Friedrich Hollaender und das Kabarett im Berlin der 20er Jahre und seine Wirkungsgeschichte


Examensarbeit, 2006

74 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zur Biografie
2.1 Musikalischer Werdegang
2.1.1 Filmmusik
2.2 Emigration in die Vereinigten Staaten
2.3 Rückkehr nach Deutschland

3 Hollaender und das Kabarett im Berlin der 20er Jahre
3.1 Zur Entstehung des Kabaretts
3.1.1 Die Entwicklung von 1901-1918
3.1.2 Politisch-literarisches Kabarett
3.1.3 Zur Terminologie Kabarettchanson und Schlager
3.1.4 Kabarettrevuen
3.2 Hollaender als Kabarettautor
3.2.1 Zur kabarettistischen Entwicklung Hollaenders
3.2.1.1 „Lieder eines armen Mädchens“
3.2.1.2 „Das Nachtgespenst“
3.2.1.3 Die literarische Kabarettrevue
3.2.2 Hollaenders Kabarett-Theater

4 Zur Wirkungsgeschichte Friedrich Hollaenders
4.1 Zur Kulturpolitik der Weimarer Republik
4.1.1 Politische und ökonomische Voraussetzungen
4.1.2 Kulturelle und ideologische Voraussetzungen
4.1.3 Entartete Musik
4.2 Politische Chansons
4.2.1 „An allem sind die Juden schuld!“
4.3 Hollaenders Kabarett im Wandel der Zeit
4.3.1 These zum Kabarett
4.3.2 Absage an das Kabarett
4.4 Stilistische Aspekte

5 Ausblick

6 Literatur- und Quellenverzeichnis

Text- und Notenbeispiele

Anhang

1 Einleitung

In der folgenden Ausarbeitung wird der Komponist, Musiker und Schriftsteller Friedrich Hollaender vorgestellt.

Ziel dieser Arbeit ist es, einen Ausblick auf das Leben und das Werk Hollaenders im Kabarett der 20er Jahre in der Stadt Berlin zu geben. Sein Werdegang und seine Einflussnahme auf das Kabarett der 20er Jahre sollen anhand ausgewählter musikalischer Beispiele dargestellt werden. Aus dem umfangreichen musikalischen Oeuvre des Komponisten steht somit exemplarisch das Chanson im Vordergrund dieser Ausarbeitung.

Das erste Kapitel führt in die Lebensgeschichte Hollaenders ein. Das folgende Kapitel beleuchtet Hollaenders kabarettistischen Werdegang von 1919 bis 1933. Die Darstellung der Entwicklung des Kabaretts zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in der Stadt Berlin soll die Grundlage für das Verständnis und die Bewertung der Rolle Hollaenders in diesem Kontext bilden.

Das dritte Kapitel beginnt mit einem Exkurs zur Kulturpolitik der Weimarer Republik. Die politische und kulturelle Entwicklung von 1919 bis 1933 steht in direktem Zusammenhang mit Hollaenders Leben und seinem beruflichem Werdegang. Nach anfänglichem Widerstand muss er sich in die Emigration begeben. Zeugnis dieses Widerstands sind auch heute noch einige seiner Chansons. Diese Lieder sind nicht mehr so präsent wie z. B. Von Kopf bis Fuß aus dem Film Der blaue Engel, dennoch zeigen sie den Weg des Komponisten in einer für Deutschland schwierigen Zeit des vergangenen Jahrhunderts auf. Die Darstellung der Rolle Hollaenders im Kabarett der 50er Jahre wird im darauf folgenden Kapitel Gegenstand der Betrachtung sein. Die Beleuchtung einiger allgemeiner stilistischer Aspekte hinsichtlich seiner Kompositionen schließt das Kapitel zur Wirkungsgeschichte Friedrich Hollaenders.

Die ausgewählten Hörbeispiele liegen in Form einer CD bei. Die Ziffer in der Klammer verweist auf das jeweilige Musikbeispiel.

2 Zur Biografie

Friedrich Hollaender wird am 18. Oktober 1896 in London geboren. Seine Eltern sind beide bei dem Wanderzirkus Barnum & Bailey angestellt, der Vater als Dirigent der Zirkuskapelle, die Mutter als Sängerin. Vier Jahre nach der Geburt des Sohnes siedelt die jüdische Familie nach Berlin um. Dort wird der Vater Victor Hollaender (1866-1940) musikalischer Leiter der Metropol-Revue, schreibt Opern, Operetten und Klaviermusik und macht sich durch deren Veröffentlichungen einen Namen. Er ist zudem Mitbegründer des ersten Kabaretts in Deutschland, das von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934) im Jahr 1901 in Berlin gegründet wird. Die Lieder von Victor Hollaender werden von derzeit bekannten Sängern und Sängerinnen wie z. B. Fritzi Massary (1882-1969) uraufgeführt und erreichen so einen hohen Bekanntheitsgrad. Der Sohn Friedrich nimmt Teil an dem öffentlichen, musikalischen Leben. Angesichts der musischen Bildung des Vaters erscheint es nicht verwunderlich, dass der Sohn ebenfalls ein musikalisches Interesse entwickelt. Dieses zeigt sich bereits im frühen Kindesalter. Der Junge erhält Unterricht in Komposition und im Klavierspiel und vertont eigene Texte.

2.1 Musikalischer Werdegang

Friedrich Hollaender wächst in einem intellektuellen, toleranten Umfeld auf, das von Familiennachmittagen mit gemeinsamen musikalischen Darbietungen oder Diskussionen geprägt ist. Im familiären Rahmen übt er das Improvisieren am Klavier und führt dieses als Dreizehnjähriger auch öffentlich vor.

In den Berliner Kinos werden kleine 5-Minuten-Stummfilme gezeigt, die zusammengefasst zu einem viertelstündigen Programm in einer endlosen Wiederholung vorgeführt werden. Dazu werden am Klavier Salonstücke und Ouvertüren vorgetragen. Hollaender übernimmt an einigen Nachmittagen die musikalische Begleitung der Filme, denn ihn ärgerten die musikalischen Untermalungen, die nie zur Handlung passen wollten.[1]

Im Alter von 16 Jahren stellt sich Hollaender an der Berliner Hochschule für Musik bei Engelbert Humperndick (1854-1920) vor, der dort eine Meisterklasse für Komposition leitet. Der Vortrag einer eigenen Vertonung des Gedichtes Frühlingswind von Hugo von Hoffmannsthal (1874-1929) ist sehr erfolgreich und wird mit einem Stipendium honoriert.

Im Jahr 1915 tritt Hollaender in Prag sein erstes Engagement als Korrepetitor an. Im selben Jahr wird er zum Kriegsdienst eingezogen. Er ist als Klavierspieler und Dirigent für die musikalische Unterhaltung der Soldaten verantwortlich. Als musikalischer Leiter des Deutschen Theaters an der Westfront dirigiert er 1917 in Frankreich unter anderem auch die Operetten seines Vaters.

Das Kriegsende erlebt Hollaender in Berlin. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches bleiben die erwarteten politischen Veränderungen aus. Das sorgt besonders in intellektuellen Kreisen für Unruhe und oppositionellen Kampfgeist gegen das bestehende politische System. Diese Jahre beschreibt Hollaender mit folgendem Zitat:

O du mein Deutschland! Es bekam seine Revolution wie der Säugling die erste Klapper, es wußte nichts damit anzufangen. Es klapperte ein bißchen, aber nicht genug.[2]

Während dieser Zeit arbeitet Hollaender an der Bühnenmusik zu dem Stück Die Wupper von Else Lasker-Schüler (1869-1945). Das Werk wird im Jahr 1919 in Berlin im Deutschen Theater uraufgeführt. Durch die erfolgreiche Premiere ist Max Reinhardt (1873-1943) auf Hollaender aufmerksam geworden und engagiert ihn als musikalischen Leiter für sein neu gegründetes Kabarett-Theater Schall und Rauch. Der Komponist soll die politisch-satirischen Texte für das „Kabarett“ vertonen, das hinweisend auf die neuen politischen Inhalte mit „K“ und nicht mehr mit „C“ geschrieben wird (siehe Kapitel 3.1.2).

In diesem Jahr lernt Friedrich Hollaender die Schauspielerin Blandine Ebinger (1899-1993) kennen und heiratet sie wenige Wochen später. Die Ehe, aus der ein gemeinsames Kind hervorgegangen ist, wird im Jahr 1926 geschieden. Im Laufe seines Lebens heiratet Hollaender vier Mal und wird Vater zweier Töchter.

In den folgenden Jahren arbeitet er weiterhin für verschiedene Kabarett-Theater bis er 1931 sein eigenes Kabarett eröffnet. Die Jahre 1919 – 1931 sowie Hollaenders Wirken im Kabarett dieser Zeit werden im Kapitel 3.2 beschrieben.

2.1.1 Filmmusik

Neben seinen Werken für die Kabarett- und Theaterbühnen komponiert Hollaender auch Filmmusik. Die erste Filmmusik des Komponisten entsteht im Jahr 1929 durch einen Zufall. Hollaender begleitet die Schauspielerin Lucie Mannheim (1895-1976) bei ihrem Vorsingen für die Rolle der Lola in dem Film Der Blaue Engel am Klavier. Von Kopf bis Fuß nennt Hollaender den Text, den er auf Bitten des Regisseurs Josef von Sternberg (1894-1969) aus dem Stegreif zu der ebenfalls improvisierten Melodie vorträgt. Sternberg ist von diesem Entwurf sehr angetan und somit schreibt Hollaender die Lieder für den Film der Blaue Engel, dessen Vorlage der Roman Professor Unrat aus dem Jahr 1903 von Heinrich Mann (1871-1950) ist. Von Kopf bis Fuß (1) oder Kinder, heut’ abend such ich mir was aus (2) und Ich bin die fesche Lola (3) singt die bis dahin noch unbekannte Schauspielerin Marlene Dietrich (1901-1992) in der Rolle der Lola. Hollaenders Chansons sind von diesem Moment an untrennbar mit der Karriere der Schauspielerin und Sängerin verknüpft. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Film – Filmsong – und Hauptdarstellerin tragen zum Erfolg des Filmes bei. Der von Sternberg inszenierte und durch die Musik von Hollaender unterstützte Ausdruck der Filmfigur Lola prägt auch das Bild der Dietrich in besonderer Weise und ist somit wegweisend für ihre Karriere.

Für Friedrich Hollaender ist der Erfolg dieses Filmes ebenfalls wichtig. In den Jahren im Exil wird er sich beinahe ausschließlich dem Genre Filmmusik widmen. Dieser Lebensabschnitt wird im folgenden Kapitel beschrieben.

2.2 Emigration in die Vereinigten Staaten

Von 1929 bis 1933 ist Hollaender erfolgreich in seiner Arbeit als Komponist z. B. für die Babelsberger Filmstudios und als Inhaber eines eigenen Kabaretts (siehe Kapitel 3.2.2). Des Weiteren arbeitet er als Kolumnist für die Berliner Presse und schreibt kleine Mehrzeiler über gesellschaftliche Ereignisse.

Die Bedrohung durch die Nationalsozialisten zwingt Hollaender im Frühjahr 1933 in die Emigration. Mit seiner zweiten Ehefrau Hedi Schoop verlässt er Deutschland.

Man muß kein Gangster sein, um von der Polizei gejagt zu werden. Es genügt, einer Gruppe anzugehören, deren Nase der Polizei nicht paßt, dann wird die Polizei zum Gangster. Bist du einmal der Gejagte, kannst du ein noch so blutsbrüderliches Mitglied deiner Bande sein: sobald dir zur Gewissheit wird, daß die Hunde deine Spur haben, steigst du sehr schnell aus dem Kollektiv aus. Du bist exklusiv geworden: es geht um deine Haut. So ist die Natur des Menschen, wenn’s ihm an den Kragen geht. Nicht Mangel an Solidarität ist das. Es ist das große Alleinsein, der Adjutant des Todes.[3]

Mit diesen Worten spiegelt Hollaender Jahre später in seiner Autobiografie Von Kopf bis Fuß[4] seine Emotionen während der Flucht wieder und beschreibt die Enttäuschung über die Ausgrenzung und Bedrohung, die ihm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 widerfahren ist.

Nach ihrer Flucht haben Hollaender und Schoop einen kurzen Aufenthalt in Paris, wo sie, wie viele Deutsche, auf eine Einreiseerlaubnis für die Vereinigten Staaten warten. Die Künstler und Künstlerinnen, die ihr Heimatland verlassen mussten, stehen einer ungewissen Zukunft gegenüber. Die psychische Belastung ist für die Auswanderer sehr groß. Viele von ihnen überleben das Exil nicht, da sie aus Kummer den Freitod wählen oder aus Heimweh krank werden.[5] Einem Großteil der Auswanderer ist eine spätere Karriere z. B. aufgrund sprachlicher Hindernisse verwehrt. Zudem wird nicht allen die Einreise in den Vereinigten Staaten gewährt. Hollaender verdankt dem Erfolg seiner Filmmusik zu Der Blaue Engel ein befristetes Arbeitsangebot aus Kalifornien, das dem Ehepaar die Einreise in die Vereinigten Staaten ermöglicht.

Die Arbeit in Hollywood stellt sich als schwieriger dar als angenommen. Für die Filmmusikkomponisten gelten in der durchrationalisierten und kommerzialisierten Filmindustrie harte Bedingungen, die sich in „Knebelverträgen“ und geringem Lohn äußern.

1934 eröffnet Hollaender in Hollywood eine Kabarettbühne, die er in Anlehnung an die Berliner Spielstätte ebenfalls Tingel-Tangel-Theater nennt (siehe Kapitel 3.2.2). Aus finanziellen Gründen muss er das Theater kurz nach der Eröffnung schließen und kehrt zur Filmmusik zurück. Er kann sich als Komponist behaupten und verfasst die Musik zu fast 175 Filmen. Einige seiner Film-Chansons werden auch ohne den filmischen Kontext gespielt bzw. gesungen, z. B. von Bing Crosby (1903-1977) (4) oder Louis Armstrong (1901-1971) (5).

Die Kriegs- und Nachkriegszeit verbringt Hollaender in den Vereinigten Staaten und arbeitet dort erfolgreich. Die Zeit der Emigration ist von emotionalen Stimmungsschwankungen geprägt. Obwohl der Komponist insgesamt 23 Jahre in Hollywood lebt, fühlt er sich dort nicht zu Hause. Er leidet darunter, nicht als Texter arbeiten zu können. Seine in Deutschland entstandenen Chansons verlieren in der direkten Übersetzung an Ausdruck. Die neuen Auftragsarbeiten beziehen sich nur auf die Musik, als Texter ist Hollaender in Amerika nicht gefragt. Dabei hat er Sprache und Musik immer als Einheit betrachtet, er fühlt sich aufgrund dieser Einseitigkeit seiner Arbeit in Hollywood eher als Filmillustrator. Halb spöttisch, halb stolz bemerkt er dazu in seiner Autobiografie:

Wenn man in Betracht zieht, daß in kaum einem Film weniger als sechzehn Minuten Geigerei und Blaserei benötigt werden – oft eher mehr - , und man sich wieder mal den Spaß macht, zu multiplizieren, wird man mit Ehrfurcht feststellen, daß der Ferf[6] allein in Hollywood am laufenden Band mehr Stunden Musik fabriziert hat als beispielsweise Wagner. Nach der Uhr gemessen, bin ich also Klassiker.[7]

2.3 Rückkehr nach Deutschland

Im Jahr 1955 kehrt Friedrich Hollaender nach Deutschland zurück und wird in München sesshaft. Er versucht, an die Erfolge der Zeit vor dem 2. Weltkrieg anzuknüpfen. Die Gesellschaft hat sich durch die Kriegsjahre verändert, die Erinnerung an die 20er Jahre ist in den 50er Jahren verblasst. Die Nachkriegsgeneration interessiert sich mehr für das aktuelle Geschehen und nicht für die Vergangenheit und die Vorkriegsjahre.[8] Diese Veränderung erschließt sich Hollaender erst später. Im Jahr seiner Rückkehr komponiert und schreibt er im bekannten Stil, doch die Erfolge bleiben aus. Hollaender lässt seine Idee von der literarischen Revue wieder aufleben und erlangt damit viel Beachtung von Seiten der Kritiker und Zuschauer. Diese Form der Revue hatte er Ende der 20er Jahre durch einige strukturelle Änderungen geprägt (siehe Kapitel 3.2.1.3).

Die nachhaltige Wirkung, die das Kabarett in den 20er und 30er Jahren erzielt hat, bleibt im Deutschland der 50er und 60er Jahre aus. 1961 verabschiedet sich Hollaender von der Kabarettbühne. Von nun an komponiert er ausschließlich Filmmusik, wirkt in einer Kabarettshow mit, die im Fernsehen ausgestrahlt wird, und arbeitet als Schriftsteller.

Im Jahr 1965 wird die Autobiografie von Hollaender veröffentlicht, später folgen drei weitere Bücher von ihm. In den letzten Jahren seines Lebens finden sich in Schriften und Aussagen viele Hinweise, die eine depressive Grundstimmung vermuten lassen. Hollaender beschreibt seinen emotionalen Zustand in einem Fernsehinterview wie folgt:

Ich halte es ein wenig mit Schopenhauer, der die Theorie vertritt, daß das Leiden der Normalzustand ist und die Freuden nur eine Störung dieses Normalzustandes darstellen. (…)Von einem gewissen Tage an fängt man an zu sterben. (…) Und dann stirbt man und stirbt man und stirbt. Es ist nicht wahr, daß man bumms stirbt. Es kommt einem nur so vor.[9]

Am 18.01. 1976 stirbt Friedrich Hollaender in München.

3 Hollaender und das Kabarett im Berlin der 20er Jahre

In den folgenden Kapiteln soll die Darstellung der Rolle Hollaenders im Kabarett der 20er Jahre Gegenstand der Betrachtung sein. Ein kurzer Abriss über die Entwicklung des Kabaretts von 1900 bis 1933 soll den Einstieg in diese Thematik erleichtern und wird dem eigentlichen Hauptteil vorangestellt. Diese Darstellung habe ich in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt bezieht sich auf die Entstehung des Kabaretts in Frankreich. Das folgende Kapitel beschreibt die Entwicklung von 1901-1918 in Deutschland. In den 20er Jahren bilden sich verschiedene Formen des Kabaretts heraus. Hollaenders kabarettistischer Werdegang beginnt mit der Gründung des ersten politisch-literarischen Kabaretts. Im dritten Kapitel wird daher insbesondere die Entwicklung des politisch-literarischen Kabaretts in der Stadt Berlin bis in das Jahr 1933 beleuchtet.

3.1 Zur Entstehung des Kabaretts

Das erste Kabarett in Deutschland wird im Jahr 1901 in Berlin eröffnet. Das Vorbild zu dieser Form der Unterhaltung bietet das Pariser Café Le Chat Noir,[10] das im Jahr 1881 von Rudolphe Salis (1852-1897) gegründet wird. Seiner Idee von einer neuen Form der Unterhaltung folgend, ruft er Musiker und andere französische Künstler und Künstlerinnen zu Improvisation, Persiflage und Zeitkritik auf. Mit dem Chat Noir bildet sich eine neue Kunstrichtung heraus: Das Cabaret artistique, das künstlerische Kabarett. Emile Zola (1840-1902), Victor Hugo (1802-1885) oder Eric Satie (1866-1925) sind Künstler, die sich an dieser neuen Form versuchen und zum Erfolg des Cabarets beitragen. Das Cabaret wird in den Jahren seiner Entstehung in Frankreich mit „C“ geschrieben. Auch in Deutschland wird diese Schreibweise übernommen. Erst 1919 wird die Schreibweise mit „K“ bekannt. Als deren Begründer wird Kurt Tucholsky (1890-1935) genannt.[11]

Ich werde im Folgenden die Schreibweise entsprechend ihres historischen Bezugs auswählen und erst in Verbindung mit der Darstellung des politisch-literarischen Kabaretts die Schreibweise mit „K“ gebrauchen.

Nach Salis’ Tod 1897 eröffnet das Chat Noir unter dem Namen Le Mirlington neu. Der neue Leiter ist der Sänger Aristide Bruant (1851-1925). Er nimmt sich in seinen Liedern gesellschaftskritischer Themen an und möchte auf die Schicksale gesellschaftlicher Randgruppen aufmerksam machen. Die Beschreibung des Milieus und der Lebensbedingungen in den unteren Gesellschaftsschichten wird zu einem wesentlichen inhaltlichen Bestandteil des Kabarettchanson.

In Deutschland findet Zeit- oder Gesellschaftskritik Ende des 19. Jahrhunderts öffentlich nicht statt. Pflichterfüllung gegenüber dem Staat, Vaterlandsliebe und wirtschaftliche Tatkraft sind bürgerliche Wertvorstellungen im Wilhelminischen Deutschland.[12] Das ändert sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Junge Künstler und Intellektuelle rebellieren gegen die veralteten gesellschaftlichen Normen in Deutschland[13]. Viele Deutsche besuchen im Jahr 1900 anlässlich der Weltausstellung Paris, studieren das kulturelle Leben in den Kneipen, Cafés und auf den Straßen und lernen auch das Cabaret kennen. Zu diesen Besuchern gehören Ernst Freiherr von Wolzogen und Franz Wedekind (1864-1918), die beide besonders an den satirischen Chansons gefallen finden.

Otto Julius Bierbaum (1865-1910) bringt im selben Jahr eine Liedersammlung mit Gedichten von Richard Dehmel (1863-1920), Ernst von Wolzogen und Frank Wedekind mit dem Namen Deutsche Chansons (Brettl–Lieder) heraus. Diese Gedichte sollen eine breite Bevölkerungsschicht ansprechen, öffentlich vorgetragen werden und nicht nur den Intellektuellen zugedacht sein. Beworben wird diese Sammlung in dem Vorwort von Bierbaum mit dem Schlagwort Angewandte Lyrik.[14] Innerhalb eines Jahres werden 20000 Exemplare der Deutschen Chansons verkauft. Der Cabarettgedanke wird populär.

3.1.1 Die Entwicklung von 1901 - 1918

1901 wird in das erste Cabaret, das Überbrettl[15] von Ernst von Wolzogen in der Berliner Alexanderstraße eröffnet. Wolzogen konferiert das Programm, welches Volkstümliches mit Niveau verbinden soll. Das Programm zeichnet sich durch Opern- und Operettenparodien aus, sowie dem Vortrag harmlos-unverbindlicher Gesänge, meist erotischen Inhalts. Daneben werden dem Publikum Parodien auf Dramen und aktuelle Literatur, Tanzeinlagen und Puppenspiele geboten. Diese Form des Cabarets wird als literarisches Cabaret bezeichnet. Die verschiedenen Programmpunkte sind auf Grund der Zensur während des Kaiserreichs überwiegend frei von politischen Anspielungen. Musikalischer Leiter ist für kurze Zeit der Komponist Arnold Schönberg (1874-1951), danach Oscar Strauss (1870-1954).

1903 wird das Überbrettl wieder geschlossen. Es stellte das Vorbild für mehr als 40 Häuser dar, die seit 1901 in Berlin eröffnet worden sind. Die Zahl der Neueröffnungen von literarischen Cabarets ist Mitte der 10er Jahre rückläufig. In den meisten Cabarets, die neu eröffnet werden, steht der Unterhaltungsanspruch des Publikums im Vordergrund. Viele Besitzer von Cabaretbühnen nehmen den Verlust von künstlerischem Niveau zugunsten der Gewinnung des „zahlungskräftigen“, wohlhabenden Publikums in Kauf.

Zudem fehlt den Liedern und Vorträgen, bedingt durch die Zensur, die Schärfe und Originalität, die das französische Vorbild ausgemacht haben. Die Zensur richtet sich gegen politisch-oppositionelle Äußerungen, mitunter werden aber auch Verbote wegen der Gefährdung der Sittlichkeit ausgesprochen.[16] Diese Bedingungen erschweren die Entwicklung des literarischen Cabarets.

3.1.2 Politisch-literarisches Kabarett

Die Bedingungen für das Cabaret ändern sich nach dem Ersten Weltkrieg. Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches fallen auch die Schranken der Zensur. Der Unterhaltungsanspruch der Bürger und Bürgerinnen steht jedoch weiterhin im Vordergrund. Drei Jahre nach Kriegsende gibt es allein in Berlin 38 Cabarets, in Deutschland insgesamt sind es nach Kühn 200 Spielstätten.[17] Dort wird allerdings in erster Linie weiterhin Unterhaltung ohne politische Ambitionen geboten. Die Zensur ist aufgehoben, aber man merkt nichts davon, schreibt Kurt Tucholsky 1919.[18]

Die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung ändert bei vielen Künstlern und Künstlerinnen den Anspruch an das Cabaret. Es entsteht der Wunsch nach einer Form, die programmimmanent auch gesellschaftskritisch ist. Dieses Cabaret soll politisch-literarisch sein, unsentimental und ironisch, oppositionell und zeitkritisch - und wird von nun an mit „K“ geschrieben.[19] Das Kabarett soll sich wieder mehr auf das französische Vorbild berufen und sich, befreit von der Zensur, besonders durch politische Satire auszeichnen. Welche Wirkung sich die Künstler und Künstlerinnen von dieser Form versprechen, zeigt sich auch im folgenden Zitat von Hollaender:

Ein politisch-literarisches Cabaret? Das erste seiner Gattung? Schön, gut, fein, einverstanden, aber was ist das, wenn’s fertig ist? Politisch, versteh’ ich -, literarisch versteh ich -, Cabaret - das ist doch, was diese Yvette Guilbert im vorigen Jahrhundert - ? Alle drei Sachen auf einmal? Klingt wie: Hering ist gut, Schlagsahne ist gut – Wie gut muß das erst zusammen schmecken.[20]

Das erste Kabarett mit neuem Gestus wird auf Initiative von Max Reinhardt 1918 in Berlin im Keller seines Großen Schauspielhauses (dem späteren Friedrichstadt–Palast) eröffnet. Als Autoren stellt Reinhardt die Schriftsteller Walter Mehring (1896-1981), Kurt Tucholsky und Klabund (1875-1928)[21] ein, als musikalischen Leiter engagiert er Friedrich Hollaender. Die Interpreten der Chansons und Couplets sind vornehmlich Schauspieler des Reinhardt-Ensembles: Paul Graetz (1890-1937), Blandine Ebinger, Gussy Holl (1888-1966), Lotte Stein (1894-1982) und viele andere. Das Programm des Schall und Rauch soll das Publikum nicht bloß amüsieren, sondern aufrütteln. Eine oppositionelle, kritisch-linke Haltung der frühen Weimarer Republik wird hier mit den Mitteln des Kabaretts vertreten. Das Programm variiert von neutralen, unterhaltenden Darbietungen bis hin zu jenen Programmpunkten, die den Zustand und die politischen Umstände der Republik kritisieren.[22]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Schall und Rauch macht viele Interpreten bekannt, die das Kabarett der zwanziger Jahre bestimmen und prägen werden. Dazu zählen Valeska Gert (1892-1978), Hubert von Meyerinck (1896-1971) und Trude Hesterberg (1892-1967), Wilhelm Bendow (1894-1950) und Annemarie Hase (1900-1971). Dichter wie Joachim Ringelnatz (1883-1934) und Max Herrmann–Neiße (1886-1941) tragen Kabarett–Verse vor; neben Friedrich Hollaender wirken Werner Richard Heymann (1896-1961) und Mischa Spoliansky (1898-1985) als Musiker mit.

Helga Bemman sieht das Schall und Rauch als eröffnendes Moment für Kunst und Kultur der 20er Jahre. Es präge die moderne Form des Kabaretts und sei maßgeblich an der Entstehung des Chanson in Deutschland beteiligt.[23]

Anfang der 20er Jahre nimmt das Chanson eine bedeutendere Position im Kabarett ein. Rösner sieht den Grund hierfür darin, dass zwei Kabaretthäuser dieser Jahre von Sängerinnen geleitet werden.[24] Eine dieser Sängerinnen ist Rosa Valetti (1887-1937). Das Café Größenwahn eröffnet sie im Dezember 1920 am Kurfürstendamm. Zum Ensemble gehören unter anderem Gustav Gründgens (1899-1963), Kate Kühl (1899-1970) und Kurt Gerron (1897-1944). Neben Tucholsky schreiben Klabund und Mehring die Texte, musikalischer Leiter ist Hollaender, der im Schall und Rauch bereits gekündigt hat. Der künstlerische Erfolg des Café Größenwahn ist groß, jedoch muss Valetti aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nach zwei Spielzeiten wieder aufgeben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Herbst 1921 eröffnet Trude Hesterberg ihr eigenes Kabarett, die Wilde Bühne in der Berliner Kantstraße. Die Leiterin engagiert derzeit prominente Schriftsteller, Schauspieler und Schauspielerinnen wie z. B. Curt Bois (1901-1999), Kurt Gerron, Annemarie Hase und Kate Kühl ein. Hesterberg ermutigt auch unbekannte, junge Dichter, für sie zu schreiben. Unter dem Pseudonym Ernst Fabian veröffentlicht Erich Kästner (1899-1974) erste Texte. Neben den bekannten Interpreten dieser Zeit ist auch Bertold Brecht (1898-1956) auf der Wilden Bühne zu Gast.

Das Kabarett der 20er Jahre ist in der Praxis unpolitischer als der Ruf, den es ein halbes Jahrhundert später verliehen bekommt. Es gilt, die Balance zwischen Unterhaltung und politischer Attitüde zu halten, denn die Inhaber sind finanziell von der Nachfrage des Publikums abhängig. Die Bühnen, die ausschließlich ein politisch-literarisches Programm anbieten, müssen oftmals kurz nach der Eröffnung aufgrund finanzieller Nöte wieder schließen.[25]

Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut lassen den Kabarettbesuch für viele Besucher zum Luxus werden. Diejenigen, die finanziell in der Lage sind, wählen für ihre Unterhaltung nicht die politisch engagierten Kabaretts, in deren Programmen unter anderem gerade sie die Zielscheibe des Spotts darstellen.

Aus diesen Gründen kann auch das Schall und Rauch das ursprünglich angestrebte Niveau nicht halten. Da es um die Finanzen nicht gut bestellt ist, gibt der neue Leiter Hans von Wolzogen (1888-1954) dem Programm eine populäre Ausrichtung. Der Verlust an künstlerischem Niveau wird endgültig, als Reinhardt 1922 das Große Schauspielhaus abgibt und Berlin verlässt.

Auch die anderen Kabarettbühnen haben einen vergleichbar schweren Stand. Dennoch findet politisch-literarisches Kabarett in Berlin weiterhin statt. Neben

Hollaender und das Kabarett im Berlin der 20er Jahre

dem erwähnten Café Größenwahn und der Wilden Bühne, eröffnet das Kabarett der Komiker, wo der Versuch einer Verbindung mit Elementen aus Varieté und Revue gemacht wird. [26]

1930 eröffnet Hollaender das Tingel-Tangel-Theater in der Kantstraße in Berlin. Neben diesem ist nur noch die Katakombe von Werner Finck (1902-1978) als links orientiertes, politisches Kabarett aktiv. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 haben beide Kabaretthäuser weiterhin mit einem politische und satirische Anspielungen humorvoll überzeichnenden Programm Bestand. Im Jahr 1935 werden das Tingel-Tangel-Theater, nach Hollaenders Flucht von Blandine Ebinger geleitet, und die Katakombe auf Anweisung des Reichspropagandaministers Göbbels verboten.[27]

Die Einflüsse der Nationalsozialisten auf das kulturelle Leben in Deutschland äußern sich seit der Machtübernahme Hitlers unter anderem in der Kontrolle der Theater und Kabaretthäuser. Die Ausführenden des Kabaretts unterstehen der staatlichen Kontrolle der Reichskulturkammer. Das totalitäre Staatssystem duldet keine öffentliche Kritik und Meinungsäußerung.

Die politische und kulturelle Entwicklung während der Weimarer Republik bis hin zu der Machtübernahme Hitlers wird im Kapitel 4 dieser Ausarbeitung beschrieben. Bevor ich auf die Rolle Hollaenders im Kabarett der 20er Jahre vertieft eingehe, sollen die folgenden die Ausführungen zu den musikalischen Gattungen Chanson, Schlager und Kabarettrevue das Verständnis für seine Ideen und deren Umsetzung erleichtern. Die Begriffe Kabarettchanson und Schlager werden im Zusammenhang mit Hollaenders Kompositionen häufig erwähnt, doch die Benennungen der einzelnen Kompositionen sind häufig unklar. Mitunter wird ein und dieselbe Komposition als Schlager bzw. Chanson bezeichnet. Daher möchte ich im Folgenden beide Gattungen hinsichtlich ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten vergleichen.

[...]


[1] Hollaender, Friedrich: Von Kopf bis Fuß, 1996, S. 28

[2] Hollaender, Friedrich: Von Kopf bis Fuß, 1996, S. 68

[3] Hollaender, Friedrich: Von Kopf bis Fuß, 1996, S. 285

[4] Vollständiger Titel siehe Literaturverzeichnis

[5] Kühn, Volker: Spötterdämmerung, 1996,S. 87

[6] In seiner Autobiografie spricht Hollaender von sich in der dritten Person als Ferf

[7] Hollaender, Friedrich: Von Kopf bis Fuß, 1996, S. 306

[8] Kühn, Volker: Spötterdämmerung,1996, S. 120

[9] Zitiert nach Kühn, Volker: Spötterdämmerung, 1996, S. 133

[10] „Le chat noir“ - franz. für „Die schwarze Katze“, angeregt durch die Geschichten von E. AlanPoe, siehe Rupprecht, Siegfried P: Chanson – Lexikon, 1999, S. 85

[11] Deutsches Kabarett Archiv; Hippen, Reinhard (Hrsg): „Sich fügen – heißt lügen“, 1981, S. 166

[12] Appignanesi, Lisa: Das Kabarett, 1976, S.31

[13] Ebd., S.31

[14] Ebd., S. 32

[15] Der Name „Überbrettl“ ist eine satirische Anspielung auf Nietzsches Werk „Übermensch“

[16] Hösch, Rudolf: Kabarett von gestern, 1976, S. 142

[17] Kühn, Volker: Die zehnte Muse, 1993, S. 51

[18] Zitiert nach Hösch, Rudolf: Kabarett von gestern, 1969, S. 142

[19] Kühn, Volker: Die zehnte Muse, 1993, S. 51

[20] Hollaender, Friedrich: Von Kopf bis Fuß, 1996, S. 79

[21] Bürgerlicher Name Alfred Henschke

[22] Kühn, Volker: Kleinkunststücke. Band2, 2001, S. 49

[23] Siehe Bemman, Helga: Berliner Musenkinder – Memoiren, 1981, S. 78

[24] Siehe Rösler, Walter: Das Chanson …, 1980, S. 160

[25] Kühn, Volker: Spötterdämmerung, 1996, S. 35

[26] Siehe Budzinski: Das Kabarett, 1985, S. 122

[27] Ebd., S. 128

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Friedrich Hollaender und das Kabarett im Berlin der 20er Jahre und seine Wirkungsgeschichte
Hochschule
Universität Bremen  (Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
74
Katalognummer
V57313
ISBN (eBook)
9783638518123
ISBN (Buch)
9783656815990
Dateigröße
1831 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Friedrich, Hollaender, Kabarett, Berlin, Jahre, Wirkungsgeschichte
Arbeit zitieren
Tina Mareen Nolte (Autor:in), 2006, Friedrich Hollaender und das Kabarett im Berlin der 20er Jahre und seine Wirkungsgeschichte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57313

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