Kleists Erzählung Der Findling


Hausarbeit, 2002

14 Seiten, Note: 2 -


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 „Ein Plädoyer für Nicolo“ nach Jürgen Schröder
2.1 Inkarnation des Bösen?
2.2 Die zwei Leidenschaften des Nicolo
2.3 Wer ist der höllische Bösewicht, Nicolo oder Piachi?
2.3.1 Piachi – moralischer Zuchtmeister
2.3.2 Nicolo – Lückenbüßer und Unperson
2.4 Gestörte Kommunikation

3 Die Affekte des Nicolo und ihre Entwicklung nach Günter Oesterle
3.1 Kein Plädoyer für Nicolo
3.2 Grundmotiv der Infektion
3.3 Affekte und ihre Logik
3.4 Die zweite Novellenhälfte entwickelt Dynamik aus Kalkül, Zufällen und Erkennungen, Recherche und Projektion
3.5 Die Wendung

4 Fazit

1 Einleitung

Der Findling ist sowohl in der Radikalität des Themas als auch in der Härte und Kühnheit der Motivverschränkung in Kleists Werk einzigartig. Kleists konstruktive Phantasie hat in dieser Erzählung, deren Entstehungszeit unbestimmt ist, Extremfälle menschlichen Handels und Leidens gestaltet. Nirgends in Kleists Werken ist das Böse so wirksam und mächtig als hier.[1]

Mein erster Leseeindruck ist typisch für die gesamte Novelle: ich war verwirrt. Am Ende der Novelle wusste ich nicht mehr, wer der Bösewicht war und wer nicht. Wurde Nicolo nicht am Anfang so unschuldig und hilflos dargestellt? Wieso hat er sich zu dem entwickelt was er ist? Interessanterweise spiegelt sich dies auch in der Sekundärliteratur wieder. Stets wurde Nicolo als durchtriebener, falscher Bösewicht dargestellt. Im Gegensatz dazu waren Piachi und Elvire die Güte und Liebenswürdigkeit in Person und Piachis Tat ist am Ende durchaus verständlich. In den späten 70er Jahren jedoch wandelte sich die Richtung der Sichtweise. Den Höhepunkt dieser anderen Lesart bildet Schröders Plädoyer für Nicolo (1985). Nicolo war von nun an eben nicht mehr der teuflische Falschspieler, sondern vielmehr ein Opfer. Er war das Opfer einer falschen Erziehung, eines lieblosen Elternhauses, einer kapitalistischen Gesellschaft, eines korrupten Klerus.[2]

Fakt ist zwar, dass Nicolo böse ist: er versucht seine Adoptivmutter zu vergewaltigen und wirft seinen Adoptivvater aus seinem eigenen Haus. Allerdings drängt sich einem die Frage auf: ist Nicolo von Natur aus böse oder sind es die äußeren Umstände, die ihn im Verlaufe der Erzählung böse werden lassen? Da sich die Forschung ebenfalls mit dieser Frage auseinandergesetzt hat, ist es Ziel meiner Arbeit, diese zwei Sichtweisen des „Findlings“ genauer zu betrachten.

2 „Ein Plädoyer für Nicolo“ nach Jürgen Schröder

2.1 Inkarnation des Bösen?

„Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen anderer, und oft die schlechteste erzeugt die besten - Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das Böse wäre in alle Ewigkeit fort -?" Am 15. August 1801 schreibt Kleist diesen Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge aus Paris nach Frankfurt an der Oder. Dieser Gedanke Kleist findet sich in seiner Erzählung von 1811 "Der Findling" wieder. In einer sehr hohen motivischen und thematischen Dichte befasst sich Kleist in dieser kurzen Erzählung vor allem mit dieser Frage: Was ist böse?[3] Aber hat Nicolo nicht allen Grund, dankbar zu sein und Gutes mit Gutem zu vergelten? Er hat in Ragusa den Tod von Piachis Sohn, des elfjährigen Paolo, verursacht, er ist trotzdem von dem alten Kaufmann und seiner jungen Frau Elvire liebevoll empfangen und aufgenommen worden. Er hat eine solide Schulbildung erhalten und ist anstelle eines Kommis bald in das Handelsgeschäft von Piachi aufgenommen worden. Seine Adoptiveltern haben ihn mit einer liebenswürdigen Genueserin vermählt, mit einer glänzenden Ausstattung versehen und ihnen „einen beträchtlichen Teil ihres schönen und weitläufigen Wohnhauses“ (S. 202) eingeräumt. Piachi überlässt ihm mit seinem sechzigsten Lebensjahr sogar sein ganzes Vermögen und zieht sich mit seiner Frau „in den Ruhestand zurück.“ (S. 202) Und Nicolo?[4]

2.2 Die zwei Leidenschaften des Nicolo

Bereits im frühen Jugendalter zeigt Nicolo zwei ,,Leidenschaften" (S. 205): den bigotten ,,Umgang mit den Mönchen des Karmeliterklosters" (S. 201) und den regen ,,Hang für das weibliche Geschlecht" (S. 201). Er wird in seinem fünfzehnten Lebensjahr von einer der Geliebten des Bischofs, der Xaviera Tartini verführt und kann auch während der Ehe mit seiner Frau Constanze nicht von ihr lassen. Er stellt seiner tugendhaften jungen Adoptivmutter nach, schleicht sich in der Maske ihres verstorbenen und geliebten Lebensretters in ihr Zimmer, um sich in ihrer Ohnmacht an ihr zu vergehen. Er verweist Piachi, der ihn bei dieser „Büberei“ (S. 213) überrascht, aus dem eigenen Haus, verursacht damit den Tod der nervenschwachen Elvire und macht Piachi zu seinem Mörder, der von nichts und niemandem aufzuhalten ist. Nicht einmal durch den Papst, denn Piachi will Nicolo ohne Absolution in die Hölle folgen. Diese Familien-Katastrophe hat er doch verursacht, sodass alles dafür spricht, dass er jener „schurkische Adoptivsohn“, jene Inkarnation des absolut Bösen ist, die man in ihm gesehen hat?[5]

2.3 Wer ist der höllische Bösewicht, Nicolo oder Piachi?

Schon der Beginn der Erzählung und die Adoption Nicolos geraten in ein moralisches Zwielicht. „In der ersten Regung des Entsetzens“ (S. 199) wollte Piachi den pestkranken Jungen „weit von sich schleudern“ (S. 199), erst als dieser ohnmächtig niedersinkt, erregt er des Alten Mitleid. Piachi nimmt ihn aber nicht um seiner selbst willen mit nach Rom zurück, sondern als Sohnersatz: Von „dem Anblick des Platzes, der neben ihm leer blieb“ (S. 200), zu Schmerzen gerührt. Im weiteren Verlauf fördert Piachi pragmatisch alles an Nicolo um ihn zu einem ehrenwerten Bürger und Nachfolger seines Güterhandels zu machen. Seine zwei abweichenden Leidenschaften werden mit Strenge verfolgt und von einem emotionalen Verhältnis zwischen Vater und Sohn erfährt man nichts.[6]

2.3.1 Piachi – moralischer Zuchtmeister

Dass das Verhältnis zunehmend gestört ist, zeigt sich vor dem Begräbnis von Constanze. Als Piachi die Zofe der Xaviera Tartini abfängt und ihr den Brief Nicolos „halb mit List, halb mit Gewalt“ (S. 205) abnimmt, lässt er sich, als wäre er der unumschränkte moralische Zuchtmeister Nicolos, zu einem höchst bedenklichen Betrug hinreißen. Er bestellt Nicolo im Namen Xavieras in die Kirche, um ihn durch die vorverlegte Beisetzung seiner verstorbenen Frau aufs tiefste vor der gesamten Familie zu beschämen und zu demütigen. Begreiflich, dass es noch sprach- und verständnisloser zugeht, als Piachi Nicolo im Schlafgemach Elvires überrascht. Piachi behandelte ihn als hätte er einen Hund vor sich, so nimmt er die Peitsche von der Wand und weist dem Findling die Tür.[7]

2.3.2 Nicolo – Lückenbüßer und Unperson

Alle Begriffe, Werte und Rollen scheinen im Findling unzulänglich und deshalb austauschbar zu sein. Nichts steht mehr auf seinem Platz. Die Welt der Novelle ist aus den Fugen geraten. Typisch hierfür ist die Figur des Findlings. Sie ist der Mensch ohne Herkunft. Ohne Identität ist Nicolo, der Findling „Gottes Sohn“ (S. 200), wie die Vorsteher des Krankenhauses Piachi versichern, der geborene Stellvertreter und Lückenbüßer, eben eine Unperson. Nicolo übernimmt anfangs Paolos Platz; sogar ,,sämtliche Kleider desselben" (S. 201) werden ihm zum Geschenk gemacht. Danach schlüpft er in die Rolle des Kommis und schließlich in die des Güterhändlers Piachi. Hat er diese Rollen noch mehr oder minder freiwillig übernommen, so wird seine Hochzeit mit Constanze anscheinend von den Eltern arrangiert. Mit der Verkleidung eines genuesischer Ritter in der Karnevalsnacht spielt er zum ersten Mal, wenn auch unbewusst, die Rolle Colinos. Nachdem er sich anstelle des Bildes in Elvirens Zimmer gestellt hat, übernimmt er den Part des Geliebten Colino. Unmittelbar danach wird Nicolo wieder zum demütigen Sohn und sofort darauf zum Hausvorstand und Besitzer, der mit juristischen Mitteln den Vater des Hauses verweisen kann. Zum Schluss tritt er bei Xaviera anstelle des Bischofs und ist, als er von Piachi erschlagen wird, doch wieder nur der ,,von Natur schwächere Nicolo " (S . 214), der Findling vom Anfang. Kein Platz der Familie ist mit Originalen besetzt. Sie sind alle Stellvertreter von Toten. Nicolo ist nicht die einzige Figur, die in der Novelle eine ursprüngliche Person ersetzt oder beliebig austauschbar zu sein scheint. Elvire ersetzt Piachis erste Frau, dieser nimmt den Platz Colinos ein, Constanze und Xaviera sind für Nicolo problemlos austauschbar und Piachi und Elvire ersetzten die verstorbenen Eltern für Nicolo. Die Familie erscheint wie eine Theateraufführung, die nur von Zweitbesetzungen gespielt wird.[8]

[...]


[1] Hoffmeister, Werner: Heinrich von Kleists „Findling“. In: Monatshefte 58 (1966) S. 49

[2] Oesterle, Günter: Der Findling Redlichkeit versus Verstellung – oder zwei Arten böse zu werden.

In: Interpretationen Kleists Erzählungen Reclam Stuttgart 1998, S. 163

[3] Schröder, Jürgen: Kleists Novelle "Der Findling". Ein Plädoyer für Nicolo. In: Kreutzer, Hans Joachim (Hrsg.): Kleist

Jahrbuch 1985. Berlin 1985, S. 109

[4] Schröder, S. 110

[5] Schröder, ,S. 110

[6] Schröder, S. 112

[7] Schröder, S. 113

[8] Schröder, S. 113-114

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Kleists Erzählung Der Findling
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
2 -
Autor
Jahr
2002
Seiten
14
Katalognummer
V40142
ISBN (eBook)
9783638387279
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kleists, Erzählung, Findling
Arbeit zitieren
Juliane Meyer (Autor:in), 2002, Kleists Erzählung Der Findling, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40142

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