Das Bild der postmodernen Gesellschaft bei Thomas Meinecke


Magisterarbeit, 2004

102 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

EINLEITUNG

1. THE CHURCH OF JOHN F. KENNEDY
1.1. Eine Reise durch die Vergangenheit
1.2. Nation und Rasse – Konstruierte Identitäten
1.3. Tradierte rassistische Codes
1.4. Protest und antinationalistische Potenziale
1.5. Transatlantische Gleichklänge und Denationalisierung

2. TOMBOY
2.1. Protagonisten erzählen Theorie
2.2. Unbehagliche Geschlechterrollen
2.3. Experimentierfelder Körper und Geschlecht
2.4. Tomboyismus
2.5. Exzentrische Verkleidung und Parodie
2.6. Die neuen Barbaren

3. HELLBLAU
3.1. Plurale Existenzformen
3.2. Identity Crossing
3.3. Das Jüdische und die Feminisierung
3.4. Postmoderne Farbenlehre
3.5. Black Atlantic – Politische Agenda
3.6. Musik als Geheimsprache im globalen Netzwerk
3.7. Anthropologischer Exodus durch Techno:

Underground Resistance und Drexciya

SCHLUSSFOLGERUNGEN

ANMERKUNGEN

LITERATUR

EINLEITUNG

Postmoderne ist keine theoretische Option oder eine Frage des Stils; sie ist schlicht die Luft, die wir atmen. Wir sind postmodern, egal ob uns das gefällt oder nicht.

Steven Shaviro

Ethnische Säuberungen auf dem Balkan, Genozide und Hungersnöte in Afrika und alles dominierend der 11.September 2001 mit seinen weit reichenden Folgen: Dies sind nur einige Ereignisse der letzten Jahre, die zeigen, dass das Ende des Kalten Krieges nicht die weltweite politische Entspannung brachte, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Anfang der 1990er Jahre prognostiziert wurde. Aus dem bipolaren Wettrüsten zweier Weltideologien sind die USA als einzige Supermacht übrig geblieben, die das Zeitalter der Globalisierung dominieren. Der Konflikt um die neue Weltordnung hat an Schärfe gewonnen. Auf verschiedenen Seiten werden sowohl gewalttätige als auch produktive Kräfte frei gesetzt. Dabei steigt die Unsicherheit der Gesellschaft im Hinblick auf Bewertung, Folgen und Ursachen der globalen Entwicklungen. Zur Klärung empfiehlt sich ein Blick auf die Theorie, um die Umwälzungen verstehen und einordnen zu können. Die jüngste Gegenwartsliteratur sowie aktuelle wissenschaftliche Arbeiten bieten wertvolle Beiträge und Chancen, Distanz und Überblick zu gewinnen.

Thomas Meinecke, bekannter Vertreter der deutschen Gegenwartsliteratur, setzt sich in seinen Werken mit der zeitgenössischen Politik und Gesellschaftssituation auseinander. Anhand seiner drei Romane The Church of John F. Kennedy, Tomboy und Hellblau lässt sich eine gesellschaftspolitische und –kulturelle Entwicklung beobachten, die sich an den realen globalen Veränderungen des Fin de Siècle bzw. zu Beginn des 21. Jahrhunderts orientiert. Das Bild der Gesellschaft, das Thomas Meinecke entwirft, ist Zeugnis einer Entwicklung, die den Übergang vom Zeitalter der Moderne zur Ära der Postmoderne bedeutet. Wir werden Zeugen einer kontinuierlichen Pluralisierung der Massen, die zugleich mehr Freiheit, aber auch ein höheres Maß an Unsicherheit und Fragmentierung bedeuten kann. Binäre Matrizen der Moderne, die die Welt in Gut und Böse, schwarz und weiß, Mann und Frau einteilten, werden heute zunehmend obsolet. Wir tauchen in eine Welt ein, die uns die Chance eröffnet, uns über mehr als unsere Hautfarbe oder unsere Geschlechtsmerkmale zu definieren und die monolithische Uniform der Moderne abzustreifen: „Leben unter heutigen Bedingungen ist Leben im Plural, will sagen: Leben im Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen“ (Welsch 1990:171). Das postmoderne Lebensgefühl ist keine Entwicklung, die sich von Heute auf Morgen ergab, sondern Ergebnis eines schleichenden Prozesses. Es war und ist vor allem die emanzipative Kraft von Menschen und weniger die autoritäre politische Macht, die diesen liberalisierenden Entwicklungsgang ermöglicht. Meineckes Romane zeigen auf, wie sich die Gesellschaft innerhalb der 1990er Jahre in ihrem Denken entfaltete und zu dem wurde, was sie heute zu Beginn des neuen Jahrtausends ist.

Moderne Identitätskategorien werden von den Protagonisten in Frage gestellt und sukzessive dekonstruiert: die der nationalen Identität im ersten Roman The Church of John F. Kennedy, die der geschlechtlichen in Tomboy und die der ethnischen in Hellblau. Allen drei Romanen der 1990er Jahre ist gemeinsam, dass sie Theorie in literarischer Form erzählen. Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Werke bilden das innere Fundament eines Diskurses, den die Protagonisten an der Oberfläche führen. Die vorliegende Arbeit möchte das Bild der Gesellschaft untersuchen, das Meinecke in seinen drei Romanen entwirft. Aufgrund der eminenten Bedeutung, die die Drittautoren für die einzelnen Romandiskurse spielen, wird man die Lektüre jener nicht aussparen können. Wie der Meineckesche Roman ein ständiger Wechsel zwischen Theorie und Praxis ist, wird auch diese Arbeit sich in verstärktem Maße zwischen Meineckes Belletristik und der begleitenden wissenschaftlichen Theorie bewegen, die in seinen Werken verhandelt wird.

Diese Arbeit will ferner ihren soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Charakter betonen und sich verstärkt dem wissenschaftlichem Gehalt der Romane widmen. Man wird auch im Hinblick auf die formale Gestaltung derer einen Fortschritt und eine Entwicklung verzeichnen können. Diese formalen Aspekte werden im Laufe der Analyse immer wieder zur Sprache kommen, sollen aber nicht in einem gesonderten Kapitel und mit erhöhtem Aufwand behandelt werden. Stattdessen möchte ich inhaltliche Aspekte umso eingehender betrachten und Gefahren wie Chancen betonen, die sich der pluralen Gesellschaft in der Postmoderne eröffnen. Der Literaturbeschaffung kam zugute, dass Meinecke die Drittautoren, die sein Werk mit ihren Theorien unterfüttern, im Text namentlich erwähnt. Aufgrund der großen Anzahl der Autoren und der beachtlichen Tiefe, die den Umgang Meineckes mit wissenschaftlichen Fragen kennzeichnet, ist er gleichwohl einer der wenigen belletristischen Autoren, bei denen ein Literaturverzeichnis im Anhang der Romane wünschenswert wäre. Literatur zum Gegenwartsliteraten Meinecke selbst ist mittlerweile spärlich vorhanden, beschränkt sich aber weitgehend auf die Analyse formaler Aspekte seines Schaffens. Nicht so sehr das, worüber, sondern wie der Autor schreibt, erregte in der Vergangenheit in wissenschaftlichem Aufsatz und Feuilleton Aufsehen: Pop- und Techno-Literatur, DJ-Sampling usw. sind Attribute, die diesbezüglich häufig verwendet werden.

Meineckes Arbeit wird zeigen, dass die globalisierte Gesellschaft im Laufe der Jahre immer wieder mit Rückfällen in die Moderne zu kämpfen hatte und überwunden geglaubte binäre Schemata noch längst nicht passé sind. Nach wie vor haben wir mit Phänomenen wie Nationalismus, Rassismus und Sexismus zu kämpfen. Auf dem Balkan und im Orient führen Globalisierung und Dekonstruktion der Nationalitäten zu verheerenden ethnischen Konflikten. Seit dem 11.September, Symbol für die postmoderne asymmetrische Bedrohung, werden wir zudem mit einer neuen Qualität des Nationalismus und Rassismus konfrontiert, die „das Böse“ in perversen islamistischen Terroristen sieht. Diese Entwicklung manifestiert sich in einer neuen Weltordnung, die von den USA dominiert wird und die Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem analytischen und utopischen Politikentwurf „Empire“ nennen. Die beiden Autoren gehen noch einen Schritt weiter und heben die Potenziale zur Veränderung und die Bereitschaft der Gesellschaft hervor, ein Gegen-Empire aufzubauen, welches sich vollständig von den kontrollierenden Mächten emanzipieren wird. Meineckes Werke enthalten kreative Ideen und utopische Konzepte, die in diese Richtung gehen. Dabei bauen die Romane aufeinander auf und steigern sich in inhaltlicher wie formaler Hinsicht sukzessiv.

Die Auseinandersetzung mit den Romanen wird in chronologischer Reihenfolge erfolgen. Im ersten Kapitel werden wir sehen, wie in The Church of John F. Kennedy kurz nach Ende des Kalten Krieges die nationalstaatlichen Konturen der Weltkarte allmählich verblassen und mit den Begriffen Nation und Rasse die ersten anthropologischen Identitätskategorien in Angriff genommen werden. Im zweiten Kapitel gehen wir über zu Tomboy, in dem die Dekonstruktion moderner Matrizen auf dem Feld der Geschlechterforschung fortgeführt und die binären Codes der Sexualität widerlegt werden. Im dritten Kapitel endlich geht es mit Hellblau primär um die Kategorie der Ethnie und deren Dekonstruktion. Hellblau kann als eine Art Quintessenz der Meineckeschen Romanentwicklung gelesen werden: Am Ende dieses Romans befinden wir uns an einem Punkt, an dem sämtliche traditionelle Identitätskategorien demontiert sind und wir einem neuen, abstrakten Individuum gegenüberstehen, das alle irdischen Grenzen aberkennt. Hier wird ein utopischer Ausblick gegeben, der auf den Ergebnissen von gut zehn Jahren Gesellschaftsentwicklung basiert. In dieser alternativen Welt lösen die Fragmente und Trümmer der Vergangenheit keine melancholischen Erinnerungen mehr aus, sondern sind zu grotesken Bausteinen eines kolossalen Baukastens geworden, in der Identität gewaltig explodiert (Shaviro 1997:22 f.).

1. THE CHURCH OF JOHN F. KENNEDY

Niemand ist heute nur ganz und rein eines . Bezeichnungen wie Inder, Frau, Muslim oder Amerikaner sind nicht mehr als erste Orientierungssignale, die, wenn man sie auch nur einen Augenblick lang in die tatsächliche Wirklichkeit weiterverfolgt, alsbald verlöschen. Der Imperialismus konsolidierte die Mischung von Kulturen und Identitäten weltweit.

Edward Said

1.1. Eine Reise durch die Vergangenheit

Protagonist Wenzel Assmann bereist Anfang der 1990er Jahre mit einem alten Chevrolet die Südstaaten der USA. Wissenschaftlicher Gegenstand seiner Reise sind persönliche Forschungsarbeiten zur Geschichte deutscher Einwanderer in Amerika, insbesondere in den Staaten der ehemaligen Konföderation zur Zeit des Sezessionskrieges Mitte des 19. Jahrhunderts. Fokussiert werden zwei geographische Pole: Zum einen das alte Europa als der Herkunftsort verschiedener Nationalitäten, zum anderen die Vereinigten Staaten von Amerika jenseits des Atlantiks als gemeinsames Ziel der europäischen Völkerwanderungen. Der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt in der Geschichte der deutschen Immigranten. Bereits Assmanns 1984 verfasste Magisterarbeit beschäftigte sich mit dem Niedergang der deutschen Bevölkerungsgruppe in New Orleans im US-Bundesstaat Louisiana.

Assmann, 1958 in Dornbirn im österreichischen Bundesland Vorarlberg geboren, wächst im badischen Mannheim auf und wird im Roman als Deutscher bezeichnet. Zu Beginn des Romans bereist er den Bundesstaat Texas; seit geraumer Zeit zieht es ihn immer wieder in das Städtchen Ellinger, nachdem er in der Amerikanerin und Studentin Barbara Kruse eine Geliebte und intellektuelle Gleichgesinnte gefunden hat. Assmann bleibt wegen Barbara länger in Ellinger als ihm in Anbetracht seines Studiums lieb ist. Schließlich kann er Barbara überreden, zumindest für eine Zeit lang mit ihrem Studium in Austin auszusetzen und ihn auf seiner Studienreise durch die Südstaaten zu begleiten.

Barbaras Herkunft ist für Assmanns Studien in besonderem Maße interessant: Sie ist zwar in den USA geboren, hat aber deutsche Vorfahren in Böhmen[i], die einst in die USA auswanderten. Ferner ist sie Viertelindianerin, ihr Großvater war indianischer Abstammung. Das Pärchen unterhält sich in deutscher Sprache, beide eint die europäische Herkunft. Assmann macht aber von Anfang an einen durchweg kosmopolitischen Eindruck: ihn haben Fernweh und Reiselust gepackt, er ist jemand, der sich mittlerweile selbst von jeglichem Nationalgefühl befreit sieht: „Allein in der Fremde, so schien es ihm, als Ausländer nämlich, konnte Nationalbewusstsein auch fortschrittliche, naturgemäß antinationalistische Erkenntnisse lostreten“ (Meinecke 1996:48). Barbara Kruse hingegen ist, trotz ihrer multinationalen Abstammung, selbst kaum über ihr Heimatstädtchen Ellinger hinausgekommen. Erst die Beziehung zu Assmann wird zur Gelegenheit, erstmals über den eigenen texanischen Tellerrand hinauszublicken.

Welche Erkenntnisse verspricht sich Wenzel Assmann, wenn er kleine Ortschaften und Provinznester wie Neubraunschweig, Boerne oder Weimar auf dem amerikanischen Lande besucht und nach deutschen Wurzeln durchkämmt? Geht es ihm primär um deutsche Geschichte oder doch eher um die multikulturellen Vereinigten Staaten? Mögen die deutschen Traditionen zahlreich sein, auf eine ursprüngliche – und nur deutsche – Identität lassen sich die USA bei weitem nicht festlegen. Im Gegenteil, das, was Assmann fasziniert, sind die einzigartige Zersplitterung, die unzähligen Quellen und Einflüsse, die eine Festlegung auf eine einzige Identität der USA unmöglich machen.[ii] Der hohe Grad an Heterogenität zeigt sich, wie wir bereits an Barbara Kruse gezeigt haben, insbesondere an Herkunft und Abstammung der Bevölkerung. Nation, Rasse, Volk und Ethnie sind dabei auf Homogenität abzielende Begriffe, denen Assmann im Rahmen seiner Untersuchungen häufig begegnet und die es auf ihre Geschichte und Wirkung zu analysieren gilt. Bevor wir aber näher auf die Konstitution der amerikanischen Gesellschaft und ihre historischen Wurzeln eingehen, erscheint es mir notwendig, sich zunächst auf eine allgemeine Begrifflichkeit und Definition von abstrakten Termini wie Nation, Rasse und Ethnie zu verständigen, um im Anschluss daran deren Bedeutung in The Church of John F. Kennedy zu diskutieren.

1.2 Nation und Rasse – Konstruierte Kategorien

Die Vereinigten Staaten von Amerika blicken auf eine relativ junge und dennoch multikulturelle Geschichte zurück. Zahlreiche europäische Völker besiedelten den Kontinent innerhalb weniger Jahrhunderte: so waren die Immigranten von Anfang an mit ausgeprägter Vermischung und multikultureller Identität konfrontiert. Diese multinationale europäische Immigrantengesellschaft wurde darüber hinaus durch die indianischen Ureinwohner (Native Americans) sowie die aus Afrika deportierten schwarzen Sklaven weiter heterogenisiert. Umso bemerkenswerter ist daher die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten trotz der realen kulturellen Differenzen und zahllosen Identitätsformen eine offenbar homogene Nation geschaffen haben, die auf der Bühne des 21.Jahrhunderts als patriotischer bis nationalistischer Staat auftritt.

Die Möglichkeit der Errichtung eines homogenen Volkes trotz der evidenten Heterogenität der Gesellschaft ist das Ergebnis einer „fiktiven Ethnizität“, einer vom Staat erst künstlich geschaffenen, konstruierten Gemeinschaft. Konstruiert bzw. fiktiv bedeutet demnach, dass das Volk keineswegs eine genuin homogene Gemeinschaft ist, die auf genetischer Abstammung fußt, sondern im Gegenteil diese Einheit vom Staat bzw. Nationalstaat bewusst propagiert wird. Indem der Gesellschaft eine vermeintlich einzigartige herkunftsmäßige, kulturelle und interessenmäßige Identität zugeschrieben wird, die von Natur aus gegeben ist, festigt das konstruierte Wir-Gefühl Staat und Hierarchie nach außen wie nach innen (Balibar/Wallerstein 1992:118).

Im Wesentlichen auf drei Ebenen können Völker und deren Homogenität konstruiert werden: auf genetischer/biologischer Ebene als „Rasse“ mit unverkennbaren physischen, genetischen Gemeinsamkeiten; als „Nation“, die soziopolitisch begründet ist und deren Ein- bzw. Ausschlusskriterium vor allem die Grenzen des Nationalstaats bilden; sowie als „ethnische Gruppe“ auf der Basis von kulturellen Wurzeln und einer Kontinuität von tradierten Verhaltensweisen, die sich nicht unbedingt auf feste Staatsgrenzen stützen müssen (ebd.:96). Allen drei Begriffen gemeinsam ist neben ihrer Konstruiertheit der Bezug auf die gemeinsame Vergangenheit, die immer Erfindung ist. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Identitäten und Gruppierungen durchaus umfassende genetische Anlagen verbinden können, „die von Person zu Person beträchtlich variieren. Keineswegs aber müssen diese Merkmale so kodiert werden, daß sie in drei, fünf oder fünfzehn verdinglichte Gruppierungen zerfallen, die wir ‚Rassen’ nennen. Die Anzahl der Kategorien, ja die Tatsache der Kategorisierung selbst, ist ein Akt gesellschaftlicher Entscheidung“ (Balibar/Wallerstein 1992:99).

Ferner ist zu beachten, dass solche Termini für gesellschaftliche Formationen alles andere als konstant sind. Selbst scheinbar rigide Gebilde wie Nationen bzw. Nationalstaaten sind flexibel, können sich also umformieren, erweitern oder verschwinden. Dies gilt in gleichem Maße für die Ideologisierungen von Nation und Rasse, dem „Nationalismus“ und dem „Rassismus“. Beide Ideologien sind weder konstant noch spezifisch, sondern anpassungsfähig. Es gibt daher nicht den einen „invarianten Rassismus, sondern mehrere Rassismen […], die ein ganzes situationsabhängiges Spektrum bilden […]: eine bestimmte rassische Konfiguration hat keine festen Grenzen, sie ist ein Moment einer Entwicklung […]“ (ebd.:52).

Assmann kommt im Roman permanent mit amerikanischen Einheimischen in Kontakt und kann sich so ein Bild vom amerikanischen Selbstverständnis der Gesellschaft verschaffen. Bei Telefonaten mit seiner ehemaligen Freundin Erika oder in Gesprächen mit Barbara geht es aber immer auch um aktuelle politische Themen in Deutschland wie Europa. Wir werden sehen, dass beide Kontinente einige wesentliche Parallelen aufweisen, die sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart betreffen. Bei den nachfolgenden Untersuchungen – und dies gilt neben der Nationenproblematik auch für alle anderen Themenfelder – soll die politische und soziale Gegenwart im Vordergrund stehen. An ihr wird das Gesellschaftsbild, das Assmann anhand seiner Reflexionen und Gespräche von der heutigen US- und europäischen Gesellschaft entwirft, deutlich werden.

1.3. Tradierte rassistische Codes

Trotz seiner deutschen Herkunft und der Verbrechen seiner Nation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnet Assmann auf seiner Reise überraschenderweise kaum antideutschen Ressentiments. Stattdessen stößt er gemeinhin auf Gleichgültigkeit oder gar Sympathie. Hervorzuheben sind zwei Begegnungen mit offensichtlichen Neonazis, die aus ihrem Antisemitismus keinerlei Hehl machen. Der Ölunternehmer und Motelbesitzer Hachman, in dessen texanischer Herberge Assmann zu Beginn des Romans residiert, bezeichnet sich selbst als „großer Fan der Nazis“ (Meinecke 1996:15 ff.). Seinem Idol Adolf Hitler wirft er lediglich einen einzigen Fehler vor, nämlich „nicht gleich alle Juden umgebracht zu haben.“ Der Hotelier belohnt Assmann für sein bloßes Deutschsein, indem er ihm Preisnachlass auf die Übernachtungen im Motel gewährt. Assmann betont an gleicher Stelle, dass er selbst keineswegs Nazi ist. Er stimmt Hachman bei dessen antisemitischen Angriffen nicht zu, argumentiert allerdings auch nicht aktiv dagegen. Schon einmal hatte sich eine vergleichbare Begegnung mit einem bekennenden Neonazi und Antisemit 1988 in Atlanta abgespielt, derer Assmann sich bei einem erneuten Besuch in der Olympiastadt erinnert. Damals stattete er aus musikalischem Interesse dem Chef eines Musiklabels Bob Lutcher einen Besuch ab. Wie sich beim Besuch dann herausstellt, ist dieser „glühender Verehrer Adolf Hitlers, Judenvernichtung eingeschlossen“ (ebd.:136).

Obwohl es sich hier nur um zwei Charaktere faschistischer Gesinnung handelt, scheinen sie keine Einzelfälle in der US-amerikanischen Gesellschaft zu sein. Assmann ist von den Äußerungen Hachmans nicht überrascht, sondern „hatte sich mittlerweile an den amerikanischen Antisemitismus gewöhnt“ So spricht er von einer „Hachmanschen Schublade“, die er bereits seit früheren Erfahrungen mit amerikanischem Rassismus eingerichtet hat. Assmann zeigt sich somit eher gelassen bis gelangweilt, wenn Hachman wieder einmal beginnt, seinen Antisemitismus dialektisch zu rechtfertigen:

Wenn zwei sich streiten, hob der Motelbesitzer an, aber Wenzel wusste schon, was kommen würde. Tonnenweise ließen die Juden kolumbianisches Kokain einfliegen, wuschen das Geld in ihren Banken rein und kanalisierten die Droge direkt ins Herz der schwarzen Ghettos. Während sich dort die Bevölkerung dumm und dämlich schnupfte, ihre Autos zu Schrott fuhr und sich gegenseitig die Köpfe einschlug, entrollten die Juden einen fetten Bauplan nach dem anderen […] Was für Baupläne also, führte Hachman fort […]: Kinderheime, Krankenhäuser, Rehabilitationszentren. Des Juden Spiel war nämlich ein doppeltes; einerseits spritzte er den Afroamerikaner mit Rauschgift voll, andererseits stiftete er seinem Opfer eine soziale Einrichtung nach der anderen. Womit er, so glaubt er, so Hachman, die dunkle Rasse als willfährige, manövrierbare Masse, als Puffer, wie er, so Hachman, glaubt, im drohenden, vielleicht schon bald offenen Konflikt zwischen seinen eigenen schmutzigen, durch den angeführten Effekt gleichzeitig reingewaschenen Geschäften und dem so unschuldigen wie fleißigen Treiben der weißen Mehrheit, der leider schweigenden, besitzt […] (Meinecke 1996:17).

Diese Dialektik enthält uralte antisemitische Stereotype wie das der ewigen Verbindung von Juden und der Leitung des Bank- und Finanzwesens und darüber hinaus Denkmuster, auf die wir speziell in den Folgeromanen Tomboy und Hellblau noch des Öfteren stoßen werden. In erster Linie betrifft dies die von Figuren in Meineckes Romanen häufig vorgenommene Einstufung der jüdischen Religion als Rasse in der Diaspora. Ferner gelten Juden nicht als weiß, zumindest nicht als so weiß wie die weiße christliche Mehrheit. Sie unterscheidet sich somit nicht nur rassisch und religiös, sondern auch farblich von der wirklich weißen Mehrheit und rückt damit in die Nähe der ebenfalls sich von der dominierenden Mehrheit farblich unterscheidenden diskriminierten schwarzen Rasse.[iii]

Juden und Schwarze scheint ein ganz besonderes Verhältnis zu verbinden. Beide „Rassen“, sofern man sich auf diesen Terminus einlassen möchte, leben – gerade in Amerika - in der Diaspora. Die Unterwerfung unter die Kontrolle der weißen, nichtjüdischen Mehrheit muss sie allerdings nicht zwangsläufig einen, sondern produziert in gleichem Maße auch Rivalität. Diese Problematik taucht im Rahmen einer Nachrichtensendung auf: „Allein, der Blick in den Fernseher erwies sich als kaum erfreulicher. Afroamerikaner und Juden prügelten sich in Brooklyns Straßen […]“ (ebd.:95). An anderer Stelle erscheinen sie auf einer Ebene: die überlegene weiße, nichtjüdische „Herrenrasse“ formiert sich in Bündnissen wie dem Ku Klux Klan als „mörderischer Geheimbund gegen Juden, Neger, Katholiken, Ausländer und Syndikalisten“ (ebd.:170).

Die Verbindung von Juden und Schwarzen als vertriebene Ethnien, die das gemeinsame Schicksal der Unterdrückung und Ausbeutung verbindet, wird uns in späteren Kapiteln noch sehr intensiv beschäftigen. An dieser Stelle soll zunächst die Problematik zwischen Schwarz und Weiß fokussiert werden: In Assmanns Zwischenstation New Orleans ist diese in besonderem Maße präsent: die Mehrheit der Einwohner ist schwarz bzw. afroamerikanisch; ganze Bezirke sind durch das Fremdenverkehrsamt auf Stadtplänen schwarz eingefärbt, in denen ein weißer Tourist sich besser nicht blicken lässt (Meinecke 1996:71). In anderen Bezirken leben Schwarze und Weiße friedlich neben- bzw. miteinander. Die Gesellschaft der Stadt ist von Hierarchien geprägt. Für das multikulturelle New Orleans war und ist die Hautfarbe eindeutig Kriterium für den gesellschaftlichen Status (Walton 1972:48).

Der weiße Landhausbesitzer Ferdinand Muller hatte Assmann bereits früher einmal beherbergt und vermietet dem reisenden Pärchen nun erneut ein Zimmer. Gleich zu Beginn kommen die sexuellen Vorlieben des Landlords zur Sprache. Über die Homosexualität und das bizarre Liebesleben des Vermieters klärt Assmann seine Freundin Barbara rechtzeitig auf. Dabei hält sich Muller auf seinem Hof regelrecht schwarze Sklaven, die gleichzeitig als seine Liebhaber und Gespielen fungieren. Während ihres Aufenthaltes lernen Assmann und Barbara zwei solcher Liebesdiener kennen: die Schwarzen Lester und Kermit. Nach Außen hin pflegt Muller seine Gespielen als Gärtner zu tarnen und hat abgesehen von ihrer Liebeskunst für sie auch keinerlei weitere ernsthafte Verwendung: „Denn Mister Mullers Hochachtung für die schwarze Rasse beschränkte sich fast ausschließlich auf deren sexuelle Leistungen. […] und wenn er einmal, was ohnehin selten vorkam, über seine Buben sprach, verstand er es garantiert so einzurichten, dass das Wort Negro wie Nigger klang“ (ebd.:S.72). Was sich beim texanischen Motelbesitzer Hachman primär als Antisemitismus offenbarte, zeigt sich bei Muller vor allem als weißer Rassismus gegenüber Schwarzen. Nach seiner sexuellen Befriedigung schickt er die Liebhaber gebieterisch wieder zurück in den Garten. Sein diskriminierendes Verhalten wird an anderer Stelle ebenfalls deutlich: „[…] erschien ein schwarzer Schatten über der Kruse in der Tür. Kommen Sie doch rein, Lester“, rief Barbara; „Muller hätte seinen treuen kleinwüchsigen Gespielen glatt bis zum Abspann vor der Tür warten lassen“ (ebd.:102). Hier ist es Barbara, die Lester in einen Fernsehabend mit einbezieht, der ohne ihre Initiative sicherlich ohne des Schwarzen Gesellschaft verlaufen wäre: mit einem Höchstmaß an Ignoranz verhält sich Muller gegenüber seinen Liebhabern, sobald dritte zugegen sind. Mullers Rassismus überrascht insofern, als er selbst als Homosexueller gerade in den konservativen Südstaaten zu einer diskriminierten Randgruppe gehört. Dies spürt er allerdings weniger in New Orleans, das laut Assmann eine Hochburg der Gleichgeschlechtlichkeit darstellt. Mullers Kindheit hingegen ist von Häme und Demütigung geprägt: Sein Vater gehört dem rassistischen Ku Klux Klan an, der für die Homosexualität seines Sohnes alles andere als Verständnis aufbringen kann. Als der junge Muller seiner „unglücklichen Veranlagung“ gewahr wird, flüchtet er aus seinem strengen Elternhaus und verlebt zwei sexuell exzessive Wochen in New Orleans, bevor er nach Hause zurückkehrt.

Muller ist eine ausgesprochen zwielichtige Person: zwar weiß und selbst rassistisch gegenüber der schwarzen Bevölkerung, andererseits aber homosexuell und verweiblicht, weshalb er vom Ku Klux Klan eines Tages aufgrund unpassender Äußerungen zusammengeschlagen wird. Sein Verhältnis zu Schwarzen, denen er mit sexueller Vorliebe und gleichzeitiger menschlicher Abneigung begegnet, ist höchst ambivalent. Seine Extravaganz spiegelt sich zudem nicht nur in seiner Sexualität wider, sondern auch in seiner Vorliebe für Mode und Verkleidungen aller Art, die er, wenn auch seltener als früher, zu „Exzessen“ und zum Fasching herauskramt: „[…] alle Schubladen im Raum quollen nur so über vor billigem Mode- und Karnevalsschmuck, Federboas und Knautschlack-Handtäschchen. Ferdinand Muller war wirklich eine Erklärung wert“ (Meinecke 1996:75 ff.). Mullers Verkleidung gestattet ihm ein plurales Leben, das für das moderne abendländische Einheitsdenken untypisch ist. Performativität und Maskerade ermöglichen den Rollentausch, den sein ambivalentes Ego einfordert. Identitätswechsel durch performativen Rollentausch, etwa durch Verkleidung, ist eine der zentralen Möglichkeiten, traditionelle Matrizen der Moderne wie schwarz/weiß, männlich/weiblich etc. zu überwinden. Insofern kann in der Romanentwicklung bei Meinecke Ferdinand Muller als einer der Pioniere bei der Erprobung und Besetzung neuer Identitätsfelder angesehen werden. Wenn wir seine künstliche Verkleidungsstrategie als eine Art Kunst interpretieren, so lehrt uns diese, dass die postmoderne variable Identität eine gesellschaftlich prospektive Form angenommen hat, und zudem, wie sie gelingen und lebbar sein kann: „Darin hat die Kunst […] Avantgarde-Funktion, diagnostisch sowohl wie propädeutisch: Sie generiert neue Identitätsformen, und sie lebt die entsprechenden Verhaltensweisen vor und übt sie ein“ (Welsch 1990:198).

Wenngleich Assmann weder homosexuell ist, noch zu Verkleidungen neigt, werden doch einige Parallelen zwischen beiden deutlich. Assmann betont, dass es lediglich die innige Liebe zu Barbara ist, die ihn daran hindert, nicht ebenfalls, wie Muller, im berüchtigt freizügigen New Orleans seinen sexuellen Phantasien nachzugehen. (Meinecke 1996:73). Wie Muller wechselt auch Assmann – bevor er Barbara kennen lernt- häufig seine Sexualpartnerinnen. Er erinnert sich gerne an seine, wenn auch bisher einzige, schwarze Geliebte Bernice Anderson, mit der er eine „verwirrende“ Liebesnacht verbringt (Meinecke 1996:114). Muller und Assmann scheinen also im Hinblick auf ihre sexuellen Neigungen nicht weit voneinander entfernt zu sein. New Orleans besitzt für beide einen ganz besonderen Stellenwert bezüglich der Möglichkeit des Auslebens eines ganz bestimmten Lebenswandels. Sowohl Assmann als auch Muller verspüren dort eine Toleranz und Bewegungsfreiheit, die in den Vereinigten Staaten sonst eher selten ist. Vom Mythos New Orleans ist die Rede und selbst in Barbaras texanischem Heimatstädtchen Ellinger weiß man um die Freizügigkeit der Stadt in Louisiana. Ähnlich bunt wie Mullers Kleiderschrank ist sie zudem in ihrem Multinationalismus - und kulturalismus: Ursprünglich von Indianern besiedelt, war New Orleans in den Jahrhunderten der Eroberung und Kolonisation bald spanisches, bald französisches und schließlich amerikanisches Territorium. Trotz der häufigen Machtwechsel und der massiven ausländischen Immigration behielten die ansässigen Nationalitäten und Ethnien aber ihre jeweiligen distinktiven kulturellen Eigenarten und Verhaltensweisen bei. Diese Traditionen gepaart mit „interrassischen“ Verbindungen und Vermischungen führten letztlich zu einer polyglotten, ethnisch-kulturellen Mischung, die die Gesellschaft in New Orleans und Umgebung einzigartig macht und die starke Konkurrenz und Identitätskrisen der Gruppen zur Folge hatte.

Die Südstaatenmetropole gilt zudem als Geburtsstätte des Jazz: Und erst dem Jazz als musikalisches Genre gelang es, ein Gefühl der gemeinsamen kulturellen Identität zu schaffen und speziell der afroamerikanischen Gemeinschaft moralischen Auftrieb zu vermitteln, die unter den kolonialistischen Konditionen in besonderem Maße zu Leiden hatten (Walton 1972:50). Trotz der pluralen Gesellschaft und ihrer unzähligen Interessenkonflikte leben Schwarz und Weiß doch weitgehend friedlich miteinander, genauso wie es Hetero- und Homosexuelle tun. Dennoch sind latenter Rassismus und Sexismus, siehe Ferdinand Muller, selbst im liberalen New Orleans noch präsent. Bei einem seiner Spaziergänge durch die ärmeren Bezirke der Stadt wird Assmann den herrschenden Klassengegensätzen der amerikanischen Gesellschaft sehr wohl bewusst. Diese müssen jedoch nicht zwangsläufig zwischen Weiß und Schwarz verlaufen; Arbeitslosigkeit und Armut können prinzipiell jeden treffen:

Wenzel Assmann erkannte, dass die Gegend zwischen North Ramport und Broad von der Rezession, sprich Arbeitslosigkeit, besonders hart getroffen worden sein musste. Zwar war dies hier kein reines Schwarzenghetto, aber was nützte es dem dunklen Mann, wenn er sein Elend mit dem Irishman teilte und beide von demselben piekfeinen, hellschwarzen Kreolen regiert, das heißt, im Endeffekt, nichts anderes als niedergehalten wurden? Die statistische Tatsache, dass es in New Orleans auch eine mächtige Klasse höchst vornehmer Farbiger gab, ließ die Konturen sozialer Ungerechtigkeiten, welche die nordamerikanische Gesellschaft determinierten, nur umso schärfer hervortreten. Nicht zuletzt begriff sich so mancher Anthrazitkreole um einiges eher als Gallier denn als Afrikaner […] Auf diesem Kontinent wollte wohl ein jeder gerne Fremder, Eindringling, besser noch, Pionier, Eroberer, Vandale, Exterminator, ist gleich Europäer, sein (Meinecke 1996:108).

Wie kann man sich farblich einen hellschwarzen bzw. Anthrazitkreolen vorstellen? Hell und schwarz schließen sich in der Farbenlehre aus, am ehesten könnte man hellschwarz noch mit grau in Verbindung bringen. Der Neologismus Hellschwarz ist synonym zu dem voranstehenden „piekfein“: Die mächtige Klasse vornehmer Kreolen, sozial und ökonomisch mindestens gleichauf mit den vermögenden Weißen, verändert sich durch ihr Privileg schließlich auch äußerlich und wird tatsächlich farbig, nämlich weniger schwarz: Der besser gestellte Kreole ist heller und glänzender, während der Bodensatz der Gesellschaft deutlich dunkler, nämlich tief schwarz ist: „Die Bevölkerung ist zu über fünfzig Prozent schwarz, pechschwarz sozusagen, denn in den schwarzen Gegenden liegt das Durchschnittseinkommen ebenso niedrig wie in Mexiko“ (ebd.:154). Diese Äußerung Assmanns bezieht sich auf Richmond, Virginia, während des Sezessionskrieges Hauptstadt der Südstaaten, lässt sich aber auch auf andere Städte wie New Orleans, das ja einen ähnlich hohen schwarzen bzw. farbigen Anteil an der Gesamtbevölkerung hat, anwenden. So begegnet Assmann dort einem Afroamerikaner, einem „zahnlosen, wirklich pechschwarzen Kerl, der unter seinem weißen Lincoln Continental lag“ (ebd.:108). Assmann scheint in diesem Fall geradezu überrascht von der Intensität der schwarzen Hautfarbe, und der weiße Lincoln ist der ins Auge springende deutliche Kontrast. Der vornehme, privilegierte Schwarze wird über den Farbigen zum Kreolen und steht damit auf einer Stufe mit dem Vertreter der weißen Oberschicht. Auf den unteren Rängen verdunkelt sich jener und ist am Ende pechschwarz wie bettelarm.[iv] Interessanterweise gilt für den weißen Teil der Bevölkerung eine ähnliche Dialektik. Es lohnt sich, eine Episode aus Assmanns Forschungsmaterial mit einzubeziehen: Diese handelt von Sally Müller, einer weißen Sklavin aus dem Elsass. Als ihre Eltern bei der Emigration der Familie in die Staaten Anfang des 19. Jahrhunderts umkommen, wird die kleine verwaiste Tochter Sally kurzerhand in New Orleans vom Kapitän verkauft und versklavt: „Vier Jahre später wird die nun etwa zwölfjährige brünette Elsässerin als Mulattin namens Bridget weiterverkauft, landet dann als Sklavin auf Lebenszeit in Mobile […]“ (Meinecke 1996:77). Jahre später wird der Irrtum aufgeklärt, Sally Müller als Weiße erkannt und gewissermaßen in das weiße Bürgertum zurückgeholt. Die Geschichte zeigt, dass auch in der weißen Bevölkerung der gesellschaftliche Status die Hautfarbe bestimmt und als Indikator für den sozialen Status gilt. Die ursprünglich weiße, privilegierte Europäerin Sally Müller gerät durch widrige Umstände in die Unterschicht und wird zur Mulattin, also gleichsam Farbigen. Hier hat die Farbe einen eindeutig negativen Charakter, während sich der Kreole durch seine hellere Farbe vom pechschwarzen Unterprivilegierten abhebt. Diese konstruierte Farbhierarchie wird vom privilegierten Kreolen bewusst verfolgt: Er sieht sich farblich immer eher als weiß und weniger als schwarz.[v] Er wertet sich außerdem gegenüber dem afrikanischen Schwarzen auf, indem er sich als Europäer definiert und nicht als Afrikaner: „Nicht zuletzt begriff sich so mancher Anthrazitkreole um einiges eher als Gallier denn als Afrikaner […] Auf diesem Kontinent wollte wohl ein jeder gerne Fremder, Eindringling, besser noch, Pionier, Eroberer, Vandale, Exterminator, ist gleich Europäer sein“ (ebd.:108).[vi] Fremde sind die Abkömmlinge afrikanischer Sklaven auch, aber Pioniere und Eroberer waren immer nur die Europäer. Dagegen war die undankbare Rolle der Unterdrückten und Ausgebeuteten den versklavten Afrikanern zeitlebens und sprichwörtlich auf den Leib geschrieben. Insgesamt stellt somit die Hautfarbe eines der bedeutendsten Differenzierungsmerkmale innerhalb der amerikanischen Gesellschaft dar. Wie wir oben am Beispiel der jüdischen Bevölkerung gesehen haben, umfasst dies nahezu alle Rassen, denen Assmann im Roman begegnet. Eine Ausnahme ist Barbara, die Assmann nicht etwa Rothaut, sondern Halbblut nennt: Hier wird Verwandtschaft durch genetische Abstammung und nicht durch äußerliche Faktoren suggeriert.

Bis in die Gegenwart spiegeln sich die Verhältnisse der Vergangenheit und prägen das Bild der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft nachhaltig. Offener Rassismus tritt in The Church of John F. Kennedy selten zutage. Was sich an den Figuren von Meinecke zeigt, ist vielmehr der Versuch, die eigene Herkunft und Rasse in ein möglichst positives Licht zu rücken; notfalls wird manipuliert oder verschwiegen. Europäische Wurzeln gelten als vornehm, während indianische oder afrikanische unangenehm bis unerträglich sind. Auch Barbara Kruse betont, dass sie deutscher bzw. böhmischer Herkunft ist, sie ist bilingual, gewissermaßen binational aufgewachsen und spricht mit Assmann ausschließlich deutsch. Demgegenüber reagiert sie geradezu hysterisch, als ihre indianische Abstammung zur Sprache kommt: „[…] selbst Barbara hatte ja am Bächlein hemmungslos, und wie von schwerster Schuld geschüttelt, losgeheult, als sie, vor Wenzel, zum ersten Mal auf ihre indianische Abstammung zu sprechen gekommen war […]“ (Meinecke 1996:108). Barbara betont ihre deutschen Wurzeln und verschweigt ihre indianischen. Motelbesitzer Hachman verehrt Assmann als Deutschen. Der kreolische Galan auf der Straße betont seine Abstammung vom alten französischen Adel. Nur der Europäer Assmann selbst fällt hier aus der Rolle und bildet sich nichts darauf ein, Deutscher zu sein, und damit Pionier, Eroberer und Exterminator. Im Gegenteil, er wäre „lieber an einem notdürftig asphaltierten Komantschenpfad zwischen Boerne und Bettina geboren worden als auf der halben Strecke zwischen Mannheims kurpfälzischem Schloß und dem deprimierenden Palais Bretzenheim“ (ebd.:157).

Die amerikanische Nation macht bis hierhin keineswegs den homogenen Eindruck, den der moderne Staat zwecks seiner Legitimation zu generieren sucht. Die Gesellschaft ist in sich in einem hohen Ausmaß different und heterogen. Insbesondere in Städten wie New Orleans, die auf Jahrhunderte der Vermischung der Ethnien und Kulturen zurückblicken, kann man bald nicht mehr unterscheiden, wer schwarz und wer weiß ist. Ein gewisser Prozentsatz der Schwarzen kann sogar als Weiße „durchgehen“ (Passing). Wir begegnen hier erstmals dem Begriff des Passings, also einem unbemerkten Übergang von einer ursprünglichen, meist genetisch/biologisch bedingten Identität in eine entgegengesetzte und gegenwärtige. Dieser Wandel kann, am Beispiel der „mehrsprachigen, rassischen und ethnischen Vermischungen“ (Walton 1972:47) zunächst passiv erfolgen, vom Individuum aber auch bewusst praktiziert werden. Diese Differenz macht aber nicht unbedingt den Eindruck, als handele es sich um jene positive Hybridität der Menge (multitude), die Zeichen der postmodernen Gesellschaft ist (Hardt/Negri 2002:74) und Bereitschaft und Potenzial zum Wandel signalisiert. The Church of John F. Kennedy deutet Hybridität und Konstruktionen in einer Gesellschaft an, die aber noch deutlich von binären Zwängen der Moderne gekennzeichnet ist. Passing und Identitätswandel erfolgen aus opportunen Motiven heraus, die in erster Linie die persönliche Aufwertung bezwecken, anstatt gesellschaftliche Egalität zu etablieren.

1.4. Protest und antinationalistische Potenziale

Nach Barbaras plötzlicher Abreise aus New Orleans setzt Wenzel Assmann seine Reise alleine fort. In Atlanta, Bundesstaat Georgia trifft er auf das Aktivisten-Pärchen Jack und Cherry. Zunächst fällt er auf die weiblichen Reize von Anhalterin Cherry herein, die bzw. der sich allerdings relativ bald als Transvestit entpuppt. Gleichwohl lässt er sich von ihr zu einem Kaffee einladen und lernt auf diesem Weg auch Cherrys Partner Jack kennen, einen „aus New York stammenden Urning der afroamerikanischen Aktivisten-Szene“. Während Cherry, genetisch Mann, sich als Frau gibt, und mit langen aufgetürmten blonden Haaren, Hot Pants und Silikonbrüsten beinahe Assmann reingelegt hätte, erscheint Jack in „astrein geschniegelter Militäruniform“ (Meinecke 1996:137 ff.). Ihre Verkleidung ist nicht nur transvestische Show, sondern Teil ihres politischen Aktivismus. Cherry trägt Hot Pants, die aus der US-amerikanischen Stars-and-Bars-Flagge genäht sind: Dieses patriotische Symbol der sich Mitte des 19. Jahrhunderts von Washington abspaltenden Südstaaten erinnert heute daran, dass die USA von den siegreichen Unionisten des Nordens zwanghaft wiedervereint wurden und stellt die gesamtamerikanische Einheit in Frage.

Jack trägt Militäruniformen, war aber nie bei der Armee. Welche Funktion hat die gepflegte Uniform, wenn sie eben nicht militaristisch wirken soll und was bezweckt dieser besondere Kontrast zwischen Cherrys exotischem Outfit und Jacks puritanischem, aber edlem Aufzug sowie ihrem „armseligen Wohnwagen“ (ebd.:139)? Assmann spricht im Hinblick auf das Gespräch mit Jack und Cherry von einer „gesellschaftskritischen Konversation“ und einer der „interessantesten Untersuchungen, die Assmann je mit Invertierten geführt hatte“ (ebd.:137). Atlanta ist nicht der Ort ihrer Gesellschaftskritik; stattdessen fahren die beiden regelmäßig nach New York City und mischen sich in Manhattan unter das Volk. Dies ist wörtlich zu nehmen, denn ausgerechnet in der beabsichtigten Stunde des Aktivisten-Daseins besteht die revolutionäre Aktion nicht im Auffallen, sondern im Nichtauffallen und Untertauchen. Mit anderen Worten, Cherry tauscht die Hot Pants mit einem unauffälligen Kleid und Jack die Militäruniform mit einem teueren Nadelstreifenanzug:

So flanierten sie in gleichsam sozialrealistischer Revolte die Fünfte Avenue auf und ab oder mischten sich unter die Bankiers an der Börse, wo sie, aufgeregt hin und her laufend, irgendwelche Zahlen in die Luft riefen und hatten erst dann das sichere Gefühl, ihren revolutionären Auftrag erfüllt zu haben, wenn sie niemandem, und ich wiederhole, wirklich gar niemandem, aufgefallen waren, schwärmte Cherry. Assmann gefiel diese Taktik auf Anhieb sehr; sie erinnerte ihn an Erikas und seine eigene Mobile Anpassung; darüber hinaus schien es ihm interessant, dass in der Homosexuellen-Subkultur, schon immer Vorreiter innovativer Ästhetik, der größte Sprengstoff nunmehr in der geringsten sichtbaren Abweichung lag. Cherry konnte noch so nuttig durch Atlanta stöckeln, konnte ihre Silikonbrüste noch so sehr aufpumpen lassen, Jack, an der Börse oder im vollen Heeres-Ornat, würde immer alle im Regen stehen lassen (Meinecke 1996:138).

Wo aber liegt das Innovative einer Ästhetik, wenn sie nicht auffällt? Und ist es nicht Zeichen des Mainstreams, wenn ästhetische Elemente von niemandem mehr bemerkt werden? Wenn Jack und Cherry als Nicht-Börsianer über das Börsenparkett laufen, wie alle wild Zahlen in die Luft rufen und gerade dadurch nicht auffallen, beschränkt sich der Aktivismus auf ihre eigene Wahrnehmung. Diese Taktik ist eine Verkleidung der Verkleidung, das heißt, ihre Zugehörigkeit zu Randgruppen der Gesellschaft, die sich zunächst durch verrückte Kleidung und andere Merkmale äußert, wird in New York während der Revolte ihrerseits erneut „verkleidet“, um in der Masse untertauchen zu können. Dies bedeutet die noch gesteigerte Revolte, ein mehr Scheinen als Sein in progressiver Form, politische Revolution durch Assimilation.

Das zweite Pärchen, das Assmann im Verlauf der weiteren Reise Richtung Nordosten kennen lernt, sind Angie und Booker. Angie ist die zweite Bekannte innerhalb kurzer Zeit, die mit einer Stars-and-Bars-Flagge aufwartet, diesmal als Tätowierung am Körper (ebd.:164). Aber anders als Cherry und Jack vermisst Assmann die politische, intellektuelle Wellenlänge sowohl bei Angie, der neunzehnjährigen angehenden Kunststudentin, als auch bei ihrem afroamerikanischen Freund Booker, der in einer örtlichen Apotheke arbeitet. Zu interessanten Gespräche kommt es so gut wie gar nicht und so lautet Assmanns Fazit: „Booker gehörte zu den eher jämmerlichen Afros, und mit Angie war […] auch nicht viel anzufangen. Der Putz ist runter, dachte Assmann und empfahl sich mit dem Vorwand starker Magenschmerzen“ (ebd:175). Aufgrund finanzieller Engpässe sieht er sich allerdings dann doch gezwungen, länger bei dem gastfreundlichen Pärchen zu bleiben, als ihm lieb ist. Er erfährt, dass Booker strenggläubiger Moslem ist und stets einen nach Mekka weisenden Kompass mit sich trägt. Als Assmann daraufhin seine Sympathie gegenüber diversen fundamentalistischen Strömungen bekundet, scheint Booker in seinem Glauben bestärkt und legt kurz darauf eine unverhohlen antisemitische Sprechgesangplatte auf:

Tut mir leid, Booker, bemerkte Wenzel daraufhin, aber ist es nicht irritierend, dass sich der Antirassismus immer wieder entweder sozialdemokratisch, was mir auch unerträglich ist, oder aber sozialdarwinistisch, also seinerseits hyperrassistisch, zu manifestieren pflegt? Jack im Drill aus Nord-Atlanta hätte mit Sicherheit eine triftige Replik darauf gewußt, und wenn es selbst über die gefährliche Ambivalenz des Sozialen schlechthin gewesen wäre; Booker aber schwieg den Kaukasier zum ersten Mal fast feindselig an (Meinecke 1996:193).

Ein weiteres Mal werden wir mit der ambivalenten Spielart des Rassismus konfrontiert: Booker ist als Schwarzer und Moslem in zwei Randgruppen vertreten, die in den USA Repressionen und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Die negative Erfahrung hat bei ihm aber nicht zu einem liberalen Denken geführt, das für eine rassenlose Gesellschaft einsteht, in der die Gleichheit, Freiheit und Menschenwürde aller anerkannt wird. Statt dessen entwickelt er einen eigenen „rassistischen Antirassismus“, der sich in diesem Fall gegen die jüdische Bevölkerung richtet. Der Rassismus Bookers diskriminiert die Juden als eine noch schwächere Gruppe innerhalb des hierarchischen Gesellschaftssystems und wertet die eigene Rasse damit auf. Das Recht des Stärkeren entscheidet über Erfolg und Niederlage im Rassen- und Klassenkampf und kann daher zu Recht sozialdarwinistisch genannt werden. Hier manifestiert sich das, was Michael Hardt und Antonio Negri als den „Bumerang der Alterität“ bezeichnen: die Gewalttätigkeit der Unterdrückten als Antwort auf die ursprüngliche Gewalt der Unterdrücker. Dabei muss sich die Gewalt der Unterdrückten nicht zwangsläufig gegen ihre Unterdrücker richten, sondern kann zunächst gegen ihresgleichen angewendet werden. In diesem Zusammenhang kann die Gegengewalt sogar als einziger Weg der Befreiung angesehen werden (Hardt/Negri:144). Mit anderen Worten: Der Unterprivilegierten Kampf gegen den sie unterdrückenden Rassismus kann sich naturgemäß wieder nur rassistisch formulieren (Meinecke 1996:233).

Bookers ambivalentes Verhalten deutet eine andauernde Spaltung der Gesellschaft an, die noch längst nicht überwunden ist. Die größte Gefahr geht dabei von rassistischen Bewegungen der Unterdrückten aus, die selbst nur Folge eigener Unterdrückung durch den kolonialistischen weißen Europäer sind und sich sozialdarwinistisch äußert. Angesichts dessen von einer homogenen amerikanischen Nation zu sprechen, die Freiheit, Vielfalt und Pluralität betont, erscheint unangemessen. Der Antisemitismus, der in Deutschland bzw. Europa unter Hitler seinen schrecklichen Höhepunkt erreichte, ist in Amerika, Beispiel Hachman, wie auch in Europa und im Orient, nach wie vor verbreitet. Angesichts der Millionen Einwanderer, die in den letzten Jahrhunderten Europa verließen und den amerikanischen Kontinent besiedelten, sind Gemeinsamkeiten in traditionellen Denkmustern nicht verwunderlich. Von Anfang an waren die USA Kadenz auf Alteuropa und nichts als eine moderne deutsche Variation, bemerkt Assmann (Meinecke 1996:20). Sowohl auf amerikanischem als auch auf europäischem Boden haben über Jahrhunderte Ausbeutung, Kriege und Genozid gewütet. Von einem Land der Freiheit zu sprechen oder das westliche Werteverständnis zu preisen, ist schlicht zynisch. In diesem Sinne sind Assmanns Entdeckungen amerikanisch-europäischer Bräuche und Traditionen wie deutsches Bier oder Blasmusik und Oper, der er wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des amerikanischen Jazz attestiert, blendende Nebeneffekte.

1.5. Transatlantische Gleichklänge und Denationalisierung

Die Entdeckung Amerikas und die darauf einsetzenden Völkerwanderungen von Europa und gezwungenermaßen von Afrika aus lassen sich als erste Form der anthropologischen Globalisierung als Konsequenz der weltweiten Völkerwanderung interpretieren. Durch die Menge der Einwanderer unterschiedlicher Herkunft entstand auf nordamerikanischem Boden ein Vielvölkerstaat, der zwar zu einer homogenen Nation stilisiert wurde, aber in Wahrheit nach wie vor ein heterogenes Volk repräsentiert, das von interrassischen Konflikten stark durchzogen ist. Dennoch ist die ver- und durchmischte Menge erstes Kennzeichen postmoderner Hybridität:

Das Empire arrangiert und organisiert hybride Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch abgestimmte Netzwerke des Kommandos. Die unterschiedlichen Nationalfarben der imperialistischen Landkarte fließen zusammen und münden in den weltumspannenden Regenbogen des Empire (Hardt/Negri 2002:11).

Diese Entwicklung begann in Amerika schon vor einigen Jahrhunderten. Am Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich der Aufklärungsgedanke in Europa und damit auch in den Vereinigten Staaten allmählich durch. Der höfische Absolutismus wich dem Totalitarismus des modernen Staates, aus Untertanen wurden Bürger. Gleichwohl waren die Mächtigen des Landes bemüht, ihre Macht auch weiterhin zu behalten und die aufgeklärte und sich emanzipierende Menge unter Kontrolle zu behalten. Der aufklärerischen, immanenten Sturm- und Drang-Bewegung begegnete man mit einem repressiven Staatsapparat, einem transzendenten Leviathan. Diesen fortwährenden Kampf zwischen aufbegehrender Menge und disziplinierendem Obrigkeitsstaat bezeichnen Hardt und Negri als die „Krise der Moderne“ (ebd.:92). Der moderne Staat einte durch Binärcodes das heterogene Volk und negiert bzw. unterdrückt Hybridität und Singularitäten. Die so geschaffene Nation repräsentiert Homogenität und Wir-Gefühl nach innen. Gleichzeitig wird durch die Betonung des Außen und die Negativität des Anderen dauerhafte Differenz gegenüber fremden Völkern bzw. Nationen geschaffen bzw. aufrechterhalten.

Die Entstehungsperiode der Vereinigten Staaten fällt ebenfalls in diese Zeit der Krise der Moderne und ihre Geschichte ist eine besondere. Durch die massive Einwanderungswelle multinationaler Identitäten war die Neue Welt von Anfang an ein Vielvölkerstaat. Darüber hinaus potenzierte man die Differenzen noch um ein Vielfaches, indem man die Bewohner des kolonialisierten afrikanischen Kontinents versklavte und nach Amerika verfrachtete, wo sie Teil der dortigen Gesellschaft wurden. Die eigenen Ureinwohner hingegen wurden zu keinem Zeitpunkt integriert, sondern von Beginn an konsequent ausgerottet (Hardt/Negri 2002:182). Diesen Genozid greift auch Meinecke auf, wenn sein Protagonist Wenzel Assmann den USA vorhält, ihre Autobahnen lägen auf den „Kriegspfaden der hingemetzelten Indianer“ (Meinecke 1996:156). Dem honorigen Verdienst der „revolutionären Nation“, die erste Demokratie der Neuzeit geschaffen zu haben, gesellt sich also der Vorwurf, von Anfang an zwei ethnische Gruppen, die der Indianer und die der afrikanischen Sklaven, in der Gründungszeit nicht mitberücksichtigt zu haben. Die „Ursprungsideale [wurden] auf einer doppelten Verdrängung aufgebaut: die der Ausrottung der indianischen ‚Eingeborenen’ und die des Unterschieds zwischen den ‚weißen’ Freien und den ‚schwarzen’ Sklaven“ (Balibar/Wallerstein 1992:128).

Einen europäisch-amerikanischen Brückenschlag vollzieht Assmann, indem er die nordamerikanischen Ureinwohner mit den ostdeutschen DDR-Bürgern vergleicht. Dieser Brückenschlag ist ein territorialer, indem Ostdeutschland und Nordamerika zwei Orte der gewaltsamen Okkupation und Gewinn bringenden Vereinnahmung durch eine fremde Macht darstellen; gleichsam ist er ein historischer, der den Fortbestand imperialistischen Prozederes alter Kolonialmächte in der politischen Gegenwart an der Schwelle des 21. Jahrhunderts wiederaufleben lässt. Die Wiedervereinigung erscheint in einem anderen Licht: das trügerische Bild der friedlichen Umwälzungen in der DDR als gewaltfreie und erste siegreiche deutsche Revolution zeigt sein wahres Gesicht als das eines imperialistischen Kolonialkrieges: „Die einheimischen Herrschenden wurden verjagt, damit alle Macht in die Hände ausländischer Kolonisatoren gelegt werden konnte“ (Meinecke 1996:29). Die DDR befreit sich also weniger eigenständig und revolutionär aus der Misere, als dass sie vielmehr vom westlichen Kapitalismus überrannt wird, der mit dem Eisernen Vorhang die letzte Schranke niederreißt und schließlich den gesamten Globus überzieht (ebd.:31). Der ostdeutsche Bürger wird dabei, ganz ähnlich wie der Indianer, vom westlichen Way of Life verblendet: „Was dem Indianer nämlich das Feuerwasser war, sprach Assmann mit vollem Mund, denn er hatte sich erregt, ist heute dem Ostdeutschen der Viertakter. Verraten, gedemütigt und verkauft rumpelt er im Audi oder Opel durch sein demontiertes Reservat und weiß beim besten Willen nicht, wie ihm geschieht“ (Meinecke 1996:27).

[...]


[i] Wenzel Assmanns Name ist selbst deutsch-böhmischer Herkunft. Vgl. die The Church of Kennedy -Rezension von Christoph Bartmann: “Die Trompete in der Umlaufbahn”. In: Süddeutsche Zeitung vom 01.02.1997.

[ii] Interview mit Thomas Meine>

[iii] In Tomboy und Hellblau wird diese imaginäre Differenz noch um ein weiteres Element ergänzt, nämlich um das des Geschlechts bzw. der sexuellen Präferenz. Homosexualität und/oder Verweiblichung werden dabei als explizite Merkmale des jüdischen Mannes verwendet. In späteren Kapiteln wird sich eine konstruierte Verbundenheit von Juden und Afroamerikanern zeigen, die sich gleichzeitig rivalisierend äußern kann. Bereits jetzt zeigt sich aber, dass Begriffe wie Rasse, Nation, Geschlecht oder Ethnie bei Meinecke eng miteinander verbunden sind.

[iv] „We don’t have just Negroes. We have our Protestant Negroes, our Catholic Negroes, our downtown Negroes and our uptown Negroes, our light Negroes and our dark Negroes.” (Walton 1972:55)

[v] Dass Weiß-Sein nicht zwangsläufig privilegierte Stellungen impliziert, zeigen Bevölkerungsgruppen wie der White Trash, aber auch Homosexuelle und Juden. Die Farbenproblematik im ethnischen Kontext wird uns in Hellblau ein weiters Mal begegnen.

[vi] Ortiz Walton definiert den Begriff Kreole als eine Person gemischter, nämlich französischer und schwarzafrikanischer Abstammung, die zudem einen französischen oder spanischen Dialekt spricht (Walton 1972:47).

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
Das Bild der postmodernen Gesellschaft bei Thomas Meinecke
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für deutsche Literatur)
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
102
Katalognummer
V33193
ISBN (eBook)
9783638337281
ISBN (Buch)
9783638796811
Dateigröße
837 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bild, Gesellschaft, Thomas, Meinecke
Arbeit zitieren
Magister Artium Haiko Prengel (Autor:in), 2004, Das Bild der postmodernen Gesellschaft bei Thomas Meinecke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33193

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