Präsidenten zustehen. Damit sollten alle Verfassungsorgane in das Gesetzgebungsverfahren einge- bunden werden. Allerdings spielte die kommunistische Mehrheit im Sejm auch hier eine enorme Rolle, so dass zwar formell alle Verfas- sungsorgane an der Gesetzgebung beteiligt waren, die kommunisti- sche Mehrheit im Sejm aber alle Organe überstimmen konnte und so- mit de facto nur kommunistische Gesetzesvorlagen Gesetzeskraft er- langen konnten.[10]

(4.) Territoriale Selbstverwaltung

Die territoriale Selbstverwaltung wurde als grundlegende Form der lo- kalen öffentlichen Organisation eingeführt. Die Einheiten der Selbst- verwaltung bekamen die Rechtsfähigkeit zugesprochen. Die funda- mentale und kleinste Einheit der Selbstverwaltung war die Gmina. Da- nach folgten Powiat und Wojwodschaft. Letztere sollten aber durch ein formelles Gesetz geregelt werden.[11] Die Selbstverwaltung führt ihre gesetzlichen Aufgaben eigenständig unter dem Vorbehalt der aus- schließlichen Kompetenzen der Regierung aus. Die Konstruktion der Selbstverwaltung vereinigte das Ziel der lokalen und zentralen Regie- rung.[12] Beispielhaft dafür ist die Teilung der Exekutivgewalt in der Wojwodschaft. Einerseits wurde diese dem Wojewoden und anderer- seits dem Marschall zugeteilt. Der Wojewode war Vertreter der Regie- rung in Warschau und unterlag deren Weisungen. Der Marschall wur- de von der regionalen Versammlung[13] gewählt und unterlag nur den Weisungen dieser. Die Einheiten der territorialen Selbstverwaltung durften innerhalb der ihnen gesetzlich zugesprochenen Kompetenzen frei über die interne Organisationsstruktur entscheiden. Mit der Auf- nahme der territorialen Selbstverwaltung in die Verfassung des Run- den Tisches folgte man den demokratischen Grundsätzen der Dekon- zentration und der Dezentralisation. Einerseits delegierte die Regie- rung Aufgaben an die zuständigen lokalen Organe und andrerseits durften diese nach eigenem Ermessen selbst entscheiden und han- deln.[14]

2. Regierungspraxis: Erste Lernphase in Sachen Demokratie

(1.) Die Wahlen vom 4. Juni 1989

Aufgrund der Wahlen vom 4. Juni 1989 erreichte die Solidarnoüalle 35 Prozent der Mandate im Sejm und 99 Prozent der Mandate im Se- nat.[15] Die kommunistische Partei PZPR verlor ihr Machtmonopol und damit zugleich ihre Koalitionspartner ZSL und SD. Damit machte das Wahlergebnis eine Regierungsbildung mit der Solidarnoüunumgäng- lich.[16] Die bisherigen außerparlamentarischen Oppositionskräfte wurden mit der Regierungsbildung beauftragt und übernahmen somit die Verantwortung für den weiteren Wandlungsprozess.

(2.) Regierungspraxis

Nach den Wahlen vom 4. Juni 1989 wurde der Wandlungsprozess vor allem durch den Präsidenten und die Regierungskabinette bestimmt.

a. Präsident W. Jaruzelski (Juni 1989 - Dez. 1990)

Die stark präsidentiell geprägten Vereinbarungen des Runden Tisches bestanden aufgrund des Wahlergebnisses 1989 nur auf dem Papier. Durch den Erdrutschsieg des Solidarno ü-Lagers entstand eine Situa- tion in der der Sejm, und vor allem der Senat demokratisch legitimiert waren, der Präsident jedoch lediglich auf Grund der Runden-Tisch- Vereinbarung ins Amt gekommen war und damit nur über eine schwa- che Legitimationsbasis verfügte.[17] Die Situation verschärfte sich da- durch, dass die Vereinigte Bauernpartei ZSL, der Polnische Katho- lisch-Soziale Verband PZKS und die Demokratischen Partei SD zum Solidarno ü-Lager übergetreten waren und die Opposition damit eine faktische Mehrheit von 57 Prozent der Sitze im Sejm besaß. Jaruzelski musste diese Situation akzeptieren und machte von seinen verfas- sungsrechtlichen Kompetenzen kaum Gebrauch.[18] Somit wurde der erste nicht kommunistische Premierminister T. Mazowiecki vom kom- munistischen Präsidenten Jaruzelski bestätigt. General Jaruzelski war mithin viel mehr Chef des untergehenden kommunistischen Regimes, als Präsident einer jungen Demokratie.

b. Regierung von T. Mazowiecki (Sept. 1989 - Dez. 1990)

Obwohl das Kabinett Mazowiecki nur fünfzehn Monate regierte, kam es zu fundamentalen Änderungen der Verfassung des Runden Ti- sches. Jegliche Gewalt sollte vom Volk ausgehen, die Republik Polen sollte ein demokratischer Rechtstaat werden, welcher den politischen Pluralismus erlaubt und mit der Staatsbezeichnung III. Rzeczpospolita an die II. Republik, vor dem Zweiten Weltkrieg, anknüpft. Im 6. Kapitel der novellierten Verfassung wurde die territoriale Selbstverwaltung eingeführt. Damit wurde die kommunistische Machtzentralisierung au- ßer Kraft gesetzt. Die wichtigste Änderung kam allerdings mit der Ein- führung von unmittelbaren, gleichen, freien und geheimen Präsiden- tenwahlen sowie Sejm- und Senatwahlen zu.[19] Trotz dieser Vielzahl wichtiger Änderungen konnte sich die Regierung unter T. Mazowiecki nicht lange halten. Der Grund dafür war die starke Uneinigkeit inner- halb der Regierung, welche durch Vertreter der kommunistischen PZPR herbeigeführt wurde. Diese wurden trotz der Wahlniederlage in das Kabinett aufgenommen.[20] Dieser Umstand lässt sich dadurch er- klären, dass das demokratische Lager, nach jahrelanger außerparla- mentarischer Opposition kein ausgebildetes Personal besaß und somit auf das Personal der PZPR zurückgreifen musste.[21] Leider erwies sich dieses Personal nicht sehr hilfreich, weil es zum demokratischen Re- gieren unfähig war. In den Jahren des realen Sozialismus wurde den Politikern die Chance genommen, horizontal und zweckdienlich zu ar- beiten. Man schulte sie vertikal, indem man den Vorgesetzten Bericht erstattete und dann weitere Weisungen abwarten sollte.[22] Aufgrund der Unfähigkeit der Konsensfindung innerhalb des Kabinetts musste der neu gewählte Präsident, Lech Waá sa, deshalb bereits im August 1991 eine neue Regierung berufen.

c. Präsident L. Waá sa in der I. Phase

Mit der Wahl Lech Waá sa und der vorherigen Änderung des Präsiden- tenwahlrechts, traten die Vereinbarungen des Runden Tisches faktisch außer Kraft.[23] Nachdem Lech Waá sa im Dezember 1990 zum ersten freien Präsidenten gewählt wurde, nutzte er diese Legitimationsbasis gegenüber dem halbfrei gewählten Sejm. Somit konnte er 1991 sei- nen Kandidaten, Jan Krzysztof Bielecki, für das Ministerpräsidenten- amt durchsetzen. L. Waá sa war als Gewerkschaftsführer und haupt- verantwortlicher Oppositioneller bei den Gesprächen des Runden Ti- sches eine führende Position gewohnt und forderte somit eine starke Präsidentenrolle. Aufgrund der starken Fraktionierung des Sejm und seinem hohen gesellschaftlichen Ansehen, aufgrund der Verdienste während der Streiks der Danziger Leninwerft, sah er sich in seiner Forderung bestätigt. Seine Rolle wurde aufgrund der Unklarheiten der Runden-Tisch-Verfassung nicht klar definiert und erlaubte somit einen großen Auslegungsspielraum. Deswegen wurde die Amtszeit Waá sas während der ersten Phase des Wandels durch offene Streitigkeiten zwischen dem Präsidenten, dem Sejm und zwischen den Parteien ge- prägt. Sie mündete mithin in eine instabile politische Lage, welche die Beschäftigung mit dem weiteren Wandlungsprozess erschwerte.[24] Lech Waá sa, hatte zwar viel zum Untergang des Kommunismus bei- getragen, jedoch war er viel mehr kompromissloser Gewerkschafter als kompromissbereiter Präsident.

d. Regierung von J. K. Bielecki (Aug. 1991 - Dez. 1991)

Nach der Resignation der Mazowiecki Regierung, konnte die Regie- rung unter Bielecki nicht viel zum Wandlungsprozess beitragen. Auf- grund der bevorstehenden Wahlen wurde sie als Übergangsregierung abgestempelt und die Fraktionen kümmerten sich um keine Stabilität.[25] Als Folge wurden Personen ohne parlamentarische Bindung und Lob- byisten berufen, welche aufgrund fehlender Kooperation in ihrer Hand- lungsweise begrenzt waren. Letzteres erklärt auch warum viele gesell- schaftliche und wirtschaftliche Reformen außerhalb des Parlaments initiiert wurden und damit nicht dem neuen Regierungssystem, son- dern nur Partikularinteressen dienten.

3. Ergebnis zur I. Phase des Wandels

Das kommunistische Regime in Polen konnte 1989/90 die Monopol- stellung nicht mehr halten. Da man Angst vor dem totalen Machtverlust durch eine Revolution hatte, schwenkte man mit den Vereinbarungen am Runden Tisch in einen Reformkurs ein. Dieser Kompromiss ist als Logik der Machtteilung zwischen den alten Eliten und der Opposition zu verstehen, die in den institutionellen Regelungen ihren Nieder- schlag fand. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass demokratische Einrichtungen einfach nur über das alte Regierungssystem überge- stülpt wurden. Mithin wurde auf der verfassungsrechtlichen Ebene kein wirkliches demokratisches Regierungssystem etabliert.

Auf der Ebene der Regierungspraxis lässt sich das Gegenteil ausmachen. Die Regierungspraxis bestimmte den Wandlungsprozess viel mehr. Zwar konnten sich die neu gewählten Regierungsvertreter aufgrund der langen außerparlamentarischen Opposition und der feh- lenden demokratischen Organisationskultur nicht lange in ihren Ämtern halten, allerdings ist viel wichtiger, dass sie diese Ämter überhaupt be- setzten konnten. Sie bekamen nämlich damit zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg die Chance sich in den ihnen neu zugewiesenen Rollen einzuüben und die Szene der Regierung zu betreten. Jeder Wandel braucht seinen Anfang und der Anfang des Wandels des pol- nischen Regierungssystems lag in dem Erlernen der demokratischen Organisationskultur. Diese Lernphase trug auch Früchte, indem man trotz der kurzen Amtszeiten freie, gleiche, geheime und unmittelbare Präsidenten-, Sejm-, und Senatwahlen einführte. Die Gespräche am Runden Tisch brachten nur halbfreie Wahlen zum Sejm hervor. Dage- gen brachte die Regierungspraxis, hier vor allem die Regierung unter Mazowiecki, komplett freie Wahlen zu den wichtigsten Verfassungsor- ganen hervor. In der ersten Phase des Wandels war die Regierungs- praxis somit einem demokratischen Regierungssystem näher als die Verfassung, indem nicht die Verfassung das Regierungsleben beein- flusste, sondern vielmehr die Regierungspraxis die Verfassung verän- derte.

II. Phase II: Cohabitation á la polonaise (1991 - 1997)

Die II. Phase wurde mit den Wahlen, im Oktober 1991, eingeleitet. Der Charakter der zweiten Phase des Wandlungsprozesses unterscheidet sich hinsichtlich der Rolle der Regierungspraxis von dem der ersten Phase. Nach der ersten Phase hatte man zwar ein demokratisches Regierungssystem, aber dieses war geschwächt durch Streitigkeiten aufgrund fehlender verfassungsrechtlicher Klarheit. Mithin musste das junge instabile Regierungssystem durch eine Verfassung abgesichert und stabilisiert werden. Man musste somit die Regierungspraxis auf Fehler untersuchen und dann eine Grundordnung schaffen. Für das Verständnis der II. Phase ist somit erstens die Darstellung der Lage vor der Verabschiedung der Kleinen Verfassung notwendig, zweitens die Darstellung der Regelungen der Übergangsverfassung, sog. Kleine Verfassung[26], und letztendlich die Darstellung des Regierungssystems unter der Kleinen Verfassung.

1. Die Situation vor Verabschiedung der Kleinen Verfassung

Die Verfassung Polens unterscheidet sich 1991 nur aufgrund der in der I. Phase bereits besprochenen Modifizierungen[27] von der stalinisti- schen Verfassung von 1952. Aufgrund der Verfassungsnovellen und der zahlreichen Korrekturen durch die Regierungspraxis, ähnelte diese einem Flickenteppich. Es gab zwar eine wiedererlangte Souveränität und eine demokratisch legitimierte Regierung, aber nur eine zusam- mengeflickte Verfassung, welche keine klaren Aussagen hinsichtlich der einzelnen Regierungsorgane machte. Mit dieser Konstellation woll- te man sich nicht zufrieden stellen.

Mithin war der am 27. Oktober 1991 frei und demokratisch ge- wählte Sejm berufen, eine neue Verfassung zu verabschieden und damit das neue Regierungssystem verfassungsrechtlich abzusichern. Stimuliert wurde diese Berufung durch den gesellschaftlichen Wunsch nach einer „Vollverfassung“ für Polen. Man verabschiedete somit zu- erst ein Verfassungsgesetz über das Verfahren der Vorbereitung und Verabschiedung der Verfassung der Republik Polen, welches das weitere Vorgehen regeln sollte. Dieses Gesetz, vom 23. April 1992, erklärte in Art. 12 Abs. 2 Verfassungsgesetz die noch geltende Verfas- sung zu einem vorläufigen Rechtsakt und machte damit eigentlich den Weg frei für die Vorbereitung einer neuen Vollverfassung. Allerdings wurde aufgrund der großen Parteienpluralität im Sejm schnell deutlich, dass die Arbeiten an einer neuen Grundordnung lange andauern wür- den.[28] Vor allem wurden die Arbeiten an einer neuen Vollverfassung durch die Streitigkeiten zwischen den Regierungsorganen erschwert. Erwähnenswert erscheint hier der Streit des Präsidenten Lech Waá sa mit dem Sejm. Dabei ging es vor allem um die weitere Ausrichtung des Regierungssystems. Waá sa forderte ein präsidentielles Regierungs- system und der Sejm ein parlamentarisches Regierungssystem. Letzt- endlich einigte man sich auf einen Kompromiss. Man vereinbarte, dass die Kleine Verfassung erst einmal ein präsidentiell-parlamentarisches Regierungssystem vorsehen sollte und verlagerte den Streit auf die Ebene der Ausarbeitung einer neuen Vollverfassung.

Nach mehreren Änderungen durch den Senat wurde somit zu- erst am 17. Oktober 1992 das Verfassungsgesetz über die gemeinsa- men Verhältnisse zwischen der gesetzgebenden und der vollziehen- den Gewalt der Republik Polen[29] verabschiedet. Das erwähnte Gesetz wurde kurz darauf die Kleine Verfassung genannt. Der Name der Klei- nen Verfassung sollte ihren Übergangscharakter bis zur Verabschie- dung der zukünftigen Verfassung der Republik Polen verdeutlichen.[30]

2. Die Kleine Verfassung: Ein Verfassungsprovisorium

(1.) Sejm und Senat: Schwächung zu Gunsten von Effektivität

In der Kleinen Verfassung wurde zum ersten Mal nach dem II. Welt- krieg die institutionelle und funktionelle Gewaltenteilung einge- führt.[31] Die gesetzgebende Gewalt wurde dem Sejm und dem Senat, die ausführende Gewalt dem Präsidenten sowie dem Ministerrat und die rechtsprechende Gewalt den Gerichten zugesprochen. Das Man- dat des Abgeordneten und des Senatoren wurde gestärkt, indem mit Art. 6 Kleine Verfassung das freie Mandat eingeführt wurde und gem. Art. 7 Abs. 1 Kleine Verfassung die Immunität des Parlamentariers nicht mehr als Garantie, sondern als kodifiziertes Prinzip eingeführt wurde. Die Wahlordination zum Sejm und zum Senat, welche zuvor auf der Ebene eines formellen Gesetzes durch die Mazowiecki Regie- rung ausgearbeitet wurde[32], fand den Weg in die Verfassung. Der Grundsatz der freien, gleichen, geheimen und unmittelbaren Wahl wurde verfassungsrechtlich abgesichert.[33] Der Sejm und der Senat bekamen das Recht der Selbstauflösung zugesprochen.[34] Letztendlich wurde jedoch die Rolle des Sejm zurückgeschraubt. Damit wollte man den Sejm zu einer kompromissbereiteren Arbeit zwingen.[35] So wurde das Vetorecht des Sejm gegen Verordnungen des Ministerrates abge- schafft und somit dem Sejm die Möglichkeit genommen den Ministerrat zu blockieren.

[...]


[1] Kallas, Historia ustroju Polski X-XX w., S. 517.

[2] Ajnenkiel, Konstytucje RP 1719-1997, S. 340.

[3] Skrzydáo, Polskie prawo konstytucyjne, S. 68.

[4] Strobel, Politisches System, in: „Das Parlament“ vom 16. März 1990, S. 7.

[5] Banaszak, Prawo konstytucyjne, S. 24.

[6] Ziemer/Matthes: Politische Sys. Polens; in: Ismayr, Die politischen Sys., S. 185.

[7] Ajnenkiel, Konstytucje RP 1719- 1997, S. 345.

[8] Wic, Demokracja, S. 114.

[9] Banaszak, Prawo konstytucyjne, Rn. 17.

[10] Mazurkiewicz, in: Jerzma ski, Piülat konstytucji RP, S. 7.

[11] Ajnenkiel, Konstytucje RP 1719 - 1997, S. 363.

[12] Pernetta, Economics & Politics in Present Day Poland, p. 22.

[13] Die regionale Versammlung wurde in der Kleinen Verfassung Sejmik genannt.

[14] Pernetta, Economics and Politics in Present Day Poland, p. 23.

[15] Skrzydáo, Polskie prawo konstytucyjne, S. 79.

[16] Michnik, Gazeta Wyborcza vom 3. Juli 1989, S. 2.

[17] Ziemer/Matthes: Politische Sys. Polens; in: Ismayr, Die politischen Sys., S. 193.

[18] Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne, S. 18.

[19] Verfassungsnovelle vom 10.05. 1991.

[20] Lisicka, System polityczny RP, S. 210.

[21] Matyja, Przywodnictwo i instytucyje, S. 13, in: Jackiewicz, Budowanie Instytucji.

[22] Morawski, Zmiana instytucjonalna, S. 19, 20.

[23] Skrzydáo, Polskie prawo konstytucyjne, S. 82.

[24] Shugart/Carey (1992), S. 23f.

[25] Lisicka, System polityczny RP, S. 210.

[26] Der Begriff „Kleine Verfassung“ leitet sich von der Verfassung von 1919 ab. Diese diente nur als Provisorium.

[27] vgl. II., 1., (1.), (2.) und (3.).

[28] Skrzydáo, Polskie Prawo konstytucyjne, S. 85.; Bardach/Le nodorski/Pietrzak, S. 40.

[29] Dz.U., vom 23.11.1992, Nr. 84, poz. 426.

[30] vgl. Präambel der Kleinen Verfassung: “…zum Zwecke der Regulierung der staatli- chen Gewalt, bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung der Republik Polen…“.

[31] Sokolewicz, Rozdzielone, S. 27.

[32] Wiktor, Wizja parlamentu w nowej konstytucji RP, S. 33.

[33] Ajnenkiel, Konstytucje RP 1719 - 1997, S. 358.

[34] Selbstauflösung des Sejms und des Senats bei einer drei Viertel Mehrheit der jeweiligen Kammer.

[35] Ajnenkiel, Konstytucje RP 1719 - 1997, S. 358.

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Wandel des polnischen Regierungssystems nach 1990
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Ostrecht )
Veranstaltung
Seminar zum Ostrecht
Note
gut
Autor
Jahr
2006
Seiten
39
Katalognummer
V63729
ISBN (eBook)
9783638567053
ISBN (Buch)
9783638669504
Dateigröße
581 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Unter der Leitung von Professor Dr. iur. Luchterhand
Schlagworte
Wandel, Regierungssystems, Seminar, Ostrecht
Arbeit zitieren
Martin Sebastian Smagon (Autor:in), 2006, Wandel des polnischen Regierungssystems nach 1990, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63729

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