Wahnsinn hat Methode. Zur Clarisse-Figur und weiteren Nietzsche-Spuren in Musil´s "Mann ohne Eigenschaften"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

20 Seiten, Note: +2


Leseprobe


Inhalt

1. Vorwort

2. Die Geschichte dreier Freunde
2.1. Jugendfreunde
2.2. Teilidentifizierungen Ulrichs

3. Clarisse`s "Neurosen der Gesundheit" oder "seelische Verdauungsstörungen"?
3.1. Physiognomie des Denkens
3.2. Beharrung auf dem ekstatischen Zustand
3.3. Erlöserin und Gottesmutter

4. Nietzsche- Epigonen im MoE
4.1. Nietzsches Gedanken als Phantasmagorien
4.2. Nietzsche Elemente im Ideengerüst MoE

5. Problematik einer Nietzsche Rezeption

6.Zusammenfassung

7. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

Um diese Arbeit zu beginnen oder sei es auch nur einen Gedanken oder ein Verständnis in Musil als Autor und `Schöpfer` vom Mann ohne Eigenschaften zu erfassen, sollte man begreifen welches geistige Relief uns dort erscheint:

Musil als Symptom seiner Zeit, als Avantgarde seiner Generation, mit aller Morgenröte, aber auch mit aller Nachtschwärze, mit allem Glanz und aller Vereitelung, aller Gebrechlichkeit und aller Versprechen.

Thema dieser Arbeit soll nicht allein die Gestalt Robert Musil`s sein, sondern vielmehr die durch ihn entstandene Figur Clarisse. Sie ist nicht fiktiv, ein biographischer Hintergrund befindet sich im Freundeskreis Musil`s. Wer ist Clarisse ? Und welche Position nimmt sie in der Gesamtkonstellation ein? - Hierzu gehört die Frage wer Ulrich ist, der ihr die Werke Nietzsches schenkt und somit das Äther für ihr Bewußtseins bietet - den Weg zum Intellekt und später zum Wahnsinn öffnet. Die Frage nach dem Protagonisten und dessen Stellung in der Gesamtkonstellation werden wir jedoch im Rahmen dieser Arbeit nur ansatzweise erarbeitet sehen können.

Im Zentrum dieser Arbeit liegt die Suche nach der Person Clarisse: ihre Position in diesem Opus ist die Grundbasis aller Fragestellungen.

Sie scheint die Einzige zu sein, neben Ulrich und Agathe, die so majestätisch deplaziert wirkt in dieser Epoche, indem sie in ihrer medialen Verrücktheit, allein durch ihre innere Größe an Ulrich heran reicht. Diese Darstellung ihres ` Willens` wird im Laufe der kompletten Arbeit sichtbar. Überdies beschäftigt sich Kapitel 2.2. näher mit der Beziehung Ulrich - Clarisse. Ulrich erscheint uns als klares Wesen, daß mit sich und seiner Umwelt in einer, wenn nicht reibungslosen dann jedenfalls in einer `neurosen -freien` Beziehung steht. Er ist sich seiner Stellung in dieser Welt bewußt und lebt diese in seiner Wahrnehmungswelt im gesunden Maße aus. Sein Bezug und Ausgangspunkt zu dieser halbfantastischen Figur ist ein Zweig seines geistigen Baums, der sich bis zum Erkenntnisbaum Nietzsches erstreckt.

Clarisse jedoch verfängt sich in dem Wunsch Klarheit und Erlösung zu finden. Sie erstarrt in ihrer Begierde nach Erlösung:

Sie bewegt sich in einem Zentrum stetiger Beharrung - in `Zuständen` die `anders` sein sollten, aber sich dennoch nicht von einem "ver rückten" anderen Zustand wirklich unterscheiden. Sie tyrannisiert ihren Mann Walter, weil er nicht das erhoffte Genie geworden ist - und sie auch nicht. Sie strebt nach einem anderen Zustand, der es ihr ermöglichen soll das Licht der Erkenntnis zu sehen und danach zu leben und zu handeln.

Das dritte Kapitel der Arbeit behandelt den Zustand ihres Wahnsinns. Welche Erfahrungen und Wahrnehmungsperspektiven lassen sie im Wahnsinn enden? Ist dies ein Hinweis auf ihr Charakteristikum Nietzsche, der im Wahnsinn endet - bedingt durch seine tragische Krankheit? Oder endet sie im Wahn, weil sie die Welt und das dazugehörige Rad nicht begreift, nicht versteht, daß nur sie es sein kann die sich in die `Höhe` bringt, um die erlösende Belohnung zu leben. In der Entwicklung der Figur erlebt Clarisse irgendwann den Beginn eines `veränderten Zustands` aber nicht den Erwünschten. Aus welchen Beweggründen heraus schenkt Ulrich Clarisse Nietzsches Werke? Ist es ein gutgemeinter Wink, der es Clarisse ermöglichen soll, mal aus dem Fenster herausschauend, sich zu orientieren? Oder ist es ein Schicksalsmerkmal von Robert an Alice?

In der hier vorliegenden Arbeit wird versucht die Figurenkonstellation um Clarisse zu kristallisieren und um damit die Zusammenhänge zwischen Musil und Nietzsche zu einem geringen Teil zu illuminieren.

Es ist dazu von Wichtigkeit, zu verstehen, ob und wie Musil Nietzsche einsetzt. Es gibt offen zitierte Stellen und nicht offen zitierte Stellen an denen in Sekundärliteratur[1] Nietzsches Gedankengut vermutet wird, wobei dargestellt wird, daß Musil in seinem Tagebuch offenherzig über Nietzsches Einfluß auf sein Denken dokumentiert.

Clarisse endet im Wahnsinn - die Einzige, als Nietzsche-Figur determinierte. Dabei erstreckt sich ihr Wirkungsfeld weit über die einzelnen Phasen des Romangeschehens. Dies wird unter Punkt vier zu erarbeiten versucht.

Im folgenden Kapitel geht es um die realen Vorbilder des Ehepaares Walter und Clarisse - die einen wichtigen Grundbaustein für die Entstehung des Romans darstellen.

2. Die Geschichte dreier Freunde

2.1. Jugendfreunde

Musils Familie zieht im Januar 1891 von Steyr nach Brünn[2]. Robert Musil besucht die Landes -Oberrealschule und um diese Zeit beginnt die Freundschaft mit Gustav Donath, dem Vorbild zu Walter im Mann ohne Eigenschaften[3] .

Die Clarisse-Figur im MoE wird in ihrem Umriß auf Alice Donath geb. Charlemant zurückgehen, wie auch deren Mann, Gustav Donath (Gustl), sein literarisches Pendant in Clarisses Ehemann Walter hat. Beide figurieren im Roman als "Jugendfreunde"[4] des Protagonisten, parallel zu ihren realen Vorbildern. Musil entdeckt recht schnell, daß sich in Alice eine tiefe Gemeinsamkeit verbirgt, die sich wie eine Spirale entwickeln und in einer intensiven Freundschaft münden, jedoch "wegen deren Bewunderung für Ludwig Klages"[5] 1907 zerrüttet wird:

"american girl aufgepflanzt auf Wiener Kultur und Künstlerdescandenz. Zielbewußt, einschlag ins soziale"[6]

Er hat die Absicht die Freundschaft mit Gustl als Charakterisierungsansatz für Ulrich einzusetzen. Am zweiten April 1905 schreibt Musil in Bezug auf Gustl und Ulrich:

"[...] Freilich ist aber gerade bezüglich Gustl u. Robert die Kindheitsgeschichte sehr zur Einführung in den Charakter geeignet."[7]

Von den ersten Ansätzen zur Entstehung des Roman, bis in die letzten Episoden des unvollendeten Romanfragments, verlassen die Figuren Clarisse und Walter die Grundgeschehnisse der Erzählung nicht. Sie sind Segmente der Grundgedanken für die Entstehung des Romans:

"Bei allem Reichtum an Personen u. Detail sind die Grundgedanken sehr arm.[...] Erstens: Die Sinnlichkeit ist eine Gewalt über alle Personen. [...] Gustls u. Alices Schwärmerei, Roberts Reserve allen Dingen gegenüber, speciell bei Gustl wird immer mehr aufgebaut."[8]

Musil spielt demnach mit dem Gedanken die Freundschaft zu Alice und Gustl immer weiter in seinen Erzählungen auszubauen, sei es auch nur um Ulrichs Charakter stärker und deutlicher zu prononcierten. Es scheint, daß der junge Musil in der Gegenwart seiner Freunde seine Grundeinstellung zu den Dingen der Welt, seine Beziehung zu den Menschen und die Betrachtung dieser durch seine reservierte Art zu beobachten[9], klarsichtig zu erkennen vermag.

"Drittens: das Verhältnis Roberts zu G. u. zu A. Es ist unser Drama. Seine bloße Gegensetzung zum Verhältnis R -G muß Robert in seiner geistigen Art kennzeichnen."[10]

Der dritte Aspekt zeigt, daß die Opposition Walter - Ulrich ein Attribut für Ulrichs Verhalten und Darstellungsform wird. Allein der Gegensatz zwischen den beiden Freunden soll der Fundus für Ulrichs Wesen werden.

Das Verhalten Robert Musils in Beziehung zu seinem Freund Gustl ist in so fern "kennzeichnend", daß Walter derjenige ist, von dem die Definition Mann ohne Eigenschaften zum ersten und zum letzten mal von einer zweiten Person aufkommt:[11]

"Walter war gehemmt, suchte, schwankte. Auf einmal platzte er los: "Er ist ein Mann ohne Eigenschaften"[...]"

Clarisse möchte es erklärt wissen und fragt Walter faustisch aus, was er damit verbindet. Walter beginnt eine Charakterisierung Ulrichs vorzunehmen, die sehr detailliert das trifft, was Ulrich ausmacht:

"[...] Er ist begabt, willenskräftig, vorurteilslos, mutig, ausdauernd, draufgängerisch, besonnen- ich will das gar nicht im einzelnen prüfen, er mag alle diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht! Sie haben das aus ihm gemacht, was er ist, und seinen Weg bestimmt, und sie gehören doch nicht zu ihm.[...]"

Walters Ausführung gehen weiter. Er definiert ihn als die Person, die im MoE als Mann ohne Eigenschaften figurieren wird.

Im folgenden dieser Ausführung läßt Musil die Beziehung zwischen den drei Freunden und ihre getrennte Entwicklung durchmustern.

Wenn es aber im allgemeinen im Roman weder um die linerar zu erzählende Geschichte eines Einzelnen noch um das Panorama von Geschichten vieler Repräsentanten eines Ganzen (Epoche, Gesellschaft) geht und auch nicht um den Konflikt des Einzelnen mit dem Ganzen, sondern eher um die vielfältigen Aspekte ihres verwickelten Verhältnisses zueinander, um die Spiegelung des einen durch das andere, so ist immerhin wahrscheinlich, daß die Methode Ulrichs bzw. Musils in Bezug auf seine Freundschaften eine Art Metamorphose konstituiert. Diese Hypothese meinerseits meint, die Verwandlung vom Status des Besonderen in den Status des Allgemeinen und umgekehrt bzw. die Darstellung der Teilverwandlungen. Das Individuelle seiner Freunde wird zum Typischen entwickelt und das Typische wieder zum Individuellen. Das Allgemeine des Einzelnen und die Konkretisierung des Ganzen dienen somit der Dynamik des Romans

[...]


[1] Ein aktuelles Beispiel hierfür, ist: Dresler-Brumme, Charlotte: Nietzsche Philosophie in Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften": eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis. Wien 1993

[2] Arntzen, Helmut: Musil-Kommentar zu dem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften", München 1982, S. 14 ff.

[3] im folgenden wird der Mann ohne Eigenschaften, abgekürzt MoE genannt.

[4] MoE, S.47

[5] Howald, Stefan: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. In: Musil-Studien, Band 9, München1984. S..219

[6] Tagebuch II (Tb), S. 585ff

[7] Tb I. Heft 11, S. 172

[8] Ebd.

[9] In der Entwicklung der heutigen Wissenschaft, wird diese Beobachterfähigkeit als Vorstufe zur Autopoiese gesehen. Vgl. hierzu Maturana, Humberto: Was ist Erkennen., 2.Auflage, München 1997

Dieser Hinweis sollte als Hypothese für Ulrichs Organisationsform und Sichtweise aus der heutigen Perspektive der Wissenschaftsentwicklung gesehen werden. Nicht mehr.

[10] Tb I, Heft 11, S.172

[11] MoE, S. 64, Vgl. hierzu: Venturelli, Aldo : Die Kunst als Fröhliche Wissenschaft. Zum Verhältnis Musils zu Nietzsche. S. 326.,In: Nietzsche -Studien, Bd..9, Berlin 1980 "Es ist bezeichnend, daß die Definition von Ulrich als "Mann ohne Eigenschaften" erstmals von Walter geprägt wird. Nach Walter drückt Ulrichs Eigenschaftslosigkeit nichts anderes aus als das "aufgelöste Wesen, das alle Erscheinungen heute haben"(GW I, 65): diese Worte enthalten schon einen mittelbaren Hinweis auf Nietzsches Analyse der Décadence[...]"

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Wahnsinn hat Methode. Zur Clarisse-Figur und weiteren Nietzsche-Spuren in Musil´s "Mann ohne Eigenschaften"
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Veranstaltung
Der Mann ohne Eigenschaften
Note
+2
Autor
Jahr
2000
Seiten
20
Katalognummer
V33021
ISBN (eBook)
9783638335997
Dateigröße
538 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahnsinn, Methode, Clarisse-Figur, Nietzsche-Spuren, Musil´s, Mann, Eigenschaften, Mann, Eigenschaften
Arbeit zitieren
Nesrin Taskiran (Autor:in), 2000, Wahnsinn hat Methode. Zur Clarisse-Figur und weiteren Nietzsche-Spuren in Musil´s "Mann ohne Eigenschaften", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33021

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