Grünzeit. Zwischennutzung von Brachflächen


Hausarbeit, 2002

102 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

Einleitung
Ziel und Gliederung der Arbeit

1. Zwischennutzung und Brachflächen - eine Lückenschließung?
1.1. Einleitung
1.2. Ein selbstverständlicher Umgang mit Raum und Zeit?
1.3. Paradigmenwechsel der räumlichen Planung: neue Anforderungen
1.4. Ansprüche an die heutige Stadt- bzw. Quartiersentwicklung
1.5. Die Innerstädtische Brache
1.6. Zwischennutzung - eine Tugend der heutigen Stadtentwicklung?
1.7. Zwischennutzung und innerstädtische Brachen - eine Symbiose
1.8. Fazit: Für und Wider von Brachenzwischennutzungen

2. EXKURS I: Wirtschaftliche Aspekte für Brachenzwischennutzungen
2.1. Einleitung
2.2. Das ökonomische WARUM?
2.3. Brachen - ein wirtschaftliches Problem und Potential
2.4. Kosten für Zwischennutzungen
2.5. Finanzierungsmöglichkeiten von Zwischennutzungen
2.6. Fazit

3. EXKURS II: Rechtliche Aspekte für Brachenzwischennutzungen
3.1. Einleitung
3.2. Bau- und planungsrechtliche Rahmenbedingungen
3.3. Rechtliche Realisierungsmöglichkeiten von Zwischennutzungen
3.4. Fazit

4. Brachenzwischennutzungen im Samariterviertel
4.1. Einleitung
4.2. Das Samariterviertel
4.3. Problemstellung und generelle Rahmenbedingungen

5. Projekt „Zwischennutzung von Brachflächen im Samariterviertel“
5.1. Einleitung
5.2. Projektdarstellung
5.3. Reflexion
5.4. Sonstiges

6. Zwischennutzungs-Projektmodell
6.1. Einleitung
6.2. Übertragbarkeit
6.3. Projektmodell für Zwischennutzungen

7. Schlussbemerkungen
7.1. Impressionen: Projektarbeit im Samariterviertel

8. Anhang

Einleitung

Seit Mitte der Neunziger Jahre findet ein Wandel auf dem Berliner Immobilienmarkt statt. Entgegen den von großer prognostizierter Nachfrage und entsprechendem Bauboom geprägten ersten Nachwendejahren hat ein Transformationsprozess hin zu einem von Überangebot und Leerstand charakterisierten Markt stattgefunden.

Verschiedene Gründe können zur Erklärung dieses Prozesses herangezogen werden. So hemmt die allgemeine wirtschaftliche Flaute das Investitionsverhalten und sozio-demographische Entwicklungen führen dazu, dass immer mehr Personen aus der Innenstadt ins Umland ziehen. Diese Wanderungsprozesse laufen sozial selektiv ab und führen dazu, dass verstärkt sozial schwache Haushalte in der Stadt zurückbleiben.

Das führt im Ergebnis dazu, dass dem Überangebot des seit Jahren subventionierten Wohnungsmarktes immer weniger Nachfrage gegenübersteht, was zu einer deutlichen Entspannung auf diesem Markt führt. Folge davon sind überproportional hohe Leerstandsraten und brachliegende Grundstücke, für die es im Rahmen ihrer ursprünglichen Nutzung aktuell keine Verwendung gibt.

Somit sind wir direkte Zeugen eines Flexibilitätsbedarfes bei der Nutzung von Boden im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und demographischen Entwicklungen. Bei der elastischen Anpassung des Angebots an die Nachfrage bleibt mal was übrig, mal wieder nicht. Dabei stellt sich die Frage, was mit dem übriggebliebenen Rest passiert - im Falle von innerstädtischen Brachflächen oft nicht sehr viel. Grundstücke verwahrlosen und verwildern, wodurch Störwirkungen entstehen, die sich schnell ausbreiten und somit zu durchaus hohen sozialen wie ökonomischen Kosten führen können.

Daher muss eine nachhaltige Stadtentwicklung keineswegs einen Anspruch an ´Ewigkeit` haben. Es sollte vielmehr der Bedarf an Flexibilität in der Stadtplanung erkannt werden, um auf temporäre Phänomene wie Brachflächen spontan reagieren zu können.

Denn oft bergen solche Grundstücke wertvolle Potentiale für ihre Umgebung, wenn man sie nur aktiviert. Besonders in gründerzeitlichen Wohnquartieren, worum es in dieser Arbeit vorrangig geht, existiert ein chronischer Grün- und Freiflächenmangel, der zumindest zeitweise durch zeitweilige Gestaltungslösungen im Sinne von öffentlichem Grün gemindert werden kann. Somit ließe sich anstatt langfristiger Unklarheiten eine qualitative Aufwertung der städtischen Umwelt im Sinne einer flexibel-temporären Lösung bewerkstelligen.

Der starre Charakter herkömmlicher Planungsverständnisse und -instrumente macht es allerdings oft kompliziert, Raum mit einer zeitlichen „Zwischennutzung“ zu besetzen. Daher sind entsprechende Projekte bisher eher im informellen Bereich angesiedelt. Entsprechend flexible Planungsstrukturen und Finanzierungsmöglichkeiten scheinen sehr rar zu sein.

Dies deckt sich mit den Erfahrungen, die von den beiden Autoren dieser Arbeit im Rahmen des Projektes „Zwischennutzung von Brachflächen im Samariterviertel, Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg“ gemacht wurden, welches Anlass und Grundlage für diese Arbeit gibt. Dabei werden von öffentlicher Seite auf legale und partizipative Art und Weise Brachflächen temporär als Grünflächen genutzt.

Ziel und Gliederung der Arbeit Neben dem Anspruch, ein Plädoyer für Zwischennutzung zu formulieren, ist es Ziel dieser Arbeit, ausgehend von einer theoretischen Herleitung der Zwischennutzungsstrategie und ihrer Bedeutung im Spannungsfeld planerischer Aufgaben und Ansprüche, sowohl eine Analyse von relevanten Rahmenbedingungen als auch eine Identifizierung von planerischen Instrumenten und Strategien für die Realisierung von Zwischennutzungen auf innerstädtischen Brachflächen zu erarbeiten. Dies geschieht auf der Grundlage der Arbeitserfahrungen im Rahmen des konkreten Projektzusammenhangs im Friedrichshainer Samariterviertel.

Im ersten Kapitel wird sich auf theoretischer Ebene dem Themenfeld genähert und Zusammenhänge zwischen Raum und Zeit hergeleitet, die für den Umgang mit Brachflächen im Sinne von Zwischennutzungen relevant erscheinen.

Im zweiten Kapitel wird sich im Rahmen eines Exkurses mit wirtschaftlichen Gründen auseinandergesetzt, die für das Brachliegen von Grundstücken verantwortlich sind. Darüber hinaus werden Nutzen und Kosten von Zwischennutzungen herausgearbeitet, um daran anschließend konkrete Finanzierungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich als zweiter Exkurs mit rechtlichen Rahmenbedingungen. Dabei wird die planungsrechtliche Einordnung von Zwischennutzungsvorhaben erarbeitet, sowie zivilrechtliche Instrumente für die Vorhabensrealisierung aufgezeigt.

Das vierte Kapitel charakterisiert als konkreten Projektrahmen das Samariterviertel und analysiert die für das Vorhaben relevanten Rahmenbedingungen.

Daran anschließend wird im fünften Kapitel schließlich im Rahmen der konkreten Projektbeschreibung die im Samariterviertel entwickelte Zwischennutzungsstrategie beschrieben.

Im sechsten Kapitel werden die Projekterfahrungen abstrahiert und daraufhin ein Modell entwickelt, welches als Projektmodell für Zwischennutzungen auch in anderen räumlichen Zusammenhängen anwendbar ist.

1. Zwischennutzung und Brachflächen - eine Lückenschließung?

1.1. Einleitung

In dem folgenden Kapitel wird versucht, sich dem Thema Zwischennutzung in der Stadtentwicklung im räumlichen Bezug zu Brachflächen theoretisch anzunähern. Bei gerade dieser Verbindung der Materien - Zwischennutzung und Brachfläche - muss zunächst bewusst ‚der Raum’ und ‚die Zeit’ wissenschaftlich betrachtet werden, mit denen sich indirekt zwar jede stadtplanerische Auseinandersetzung beschäftigt, die aber gerade bei Zwischennutzung von Brachflächen eine ganz besondere Rolle spielen.

Zunächst werden demnach grundsätzlich die Metaebenen ‚Raum’ und ‚Zeit’ betrachtet. Danach erfolgt eine Auseinandersetzung von raum-, stadtentwicklungs- und stadtpolitischen Ansprüchen, um zu prüfen, inwieweit Zwischennutzungen diesen Leitvorstellungen entsprechen können. Im darauf folgenden Teil erfolgt eine Auseinandersetzung mit der ‚Brachenthematik’. Aufbauend darauf werden die wichtigsten wissenschaftlichen Ergebnisse von Zwischennutzungen der letzten Jahre mit dem Focus auf innerstädtische Brachflächen dargestellt.

1.2. Ein selbstverständlicher Umgang mit Raum und Zeit?

Der Focus von Zwischennutzung von Brachflächen wird in diesem Rahmen auf den städtischen bzw. großstädtischen ‚Raum’ gelegt, schließt aber nicht-städtische Räume nicht aus.

Aufgrund dessen ist zunächst Simmels ‚soziologische’ Definition einer Großstadt als Einstieg interessant. Simmel definiert ‚Großstadt’ “als eine gesellschaftliche Organisationsform der Moderne, die ‚von jeher’ durch‚ die Sitze der Geldwirtschaft’ bestimmt war. Diese Geldwirtschaft bestimme unter anderem auch die Mentalitäten und Handlungsformen der darin lebenden Großstädter“. (Simmel. In: Dangschat 1994, 337) Zudem, und für diesen Kontext interessant, teilt er Durkheims abstrakte Auffassung, dass Großstadt auch eine räumliche und zeitliche Überlagerung von Dichte und Heterogenität ist. (vgl. Simmel. In: Dangschat 1994, 337)

Interessant an seinem Großstadtbegriff ist die Einbeziehung der Überlegung zur räumlichen und zeitlichen Ebene bei Prozessen und Abläufen der (Groß)Stadt. Daher scheint u. a. für uns die nähere Auseinandersetzung von Raum und Zeit im Zusammenhang mit Zwischennutzung von innerstädtischen Brachflächen wichtig. Es stellt sich zunächst die Frage nach dem bewussten oder unbewussten Umgang mit Raum und Zeit zu Beginn des zweiten Jahrtausends.

1.2.1. Metaebene Raum oder „Mehr als ‚Länge-Breite-Höhe’.“

Obwohl der Raumbegriff auf den ersten Blick klar zu sein scheint, sollen im Folgenden die unseres Erachtens wichtigsten verschiedene Sichtweisen von Raum unterschiedlicher wissenschaftlicher Richtungen bezüglich unserer Thematik kurz aufgezeigt werden, um sich der mannigfachen Betrachtungsweisen von Raum bewusst zu werden.

Jens Dangschat hat gegenüber dem Raumbegriff die wissenschaftliche Herangehensweise, wonach zunächst die „Raumvorstellung in der Gesellschaft [...] sehr stark von der in der Geographie üblichen geprägt worden“ ist. Geografisch betrachtet „wird der dreidimensionale euklidische Raum (Länge, Breite, Höhe) auf einen zweidimensionalen, metrischen Ordnungsraum reduziert.“1 Zunächst wird Raum demnach in einem zweidimensionalen Ordnungsschema ‚verortet’ (mit allen Eigenschaften seiner Lage), der zu seinen räumlichen Relationen (Distanz, Richtung) zu jedem anderen Ort in Beziehung gesetzt werden kann. In der ‚radikalen Geographie’ aber werden „regionalökonomische Ansätze des Postfordismus diskutiert, bei dem der Raum eine Einheit aus sozialen, politischen und strukturellen Beziehungen darstellt, der sich unter globalen Effekten wandelt.“ (vgl. Dangschat 1994, 337-338)

Martina Löw, Soziologin, bezeichnet Raum als „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten“. (vgl. Löw 2001, 224)

Auch Walter Prigge unterscheidet zwischen Ort und Raum, wie Martina Löw. Denn erst, wenn ein Ort Beziehungen zu anderen Orten aufnimmt, konstituiert sich Raum.2

Dieter Läpple entwickelte ein relationales Raumkonzept auf der Grundlage der modernen Physik von Einstein. Danach ist ‚Raum’ ohne Materie nie existent, es gibt also keine ‚leeren Räume’.3 ‚Gesellschaftliche Räume’ sind der räumliche Ausdruck sozialer Beziehungen - Interaktionen - zwischen sozialen Einheiten und Dingen. Der gesellschaftliche Raum ist die räumliche Manifestation sozialer Verhältnisse. Das, was als Ort sichtbar ist - die materielle Struktur des Raumes, ist demnach als materielles Substrat ökonomisch-sozialer Funktionszusammenhänge zu erklären. Der Ort ist somit als materielle Komponente eines gesellschaftlichen Verhältnisses zu verstehen, das sich als ‚Mensch-Ding-Verhältnis’ ausdrückt. (vgl. Läpple. In: Dangschat 1994, 338- 339)

Karl Schlögel äußert sich bezüglich der Raumbildung folgendermaßen: „Die Räume bilden sich entlang der Linien des Bruchs und über die alte Trennlinie hinweg. Ihr energisches Zentrum ist jeweils: Streben nach Unabhängigkeit, Kampf um den vorteilhaftesten Platz, weg vom alten Herrschaftszentrum, der natürlichen Attraktion folgend, die von den bisher unzugänglichen Zentren des Weltmarktes und der westlichen Kultur ausging. Die Konstituierung des neuen Raumgefüges liegt in der Hand oder in der Bewegung derer, die sich neu vergesellschaften wollen. Und die elementarste Form ist die des wirtschaftlichen Austausches, des Handels und Verkehrs. Man kann den Prozess der Neubildung eines Raumes - eines Wirtschafts-, Kommunikations- und Kulturraumes - mit bloßem Auge beobachten.“ (Schlögel. In: Bürgin / Cabane, 1999, 41)

Nach Dangschat kann wiederum aus soziologischer Sicht eine Einteilung in Mikro-Raum, Meso- Raum und Makro-Raum vorgenommen werden.4 Der Meso-Raum, der für die Thematik von Zwischennutzungen von innerstädtischen Brachflächen relevant ist, bezeichnet den „Wohnstandort, der durch Lage-, Ausstattungs- und wohnbevölkerungsstrukturelle Merkmale sowie deren soziale Relationen gekennzeichnet ist. [...] Das Quartier ist im fördernden oder einschränkenden Sinne Ort des Wohnens, Chance der Existenzsicherung, Ort der Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen und Ort des sozialen Austausches.“ (Dangschat 1994, 348). Er kann zudem auch Basis sozialer (Re-)Integration und Ort solidarischen Handelns sein. „Jede Art sozialer Organisation beruht (neben anderem, J.S.D.) auf der Gemeinsamkeit des Raumes Raum ist (damit) ein Strukturierungsmoment sozialer Organisation.“ (Hamm 1982, 23. In: Dangschat 1994, 348)

Die vorangegangenen Raumvorstellungen stellen nur einen kleinen Ausschnitt dessen dar, wie Raum verstanden werden kann. Ziel war es aufzuzeigen, dass ‚Raum’ nicht eindeutig zu definieren ist und sich somit die Chance ergibt, ihn selbst zu gestalten.

1.2.2. Metaebene Zeit oder „Nichts währt ewig.“

‚Zeit’ kann einerseits ‚absolut’, ‚exakt’ und ‚objektiv’ sein, wenn sie als Maßeinheit betrachtet wird. Andererseits wird sie als ‚relativ’, ‚ungenau’ und ‚subjektiv’ bezeichnet, denn man hat entweder ‚keine, viel, wenig, einige Zeit’. Die relative Betrachtung bezieht sich auch auf ‚Zeit vergeuden’ oder auch ‚Zeit sparen’.

Der Trend der (Zeit-)Entwicklung zielt zudem auf eine ‚Immer-Nutzung’ ab, denn alles muss ‚immer genutzt’ und mit ‚Zeit gefüllt’ sein. Aber ‚Endgültigkeit’ verliert wiederum an Bedeutung und ein ‚Festlegen auf etwas’ tritt immer mehr in den Hintergrund. Deshalb werden Dinge z.B. Prozesse, Verfahren oder auch Zustände in zeitlicher Dimension auch immer häufiger relativ beschrieben und gehandhabt. Etwas bzw. immer mehr ist ‚von bestimmter Dauer’.

‚Zeit’ wird in der gegenwärtigen Gesellschaft immer öfter thematisiert. Sie scheint paradoxerweise eine an sich knappe Ressource zu sein, die das Wirtschaftsgeschehen und das tägliche Leben prägt. Es wird von einem ‚Zeitstrukturwandel’ gesprochen. Es muss in der Zukunft um den Ausgleich von verschiedenen Zeitinteressen gehen, denn die Grenzen von Zeit und Raum werden immer durchlässiger, sodass es gegebenenfalls alles überall rund um die Uhr gibt. (vgl. DIFU 1997, Vorwort)

Der Begriff ‚Zeit’ beschreibt vorrangig das „gegenwärtig dominierende gesellschaftliche Produkt linearer Zeiten: Uhren und Kalender prägen den Alltag und sind Voraussetzung für die Organisation von Arbeitsteilung und der menschlichen Organisationsform ‚Stadt’ mit ihrer räumlichen Ausdehnung und ihren komplexen, aufeinander zeitlich und räumliche bezogenen Abläufen.“5 (Dangschat 1994, 339) Dangschat konstatiert weiter, dass die Autonomie über Zeit auch zum Merkmal sozialer Ungleichheit wird. Durch die Macht über die Zeit, über ihr Maß und ihren Gebrauch werden die Möglichkeiten hierzu für andere Menschen eingeschränkt. (vgl. Dangschat 1994, 340) Beispielsweise gibt der Mensch mit dem vollsten Terminkalender beim Verabreden den Ton an. ‚Keine Zeit’ zu haben ist also Statusmerkmal. Den Menschen ‚ohne Zeit’ werden Raumüberwindungskosten abgenommen und demzufolge Zeitgewinne gegeben. Des weiteren sichert Medieneinsatz - Anrufbeantworter, Computervernetzung, Handy - sogar eine ‚Dopplung’ in Zeit und Raum, was eine intensive Nutzung eines 24-Stunden Tages ermöglicht „und zusätzliche distinktive Freiräume schafft.“ (Dangschat 1994, 340)

Um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Zeit6 noch einmal deutlich zu machen, äußert sich u. a. Dietrich Henckel folgendermaßen: ‚Zeit’ hat an sich ihre Selbstverständlichkeit verloren. Es ist ein ‚quantitativer Zeitwohlstand’ ausgebrochen, der allerdings nicht als dieser empfunden wird, da sich die Handlungsoptionen ständig ausdehnen und somit die potentiellen Aktivitäten um die knappe Zeit konkurrieren. Somit wird der Eindruck der ‚Zeitnot’ erzeugt.7 Nach Dietrich Henckel sollte eine kommunale Zeitpolitik geschaffen werden, die sich u. a. auch mit den räumlichen Folgen von Zeitveränderungen sowie den Rückwirkungen räumlicher Strukturen auf die Zeitorganisation befasst.

Als mögliche Dimension und Inhalt einer Zeitpolitik ist u. a. die ‚Planung mit Zeit’ zu nennen. Sie bezieht sich nach Henckel auf den instrumentellen Charakter von Zeit, in der Zeit als Ressource, als Steuerungs- und Koordinationsinstrument verstanden wird. Es geht um wesentliche Aspekte der Zeitgestaltung als Handlungsspielräume auf kommunaler Ebene. Es können zeitliche Lösungsansätze für nichtzeitliche Probleme entwickelt werden, wie zum Beispiel durch eine zeitlich gestaffelte Nutzung von Flächen bei Flächenengpässen. (vgl. Henckel 1998, 16-18) Bei der ‚Planung in der Zeit’ geht es vor allem um den Verlauf, auf Fristen, auf Rhythmen und Zyklen. „Es geht vor allem um die Fristigkeit und Dauer von Prozessen, die Steuerung von Investitions- und Erneuerungszyklen, die Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen Zeit und Kultur [...].“(Henckel 1998, 20) In vielerlei Hinsicht ist die Gesellschaft darauf fixiert, alles immer und überall auszunutzen und auch auszuschöpfen. Was Dietrich Henckel als Negativtrend beschreibt, kann man auf räumlicher Ebene bezüglich Zwischennutzungen durchaus positiv werten. Denn in dieser Richtung kann auch die ‚Zwischennutzung’ als flexible, Zeit ausschöpfende Nutzungsstrategie von Stadtentwicklung verstanden werden.

Auch die zeitliche Metaebene lässt, wie der ‚Raum’, mannigfaltige Betrachtungsweisen zu. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass ‚Zeit’ zunehmend thematisiert wird und sie somit einen enormen Bedeutungsgewinn in der Gesellschaft erhält.

1.2.3. Verquickende Betrachtungen von Raum und Zeit

Nach der Einzelbetrachtung der Metaebenen Raum und Zeit, werden sie an dieser Stelle zueinander in Beziehung gesetzt. Raum und Zeit werden von Norbert Elias als „unabdingbare Äußerlichkeiten des menschlichen Lebens“ begriffen. Sie sind grundlegende Existenzformen der Materie bzw. sind Raum und Zeit umgekehrt an die Materie gebunden. Norbert Elias bemerkt, dass „jede Veränderung im ‚Raum’ [...] eine Veränderung in der ‚Zeit’ [sei], jede Veränderung in der ‚Zeit’ [...] eine Veränderung im ‚Raum’“ nach sich zieht. (Elias. In: Wentz 1991, 39) Wir bewegen uns in einer vier-dimensionalen Daseinsform, eine drei-dimensionale des Raumes und die eindimensionale der Zeit. Raumwahrnehmung und -erfahrung ist immer mit Zeit gekoppelt. Es existiert ein Raum-Zeit-Kontinuum. Zeit kann demnach nicht losgelöst von den sich ändernden materiellen Erscheinungen, von sich bewegenden Ereignissen bzw. Gegenständen im Raum, wahrgenommen bzw. erfahren werden. (vgl. Elias. In: Wentz 1991, 39)

Auch nach Anthony Giddens hat jedes Geschehen eine „time-space-distanciation“ - eine „Zeit- räumliche-Ersteckung“. Giddens ist der Ansicht, dass - vor allem - „für alle soziologisch relevanten Strukturen eine Raum-Zeit-Bezogenheit explizit zu berücksichtigen“ sei. (Giddens. In: Dangschat 1994, 341)

Nach Walter Prigge transformiert der Wandel der sozialen Verhältnisse auch „die Anordnung von Räumen und Zeiten.“ Durch den Wandel formiert sich der gesellschaftliche Raum neu. „Neue strategische Zonen im globalen Maßstab, regionale Differenzen und städtische Polarisierungsprozesse beschreiben ein neues Stadium in der gesellschaftlichen Produktion von Raum und Zeit.“8 (Prigge 1987, 12) Prigge konstatiert, dass „jeder Ort seine eigene Zeit hat, welche die Ereignisse skandiert und Beziehungen strukturiert - Rhythmen des Handelns in sozialen Beziehungen von Produktion und Reproduktion des Lebens.“

Nach Walter Prigge wird durch Bewegungen von Ort zu Ort z.B. durch Verkehr oder Kommunikation die Abstimmung unterschiedlicher Orts-Zeiten erforderlich. Durch diese Abstimmung werden relativ autonome Rhythmen verknüpft, was auch durchaus einen politischen Sinn hat. „Denn nicht jede Stimme hat Gewicht in der Bestimmung des Maßes, mit dem die Zeiten verglichen und an dem sie ausgerichtet werden: die Produktion von synchroner Zeitlichkeit [...] ist eine Tatsache gesellschaftlicher Macht. Auch er konstatiert den Kampf um die Zeit. (vgl. Prigge 1987, 17) Prigge sieht in der Verflechtung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit die Definition der Identität eines Ortes bzw. definiert die Qualität des Ortes als gelebten Zeit-Raum gesellschaftlicher Praxis. Denn „Das Handeln in sozialen Beziehungen schreibt die Geschichte eines Ortes, der dadurch unverwechselbar wird [...] Die Aneignung von Orten ist an ihre Lesbarkeit gebunden; gelungene Orte enthalten die Kartographie des Raumes ihrer Beziehungen und erzählen Geschichten, die ihre Unverwechselbarkeit darstellen: im Erschließen der zeitlichen und räumlichen Beziehungen gelingt das Handeln durch Orientierung an den Bildern von unterschiedlichen Orten - den offenen/geschlossenen, ..., den städtischen/ländlichen [...] Die Synchronisation der Rhythmen gesellschaftlicher Zeiten konstituiert den analytischen Raum von Ortsbeziehungen als unendlich ausdehnbaren, offenen Raum unbegrenzter Bewegungen [...].“ (Prigge 1987, 20)

Diese allgemeinen gesellschaftlichen Prozesse bezüglich des Umgangs mit Raum und Zeit wirken sich auch auf Handlungsweisen in der Planung bzw. in der Stadtentwicklung aus. Planung reagiert darauf bewusst oder auch unbewusst. Wobei aber die gesamtgesellschaftliche Entwicklung mit wechselseitiger Spiegelung zwischen gesellschaftlichen und den räumlichen Prozessen vonstatten geht.

1.3. Paradigmenwechsel der räumlichen Planung: neue Anforderungen

Dr. Ernst-Hasso Ritter9 ist der Ansicht, dass sich die Planung im Allgemeinen sowie auch die räumliche Planung im Besonderen in einer Phase der Neubesinnung befinden, die durch die Finanzierungskrise des öffentlichen Haushalts, die Glaubwürdigkeitskrise politischer Institutionen und den Souveränitätsverlust des Staaten nach innen und nach außen ausgelöst wurde. Insofern muss sich auch die räumliche Planung auf die neue Entwicklung einstellen, ihr Selbstverständnis neu formulieren und Methoden sowie Instrumente danach ausrichten. (vgl. Ritter 1998, 6)

Ein immer komplexer werdendes Umfeld, ein rasantes Entwicklungstempo und labil gewordene Wertvorstellungen unserer Gesellschaft fordern neue Anforderungen an die Gesellschaft, an die staatliche Steuerung und die Planung bezüglich mehr Stabilisierung der Perspektiven. Diese Vielfalt der Lebensvorgänge fordern flexible und situationsbezogene Reaktionen der Planung. Es sollten differenzierte Strategien gewählt und vernetzt unter Einbeziehung dritter Akteure gearbeitet werden. Weiterhin sollten Planungsinhalte und Planungsakzeptanz durch die Zusammenarbeit der Akteure im Planungsprozess entstehen, denn es entstehen oft bindende und konkrete Ziele erst durch die Zusammenarbeit der Beteiligten Akteure. Der notwendige Umgang mit Zufall, Spontaneität und Unberechenbarkeit stellt eine große Herausforderung dar. (vgl. Ritter 1998, 12-13)

In der heutigen Zeit sind die Menschen auf der Suche nach Verlässlichkeit und Orientierung. Demnach hat Planung als unverzichtbares Instrument zur Gestaltung der öffentlichen Aufgaben das Gebot der ‚Nachhaltigkeit’ zu verfolgen, d.h. übergreifende Nutzungskonzeptionen zu entwickeln. Nach Ernst-Hasso Ritter hat die räumliche Planung zwei Ebenen, die sich wechselseitig beeinflussen. Zum einen die physische Planung, die ‚gegenständliche Ressourcenzuteilung’ meint. Zum anderen gibt es die ‚virtuelle’ Planung, die soziale Prozesse der Selbstorganisation und der Konsensfindung mit einem großen Umfang an Management- und Moderationsformen in Gang setzt. (vgl. Ritter 1998, 17)

Dieses neue Planungsverständnis, welches nicht nur die Stadtentwicklung prägen sollte, muss als schrittweiser Prozess begriffen werden: eine aktive Konsensbildung betreiben, strategische Orientierungen vermitteln, sich auf leistbare Zielsetzungen und Schwerpunkte konzentrieren, flexible Instrumente10 und angemessene Methoden entwickeln und sich selbst um die Umsetzung der Ziele bemühen. (vgl. Ritter 1998, 20-21)

Meines Erachtens kann einerseits die Realisierung von Zwischennutzungen nur mit diesen neuen Planungsparadigmen erfolgen. Dazu meint Barbara Zibell: „Systeme entwickeln, erhalten und verändern sich nicht durch rationale Planung und Beschlüsse, sondern durch Evolution jedes nach seiner eigenen Gesetzlichkeit, die es erst einmal zu verstehen gilt.“ (Zibell. In: Bürgin / Cabane, 1999, 43) Zwischennutzungen als räumliches Abbild, entsprechen bereits dieser neuen Sichtweise.

1.4. Ansprüche an die heutige Stadt- bzw. Quartiersentwicklung

In dem folgenden Kapitel werden, aufbauend zu der Auseinandersetzung mit Raum und Zeit, Ansprüche oder auch Notwendigkeiten an die zukünftige Stadtentwicklung dargestellt. Dabei ist zu erkennen, dass das Konzept ‚Zwischennutzung’ durchaus eine Art Zukunftskonzept darstellt. Denn Stadtentwicklung in dynamisch wachsenden Metropolen muss unter Bedingungen von Desinvestition und dem damit wachsenden Flächenangebot eine aktivere Rolle übernehmen. Sie darf nicht nur versuchen, die Dynamik reaktiv in den Griff zu bekommen, indem die Nachfrage nach infrastrukturellen, verfahrenstechnischen und institutionellen Leistungen unter Wahrung des öffentlichen Interesses gedeckt wird.

1.4.1. Allgemeine Stadtentwicklungslinien

Es ist von der ‚Binsenweisheit’ die Rede, „dass sowohl gesellschaftliche Bedingungen den Raum strukturieren als auch, dass der Raum seinerseits auf soziale Strukturen zurückwirkt [...].“ (Dangschat 1994, 341) Auch Alexander Mitscherlich traf bereits 1965 diese Aussagen. Seiner Ansicht nach besteht zwischen Stadt und Mensch, als Synonym für ‚materiell und lebendig’ eine wechselseitige Beziehung.11 Weiterhin konstatiert er, dass die Unwirtlichkeit die sich in den Städten ausbreitet, niederdrückend sei, und stellte die Frage: „[...] muss das so sein, ist das unausweichlich?“ (Mitscherlich 1996 (1965), 9) Heute haben sich die Rahmenbedingungen in den Städten geändert, aber eine stetige Unwirtlichkeit ist abermals zu finden. Auch die Brachenlandschaft in den Städten spiegelt das wieder.

Die vielfach angepriesene „soziale Mischung“ lässt sich nach Häußermann und Kapphan nicht herstellen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass sich die Heterogenisierung der Stadtbevölkerung und die Abkopplung ganzer Bevölkerungsgruppen vom materiellen Fortschritt im wachsenden Konflikt im öffentlichen Raum widerspiegelt. Ein Konfliktbeispiel sind die durch Müll und mutwillige Zerstörung gekennzeichneten Straßenräume und Plätze. (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 259)12 Aber die noch vorhandenen Potentiale der sozialen Stadt können und müssen erhalten bleiben, daher sind Ansätze einer integrierten Quartierspolitik notwendig, die sich auf das Quartier als sozialen Raum richten und die Entwicklung sowie Stabilisierung fördern. „Bewohner, Gewerbetreibende und Eigentümer müssen in die Lage versetzt werden, eine Perspektive für ihr Quartier zu entwickeln, an die sie auch deshalb glauben können, weil sie von ihren eigenen Handel abhängig ist.“ (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 234)13

Zwischennutzung kann, ob in Gebäuden oder auf unbebauten Flächen, zur großstädtischen Mannigfaltigkeit beitragen. Nach Jane Jacobs sind „Großstädte von Natur aus prädestiniert [...], Mannigfaltigkeit und neue Unternehmen und Ideen jeder Art zu erzeugen und auszubilden.“ Das bedeutet nun aber nicht, so Jacobs weiter, dass Großstädte allein durch ihre Existenz, Mannigfaltigkeit hervorbringen.14 Eine Mannigfaltigkeit der Nutzung bietet „vernünftige Möglichkeiten für echte Abwechslung im wesentlichen, in der Gestalt“. (Jacobs 1993, 132-133) Es muss daher das „Angebot an Bezirken mit interessanten und dynamischen Möglichkeiten“ erhöht werden, so Jacobs bereits 1963. (vgl. Jacobs 1993, 146)

Großstädte - wie auch Berlin - bringen Mannigfaltigkeit auf Grund „des leistungsfähigen Reservoirs an Möglichkeiten, das sie bilden“ hervor. (Jacobs 1993, 93) Alle möglichen Formen von sich gegenseitig fördernder Mannigfaltigkeit werden für „eine gute und konstruktive Funktion und für das Fortschreiten der gesellschaftlichen Entwicklung“ gebraucht. (Jacobs 1993, 139) Obwohl Jacobs von der Notwendigkeit der Mannigfaltigkeit in der funktionellen Stadt der 50er und 60er Jahre spricht, hat sie auch heute nicht an Bedeutung verloren und lässt sich ohnegleichen auf die Quartiersebene beziehen.

Auch in der Neuen Charta von Athen 1998 wird als allgemeines Ziel die Abschaffung von monofunktionalen Flächennutzung formuliert. Es wird Vielfalt und Verschiedenheit gepriesen, wobei die Nutzungsmischung einen wichtigen Aspekt darstellt, um Vitalität zu erzeugen. Verträgliche Nutzungen sollten zeitlich und räumlich in enger Beziehung zueinander stehen, damit u. a. Mobilitätszwänge so weit wie möglich reduziert werden. (vgl. Neue Charta von Athen 1998, 16) Nach Bürgin und Cabane können Zwischennutzungen ihren Beitrag dazu leisten, indem sie aufgrund des Übergangs bzw. der etappenweisen Ausführung eine Atmosphäre schaffen, „wo das „Sich-aneinander-Gewöhnen erprobt werden kann“ und damit die gegenseitige Akzeptanz gefördert werden kann. (vgl. Bürgin / Cabane, 1999, 19)

Nach der Neuen Charta von Athen sollten Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung Kern einer Stadtplanung darstellen, in der die Bürger im Mittelpunkt des Planungsprozesses stehen. Denn die wachsende Zahl der Stadtbewohner in Europa und die Notwendigkeit eines gerechten Zugangs zu Ressourcen macht ein nachhaltiges Management der Stadt unbedingt erforderlich. (vgl. Neue Charta von Athen 1998, 14)

1.4.2. Quartiersentwicklung und Stadterneuerung

Auf Quartiersebene bzw. auf Parzellenebene sind die „kleinräumigen Qualitäten [...] für die Erhaltung eines vielfältigen städtischen Lebens unentbehrlich.“ (Sauberzweig. In: Mönninger 1999, 89) Für Dieter Sauberzweig ist die Parzelle ein Baustein für eine tragfähige Stadtstruktur, in der die ‚Nische’ eine Leitvorstellung darstellen könnte. Die ‚Nische’ ermöglicht, so Sauberzweig weiter, unter anderem Entschleunigung. Es können Vielfalt gefördert werden und Kommunikationsnetze von Wohnen und Arbeiten gestärkt werden. (vgl. Sauberzweig. In: Mönninger 1999, 89) Nicht nur im Bereich der Stadterneuerung müssen ressortübergreifende Maßnahmen gefördert werden, wie u. a. die Gestaltung öffentlicher Räume mit den NutzerInnen. „So gesehen ist die Durchführung von Wohnumfeldmaßnahmen keine ‚kleinbürgerliche Befriedungsstrategie’, [...], sondern eine Möglichkeit der Aneignung des Lebensbereiches und damit Basis für soziales und politisches Engagement“. (Häußermann / Kapphan 2000, 264)15

Seit Ende der 90er Jahre ist das Quartiersmanagement ein Instrument der Stadtentwicklung. Er wird zur Erhaltung bzw. Förderung zivilgesellschaftlicher Umgangs- und Beteiligungsweisen in den Stadtteilen eingesetzt. Bei der Durchführung integrierter Projekte wird auf Moderation von Kommunikationsprozessen, Vernetzung von lokalen Akteuren und evtl. vorhandenen Initiativen, Beteiligung und Aktivierung gesetzt, da der Stadtteil Identifikationsebene sowie Ressource für die BewohnerInnen darstellt. Es ist darüber hinaus wichtig, ihre die Handlungskompetenzen zu stärken und Selbsthilfepotentiale zu fördern, wie z.B. bei Wohnumfeldverbesserungen. (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 262; Krätke / Borst 2000, 282)

1.4.3. Stadtentwicklung in Berlin

Bezüglich der Stadtentwicklung in Berlin formuliert Bernd Hunger16 Anfang der 90er Jahre ein Leitbild, in dem u. a. neben dem Nutzen der Symbolik Berlins und dem Ausgehen von den vielfältigen Lebensformen in der Stadt auch die Prämisse der Entfaltung von Kultur, Kunst und Wissenschaft von Weltgeltung aufgestellt wird. Die Stadt Berlin verfüge über ein ungewöhnlich breites intellektuelles Potential, „wobei im Zusammenprall unterschiedlicher Erfahrungs- und Erlebniswelten kreative Ideen sich entzünden könnten.“ (Hunger. In: Helms 1992, 528-529) Dieter Hoffmann-Axthelm fordert ein Szenario einer Stadt, welches für ihre BewohnerInnen eine ‚Perspektive in ihrem lokalen Umfeld’ bietet mit der Vision von Vielfalt und Urbanität. Es soll eine erzwungene Mobilität verhindert werden, die periodische oder dauerhafte Fluchtbewegungen der BewohnerInnen am Wochenende oder durch Suburbanisierung nach sich zieht. In diesem Sinne wäre das ‚Management des Vorläufigen’ ein Baustein dazu und es erscheint nicht so unrealistisch wie ein ‚Ausdehnungsverbot’17 für Städte o. ä. (vgl. Altrock 1998, 34)

Es sollte Ziel der Stadtpolitik Berlins sein, die Einheit der Stadtgesellschaft aufrechtzuerhalten, die gesellschaftliche Grenze nicht mitten durch die Stadt laufen zu lassen und die Stadt als politische und kulturelle Einheit bewusst herzustellen und zu pflegen. (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 269). Krätke und Borst formulieren zudem, dass die Herausforderung an die Berliner Stadtentwicklung darin liege, die fortschreitende soziale Polarisierung einzudämmen. Denn es geht darum, die von Abwertungstendenzen und Verarmungsprozessen betroffenen Stadtteile zu stabilisieren und insbesondere durch die Förderung von Erwerbschancen und Ausbildungsmöglichkeiten die soziale Lage der BewohnerInnen zu verbessern. Die Umsetzung des Leitbildes ‚Soziale Stadtentwicklung’, nicht nur in Berlin diskutiert, kann aber nicht allein in der Institutionalisierung von Moderation in so genannten Problemquartieren liegen. Eine Soziale Stadtentwicklung sollte in der gesamtstädtischen wirtschaftlichen und räumlichen Entwicklungspolitik mit breitenwirksamen Effekten verfolgt werden. (vgl. Krätke / Borst 2000, 293) Eine für Speer „intelligente“ Stadt „sucht ein Gleichgewicht von Bewahren und Verändern unter Berücksichtigung des Pluralismus von unterschiedlichen Lebensformen und Auffassungen.“ (Speer 1992, 19) Die Stadt muss Menschen die Chance geben, sich zu entwickeln und zu verwirklichen, wozu auch ein Angebot an Raum zur Verfügung stehen muss, um die verschiedensten Bedürfnisse abzudecken. (vgl. Freitag / Werner 1999, 3)

Nach Häußermann und Kapphan ist ein Konzept für eine mulikulturelle Zukunft zu entwickeln, denn die ökonomische und kulturelle Zukunft der Stadt Berlin hängt auch davon ab, ob sie zu einem integrativen Ort der Koexistenz verschiedener Lebensstile (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 272) sowie Lebensmuster wird. Durch die anwachsende Pluralisierung und Heterogenität von Interessens- und Problemlagen, die sich immer direkter auch in stadtpolitischen Programmen widerspiegeln, wird es immer schwieriger, eine konsistente Stadtpolitik (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 270-271) und somit auch eine zukunftsweisende Stadtentwicklungspolitik zu formulieren.

Für die komplexen Probleme der Stadtentwicklung in der Transformationsphase Berlins von 1990- 2000 gibt es „keine einfachen und keine richtigen Konzepte. Es handelt sich in Berlin um einen Prozess, der gesteuert werden kann - und gesteuert werden muss, wenn die zivilgesellschaftlichen Qualitäten der europäischen Stadt nicht aufs Spiel gesetzt werden sollen.“ (Häußermann / Kapphan 2000, 273) Es steht außer Frage, dass sich die Ziele der Stadtpolitik auch in der Stadtentwicklungspolitik niederschlagen sollten. Das Zulassen, Entwickeln und Fördern von Zwischennutzungen als flexibles Stadtentwicklungselement stellt einen bedeutenden Baustein dazu dar.

Diese blitzlichtartigen und unvollständig formulierten Anforderungen an eine Stadtentwicklung haben grundsätzlich einen Flexibilitäts-Charakter. Flexibilität ist notwendig bezüglich Zeiten, Nutzungen - wohnen, arbeiten, erholen -, Prozessen und Verfahren z.B. in der Wirtschaft. Flexibilität ist das entscheidende Kriterium, was auch selbst wieder Flexibilität auslöst. Meines Erachtens ist diese Entwicklung in der Stadtentwicklung wiederum Abbild der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Bestrebungen, was ohne Zweifel aber auch Gefahren in sich birgt.

Nach der allgemeinen Auseinandersetzung mit ‚Raum’ und ‚Zeit’ sowie Ansprüchen an die heutige Stadtentwicklung wird nun im zweiten grossen Abschnitt dieses Kapitels der Focus auf die Thematiken ‚innerstädtischer Brachflächen’ und ‚Zwischennutzung’ gesetzt.

1.5. Die Innerstädtische Brache

Der Begriff ‚Brache’ bzw. ‚Brachfläche’ ist heutzutage in aller Munde. An dieser Stelle wird auf seine Herkunft eingegangen. Zudem werden die Entstehung, die Bedeutung von Brachflächen für die Stadt und verschiedene Arten betrachtet.

Generell ist Raumordnung, Städtebau und Architektur ihrem Wesen nach darauf angelegt, geordnete Bodennutzung, funktionsfähige Gefüge und ästhetische Gebilde zu schaffen. Dabei stehen sich „zwei diametral gegensätzliche[...] Phänomene[...] gegenüber: [Die] Überfüllung und [der] Leerstand.“ (Stracke. In: Der Architekt. 1993, 551) Es kann aber grundsätzlich konstatiert werden, dass Brachen im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung im gewerblichen wie auch im Wohnungssektor „ein immanenter Bestandteil waren, ohne dass erhebliche wirtschaftliche oder strukturelle Probleme entstanden sind. Es ist jedoch die Dimension dieser Erscheinung in der Gegenwart, „die, mit einiger politischer und planerischer Verantwortung betrachtet, wohl nicht mehr dem Selbstlauf überlassen werden sollte.“ (Steinbrecht. In: Der Architekt. 1993, 560-561) ‚Brachliegen’ kennzeichnet sich durch Bewegungen des Rückzuges, die sich im Moment verdichten und dadurch viel Leere zurückzulassen zu scheinen. (vgl. Meili / Peter. In: Der Architekt. 1993, 570)

1.5.1. Definition „Brache“ - Brachen als Potential für die Stadtentwicklung?

Im ursprünglichen, agrarischen Wortsinn ist die Brache eine landwirtschaftliche Nutzfläche, „der man zur Regeneration des Bodens und des Wasserhaushalts zeitweilige Schonung angedeihen lässt. Dabei bleibt sie in ein planmäßiges, ökologisches System eingebunden und ist mit eindeutigen, positiven Zielprojektionen belegt.“ (Stracke. In: Der Architekt. 1993, 551; vgl. Haber. In: Der Architekt. 1993, 573) In der agrarwissenschaftlichen Pflanzenbaulehre spielt das Phänomen ‚Brache’ eine wichtige Rolle und wird auch als „nicht genutzter Acker“ bezeichnet. (vgl. Haber. In: Der Architekt. 1993, 573; Bertelsmann Lexikon, 1994, Bd. 4, 1395) Die Brache war ehemals kultiviertes Land, das brach fiel, weil es nicht mehr bewirtschaftet werden konnte oder sollte. Aber das Brachland bleibt nicht lange leer und öde, denn die „Natur beginnt damit, ihre alten Räume zurückzuerobern.“ (Dangschat. In: Der Architekt. 1993, 581) Die ‚Reine Brache’ bleibt das ganze Jahr unbebaut und wird auch als ‚Schwarz- oder Vollbrache’ bezeichnet, die lt. Lexikon allerdings heute selten existiert. Die ‚Teilbrache’ ist der Acker, der nur während eines Teiles der Vegetationszeit genutzt wird. Des Weiteren kommt es bei der ‚Grünbrache’ zu Gras- und Kräuterwuchs, wobei dieses unbestellte Feld häufig als Weide dient. Eine ‚Trockenbrache’ ist die Vorbereitung für eine bessere Wasserspeicherung des Bodens. (vgl. Bertelsmann Lexikon, 1994, Bd. 4, 1395) In der Sozialgeographie wird die Brache als ‚Sozialbrache’ bezeichnet. Obwohl die Sozialbrache ebenfalls eine nicht genutzte landwirtschaftliche Fläche beschreibt, ist in dem Begriff die Ursache erfasst. Denn die Sozialbrache entsteht aus sozialen oder wirtschaftlichen Gründen. (vgl. Bertelsmann Lexikon, 1994, Bd. 20, 9140)

Dangschat setzt den Begriff zudem in eine zusätzliche Dimension. Neben der ‚Sozialbrache’ wird von Dangschat die ‚soziale Brache’ definiert. Nach Dangschat hat die Modernisierung „nicht nur Räume entwertet [...], sondern auch Menschen außer Wert gesetzt. [...] Die ökonomische Umstrukturierung [schlägt] Schneisen in die Gesellschaft wie durch Räume und hinterlässt Spuren der sozialen Verwüstung.“ (vgl. Dangschat. In: Der Architekt. 1993, 581) Dangschat stellt fest, dass Menschen die durch Arbeitslosigkeit entstandene freie Zeit häufig nicht sinnvoll füllen können und diese somit brach fällt. Dadurch verkümmern soziale Beziehungen und soziale Kontakte in den Familien brechen zusammen. Der soziale Austausch fehlt, sodass „individuell, in Familien und Wohnhäusern, in Quartieren soziale Brachen“ entstehen. (vgl. Dangschat. In: Der Architekt. 1993, 581) Er konstatiert weiterhin, dass häufig nur die einen Aspekte der als Brachen angesehenen Quartiere beachtet und die sozialen übergangen werden.18 (vgl. Dangschat. In: Der Architekt. 1993, 582)

1.5.2. Bedeutung der Brache

Es lässt sich zunehmend feststellen, dass einerseits immer mehr und andererseits neue Zustände oder Orte bzw. auch Räume als brach, brachliegend, als eine Brache oder Brachfläche bezeichnet werden. Somit ist ein Bedeutungswandel vonstatten gegangen und die Brache wurde „vom Land in die Stadt adoptiert. Brachen - unangenehm wie ein Loch im Teppich, inaktiv wie der blinde Fleck auf der Netzhaut!“ (Stracke. In: Der Architekt. 1993, 551) Diese provokante Aussage gibt den Einstieg zur folgenden Bedeutungsverständnissen von Brachflächen. Grundsätzlich drücken Brachen Änderungsprozesse aus, wobei zwischen verschiedenen Sichtweisen zu differenzieren ist.

Einerseits werden sie aus der wirtschaftlichen Perspektive als funktionslos bezeichnet, von denen sich Investoren vorläufig oder endgültig zurückgezogen haben. (vgl. Kahnert / Sablotny. In: Selle, Klaus (Hrsg.) 1988, S. 109) Extremer formuliert vermitteln „Leerstehende Geschäfts- und Büroräume, Stadtbrachen und Industrieruinen [...] den Eindruck des Stillstandes oder gar Rückschritts“ als Ergebnis und sichtbares Zeichen einer negativen wirtschaftlichen Entwicklung. (vgl. Freitag / Werner 1999, 3) Auch nach Dangschat hat die wirtschaftliche Entwicklung in den alten Industrieregionen Brachen zurückgelassen, denn das Wachstum ist in andere Räume weitergezogen, so dass die alten Räume nutzlos geworden sind. „Müll des Wirtschaftswachstums [...] Brachen sind aussteigen, wegdrehen, abkehren, vergessen [...].“ (Dangschat. In: Der Architekt. 1993, Nr. 10, 581)

Andererseits haben sie durchaus eine Funktion. Sie drücken ein ‚Ruhen lassen’ aus, was ein ‚Reifen und das Nachdenken’ über eine folgende und neue Nutzung ermöglicht. In dieser Zeit haben sie die Funktion der ‚Nische’ für unvorhersehbare Aktivitäten. Nach Wentz stellt die Brache sogar einen Handlungsspielraum für das Stadtwachstum dar, welches sich kontinuierlich vollzieht und niemals fertig ist. Wetz bezeichnet Brachen als „flexible und vitale Verfügungsräume“. (Wentz. In: Der Architekt. 1993, 558) Sie ist kein wertloses Gut. „Brachflächen garantieren, dass Stadtentwicklung flexibel auf Veränderungen reagieren kann und bieten Raum für Nutzungen und Nutzer.“ Die Brachfläche ist ein ‚Puffer’ und schafft dem auf „Entwicklung drängenden Potential Chancen.“19 Brachen können auch, verschärft gesagt, Zonen des Verteilungskampfes, „dessen Konturen noch nicht deutlich zu Tage getreten sind“ darstellen. (vgl. Meili / Peters. In: Der Architekt. 1993, 570) Zudem ist die Brache nicht nur durch mögliche Altlasten belastet, sondern auch durch Emotionen im Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft. (vgl. Wentz. In: Der Architekt. 1993, 559) In der Brache kann auch ein romantischer Aspekt gesehen werden, der im „nicht reglementierten Spielfeld, unkontrollierten Proberaum und in den Überwucherungen mit wilder Vegetation“ liegt. (vgl. Wentz. In: Der Architekt. 1993, 558)

Wenn unsere Städte nicht gänzlich aufgegeben werden sollen, ist die Brache zumindest zu den neuen Potentialen der Städte zu sehen, was als Wesensmerkmal der Entwicklungsfähigkeit der europäischen Stadt zu sehen ist. Denn die Bilder einer fertigen, denkmalgepflegten, sauberen europäischen Stadt geben ein verfälschtes illusionäres Bild intakter Lebensräume vergangener Zeiten wieder. (vgl. Wentz. In: Der Architekt. 1993, 558-559)

Wie zu erkennen ist, birgt der Begriff Brache oder Brachfläche eine - zumeist räumliche - Beschreibung eines Zustandes eines Ortes und kann viele Assoziationen hervorrufen. Die Verträglichkeit eine Brache in der Stadt hängt auch mit ihrer Größe zusammen. (vgl. Wentz. In: Der Architekt. 1993, 558) Neben großräumigen Flächen, wie zum Beispiel der brachliegenden Ackerfläche oder der brachliegenden Industrie- und Gewerbefläche kann es auch kleinräumige brachliegende Flächen in innerstädtischen Gebieten geben. Diese Arbeit setzt sich mit dem Problem der innerstädtischen, kleinräumigen Brachgrundstücke auseinander.

Dangschat. In: Der Architekt. 1993, 582) Diese Netzwerke sind lebendig und kompensieren als ‚soziales Kapital’ häufig die massiven Defizite im ‚ökonomischen Kapital’ und meist auch ‚kulturellen Kapital’ (vgl. Bordieu. In: Der Architekt. 1993, Nr. 10, 582)

1.5.3. Anlässe einer Brachwerdung

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass im Laufe der Zeit Nutzungen an bestimmten Orten bzw. Räumen nicht mehr entwicklungsfähig sind, sie aussterben oder in Räume mit besser angepassten Bedingungen umziehen und sie somit ersetzt werden. Jede Funktion einer Stadt sorgt für eigene Ausgleichsflächen, sodass jede Nutzung auf nächst schwächere, billigere Flächen ausweicht, wenn der Ausgleichsspielraum an seine Grenzen stößt.

In der Landwirtschaft wird mit ‚eingeplanter Brache’ gearbeitet, mit Ödland und Dreifelderwirtschaft. Die Flexibilität in der Industrie kam durch Halden und Lagerräume zustande. Im Dienstleistungssektor wurden erstmals keine so genannten ‚Pufferräume’ mehr eingeplant, wodurch es über Auszug zu Leerstand kommt. Im Bereich des Wohnens erfolgte eine Ausdehnung oder auch Reduzierung über die Nutzung von Dachboden, Gästezimmer oder Nebengebäude. (vgl. Wentz. In: Der Architekt. 1993, 558)

Exogenes Wachstum der Städte ist passé. Die Investitionsnachfrage bzw. die Nachfrage nach Räumen durch etablierte ökonomische Unternehmen und Stadtbevölkerung ist viel zu gering, „um jenen riesigen Raum an aufgelassenen Gebäuden und brachliegendem Gelände in der Stadt zu füllen, den Krieg und Deindustriealisierung hinterlassen haben.“ (Häußermann / Kapphan 2000, 254) Nach Häußermann und Kapphan geht die traditionelle Orientierung an einem exogen erzeugten Wachstum an den Entwicklungsbedingungen für die Städte im Zeitalter der Globalisierung vorbei. (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 254) Aus wirtschaftlicher Sicht bewegt sich die Tendenz des Immobilienmarktes von einem Angebotsmarkt zu einem Nachfragemarkt, was vor allem in Berlin der Fall ist, denn Leerstand ist in allen Segmenten des Immobilienmarktes festzustellen. Der gewerblich-industrielle Sektor hat aufgrund des ökonomischen Strukturwandels den wirtschaftlichen Anpassungsprozess überwunden. Der Wohnungsmarkt ist ebenfalls zu einem Angebotsmarkt für MieterInnen geworden. Weiterhin führen allgemeine gesellschaftliche Prozesse sowie Deregulierungs- und Privatisierungsprozesse in der Wirtschaft zu einem Überangebot von Raum. (vgl. Freitag / Werner 1999, 2) Als wichtigste Ursachen für die erhöhte Angebotsseite auf dem Grundstücks- und Immobilienmarktes sind zunächst politische und gesamtwirtschaftliche Ursachen zu nennen. Als gesamtwirtschaftliche Ursache ist die zunehmende Tertiärisierung bzw. der damit im Zusammenhang stehende Strukturwandel innerhalb des Sekundär- und Tertiärsektors als auch der Deindustrialisierung infolge des wirtschaftlichen Anpassungsprozesses nach der Wiedervereinigung.20

Brachen entstehen aber nicht nur passiv. Bei ‚populären’ Brachenstandorten ist auch von einer Freimachung dieser innerstädtischen Flächen die Rede, besonders die, welche als geschichtliches Erbe zunehmend in Frage gestellt werden. Uwe Altrock betrachtet das nicht nur kritisch hinsichtlich des reinen Verlustes, sondern vor allem werden „permanent neue Leerräume geschaffen [...] und damit nutzbare Flächen in hervorragender Lage aus dem Bestandsvorrat von Ressourcen der Bewohner entnommen.“ (Altrock, Uwe 1998, 29-30) Da die Haushaltslage, nicht nur in Berlin prekär ist und die Konkurrenz um nutzbare Flächen weiterhin besteht, sollten diese „produzierten Übergangsbrachen aktiv in den Ressourcenbestand der Bevölkerung zurückgegeben werden“. (Altrock, Uwe 1998, 30)

1.5.4. Brachgefallen...

In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits am Rande erwähnt, welche Arten von räumlichen Brachflächen existieren. Es soll im Folgenden noch einmal kurz auf die ‚freiräumlichen Brachflächen’ eingegangen werden.21 Es wird zwischen Industrie bzw. Gewerbebrachen und innerstädtischen Stadtbrachen unterschieden.

Großflächige Brachen können in Industriegebieten vorkommen: Industrie- bzw. Gewerbebrachen, die im Zuge der Deindustriealisierung entstanden sind, da großflächige Infrastrukturen durch die immense Größe und homogene Nutzungsbestimmung und -verwaltung obsolet werden. Als Beispiele sind Hafenanlagen / Docklands und Güterbahnhöfe, die maßgeblich in Teilen des Ruhrgebietes und der neuen Bundesländer existent sind, zu nennen. (vgl. Häußermann / Siebel. In: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1993, 9; Wentz. In: Der Architekt. 1993, 559) Alte Fabrikgebäude werden zu Kultureinrichtungen, „die schäbige ‚waterfront’ wird aufgemotzt [...]“ (Dangschat. In: Der Architekt. 1993, 581). Des weiteren sind in den in der gegenwärtigen Entwicklung großflächige Konversionsbrachen und obsolete Bahnflächen entstanden.22 (vgl. Weisbach. In: Der Architekt. 1993, 552)

Baulücken und Stadtbrachen zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sie längere Zeit sich selbst überlassen waren und sind. Durch diese Vernachlässigung werden sie häufig von anderswo nicht akzeptierten Nutzungen wie Müllablagerung, Hundeauslauf usw. besetzt, wodurch diese Räume oft von Verwahrlosung geprägt sind. Oft sind sie durch Plakatwände eingefriedet oder durch ihre wenig zentrale Lage den Augen der Öffentlichkeit entzogen. Allerdings stellen sie in manchen Fällen Rückzugsräume für Kinder und Jugendliche bzw. für ‚Nichtsesshafte’ dar. Andererseits werden sie auch als ‚siedlungsökologisch relevante Zonen der Stadt’ bezeichnet. (vgl. Mellauner 1998, 20)

Es ist unwahrscheinlich, dass die zahleichen brachliegenden alle ihre ursprüngliche Nutzung zurückbekommen oder alle gleichzeitig entwickelt werden. Daher haben Zwischennutzungen die Chance, diese Lücken zu schließen, bevor wieder eine Nutzung - die Ursprungsnutzung oder eine permanente Umnutzung zugeführt werden kann.

1.6. Zwischennutzung - eine Tugend der heutigen Stadtentwicklung?

Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln erläutert, bietet Stadt zum jetzigen Zeitpunkt massiv ungenutzten Raum, der wiederum Raum gibt für ‚Temporäres’ und so die Kreativität ihrer BewohnerInnen fordert. Denn „neben großen Auseinandersetzungen über das Definitive braucht die Stadt mehr denn je die Offenheit, das Unbestimmte, Provisorische, Andersartige, die Atempausen der Zwischennutzungen.“ (Huber. In: Bürgin / Cabane, 1999, 7) In dem folgenden Kapitel wird sich mit Zwischennutzungen im Zusammenhang mit innerstädtischen Brachflächen, vor allem auf brachliegenden Grundstücke im Quartier, auseinandergesetzt. Denn diesen kleinräumigen Flächen wurde unseres Erachtens sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch in der Praxis bis jetzt noch zuwenig Aufmerksamkeit gewidmet - obwohl diese Flächen „in der Masse“ ein großes innerstädtisches Problem darstellen können.23

1.6.1. Zwischennutzung - Definitionsversuche und Charakteristik

Zwischennutzung, auch als Interimslösung bzw. -nutzung oder temporäre Nutzung bezeichnet, ein inzwischen mit Selbstverständlichkeit gebrauchter Begriff, scheint zu einem Handlungsfeld kommunaler Stadtpolitik geworden zu sein. Und das, obwohl der Begriff immer noch sehr unbestimmt und weder präziser noch konkreter geworden ist.

Zwischennutzung bezeichnet einen Sammelbegriff, „all jene[r] Nutzungen [...], die zeitlich begrenzt sind, ohne dabei die Entstehungsgründe, Ziele, Ausprägungen und Auswirkungen zu berücksichtigen.“ (Seidemann 1998, 5) Es ist eine zeitlich befristete und meist kulturelle Nutzung von brachliegenden Arealen, die bislang als „befristetes und weitgehend zweckfremdes Bewirtschaften brachliegender Räume betrieben“ wurde. (Bürgin / Cabane 1999, 5, 8). Heidi Seidemann definiert Zwischennutzungen als „gebäude- und flächenbezogene Nutzungen jeglicher Art, die temporär zugelassen werden.“ (Seidemann 1998, 11) Nach Mellauner ist Zwischennutzung eine Nutzung zwischen zwei Hauptnutzungen. Sie ist eine zwischenzeitliche Nutzung von bisher nicht bzw. wenig genutzten Flächen bis zur „Umsetzung der widmungskonformen Nutzung der Parzelle.“ (Mellauner 1998, 19)

Sie kann aber auch gleichzeitig und zusätzlich als eine Strategie der Stadtentwicklung begriffen werden und den Instrumenten der formellen Planung24 zur Seite gestellt werden im Sinne einer ‚Win-Win-Strategie’ als wirkungsvolles Instrument in Form einer informellen Planung. (Bürgin / Cabane 1999, 8) Zwischennutzung benötigt mehr Aufmerksamkeit - vor allem bezüglich planungsrechtlicher Fragen - und „ [...] darf nicht ein bloßes Phänomen bleiben“, sondern müsste, so Bürgin und Cabane, ein Mittel zur Regulierung von (Stadt-)Entwicklung werden. (Bürgin / Cabane 1999, 11) Sie muss zudem als Prozess verstanden werden. Denn Zwischennutzungen bzw. temporäre Nutzungen „eröffnen Lernfelder für die AkteurInnen des öffentlichen Lebens“. Sie stellen wesentliche Rahmenbedingungen für das Entstehen von Gemeinwesen zur Verfügung und sind dadurch als „Bühne des sozialen Lernens prädestiniert.“ (Mellauner 1998, 95)

Zwischennutzungen lassen sich demnach kurz folgendermaßen definieren. Einerseits ist diese Nutzung zeitlich begrenzt, bis die ursprüngliche Nutzung aktiviert wird oder eine definitiv neue Nutzung zu einem späteren Zeitpunkt realisiert wird. Andererseits steht die Art der Zwischennutzung mit der ursprünglichen Nutzung nicht in Verbindung - auch nicht zwingend mit dem bisherigen Nutzer. Es findet somit eine Zweckentfremdung statt. (vgl. Bürgin / Cabane 1999, 9)

1.6.2. Effekte für das Stadtquartier

Zwischennutzungen, die auch als eine Folge des Strukturwandels25 verstanden werden, sind „eigentlich kein besonderes Phänomen. Sie bezeichnen lediglich eine vorübergehende Nutzung eines Raumes, einer Liegenschaft, während diese brachliegt.“ (Bürgin / Cabane 1999, 9) Das Besondere an der Zwischennutzung ist ihr zunächst informeller Charakter, da sie in dem Sinne keine (stadt-)planerische Erscheinung war und auch immer noch ist. Zwischengenutzte Räume haben oftmals ein „reizvolles Ambiente mit hoher Ausstrahlungskraft, da die Dimensionen und Dispositionen der ursprünglichen und der provisorischen Nutzung stark voneinander abweichen“ (Bürgin / Cabane 1999, 33, 10), wie das bei Loftwohnungen zum Beispiel möglich ist. Zudem stehen Zwischennutzungen für die Realisierung von Experimenten26 mit zum Teil beachtlicher (Medien)- Öffentlichkeit besonders auf großen Arealen. Zwischennutzungen können daher auch zu den imageträchtigen Projekten gehören, die einen fundamentalen Bestandteil jeder Standortentwicklung darstellen. (vgl. Bürgin / Cabane 1999, 33, 10)

Des weitern machen die Folgeerscheinungen bzw. die Effekte, die durch Zwischennutzungen auftreten können, das Besondere von Zwischennutzungen aus. Dabei spielen soziale Effekte eine außerordentliche Rolle. Diese Effekte sollen nun nach den vorangegangenen Definitionsversuchen und der Charakteristik von Zwischennutzung im Folgenden betrachtet werden.

Identitätseffekt

Generell tragen Zwischennutzungen, so eine These dieser Arbeit, wenn auch nur für eine gewisse Dauer, zur Aufwertung des Quartiers bei. Zwischennutzung kann zu einem lebendigen und auch ökonomisch wertvollem Stadtquartier mit eigener Identität einen entscheidenden Beitrag leisten. In der Entwicklung von Stadt spielen mehr und mehr weiche Standortfaktoren eine Rolle27, wie z.B. Identität oder Image. Die Stadtentwicklung sollte daran arbeiten, Identitätsbildung zu fördern, das heißt, spezifische Charakteristika eines Ortes herausstellen und forcieren, welche das Image eines Standortes prägen bzw. wandeln können. Aspekte von Identität sind historischer, sozio-kultureller, ökonomischer oder landschaftlicher Art, „die sich in unterschiedlichen Formen symbolischer Vermittlung von Aktivitäten und Nutzungen manifestieren [...]“ (Bürgin / Cabane 1999, 16) Nach Bürgin und Cabane „bietet sich die Chance, im Rahmen von Zwischennutzungen positive Identifikationsmomente zu erzeugen und einen aktiven Beitrag zur Entwicklung von Stadt und Standort zu leisten“ (Bürgin / Cabane 1999, 17), wenn sich der Ort in einer zeitlichen Identitätsübergangsphase befindet. (vgl. Bürgin / Cabane 1999, 16-17)

Sozialer Effekt

Grundsätzlich sollten vorhandene Risiken bzw. Defizite der Stadt als Chance begriffen werden. Zum Beispiel fehlen Nachbarschaftsquartieren oftmals Frei- und Grünflächen eines Viertels. Denn durch den „in der Regel sehr hohen Verdichtungs- und Versiegelungsgrad [...] ist das Angebot an wohnungs- und gebietsnahen Grün- und Freiflächen häufig defizitär.“ (Staubach. In: Selle 1994, 198) Dieses Defizit an Grün- und Freiflächen braucht Zeit und Raum; „Zwischenzeit und Zwischenraum“ (Bürgin / Cabane 1999, 7) Zwischennutzungen, als eine Form der informellen Planung28, können „wie Akupunktur [...] mit einfachen Mitteln blockierte Energien auslösen.“ (Bürgin / Cabane 1999, 8) Werden die BewohnerInneninteressen ernst genommen, sind informelle Strategien der Stadtentwicklung erforderlich. Das bedeutet, dass Aktivitäten gefördert werden müssen, welche dann die erforderlichen Nutzungen von selbst nach sich ziehen. Es sollte darauf vertraut werden, dass „Leute Aktivitäten [entfalten] - Aktivitäten Nutzungen [beeinflussen] - Dienstleistungen auf Aktivitäten und Nutzungen [antworten] - die Zeit alles [bestimmt] - heute ist es noch da, morgen ist alles vorbei.“ (Herron. In: Bürgin / Cabane 1999, 18) Huber behauptet, dass man planen kann wie man will, Nutzungen werden sich immer den Bedürfnissen anpassen, häufig aber mit erheblichen und langwierigen Konflikten. (vgl. Huber. In: Bürgin / Cabane 1999, 18) Zwischennutzungen haben demnach neben der wirtschaftlichen Dimension des Investors nicht nur eine stadtgestalterische sondern auch eine soziale Dimension. (vgl. Freitag / Werner 1999, 4)

Durch die Aneignung von Raum kann einerseits sozialer Sinn, aber auch andererseits wieder Ungleichheit produziert werden. (vgl. Dangschat 1994, 349) Die Umsetzung sozialer Anliegen bei Zwischennutzungen sollte trotzdem einen Schwerpunkt darstellen. Unseres Erachtens sollten soziale Anliegen von vornherein ‚mit geplant’ werden. Wenn ausschließlich auf das Spontane und Situative gesetzt wird, ist deren Berücksichtigung von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Denn die wichtige Produktion von Ideen des Raumes und von Bildern des Städtischen findet nicht außerhalb ‚des Sozialen’ statt, sondern ist selbst Objekt von sozialen Praktiken und kulturellen Diskursen. (vgl. Prigge 1987, 23) Weiterhin konstatiert Walter Prigge, dass ‚Betroffenheit’ der Auslöser für die Entfaltung von Leidenschaften gesellschaftlicher Produktivität ist, die das Soziale in Bewegung bringt; [...]“ (Prigge 1987, 24) Durch Zwischennutzungen könnte die „von Planern viel beschworene Mischung und urbane Vielfalt über bewohnerinduzierte Aktivitäten“ (Altrock 1998, 33) herbeigeführt werden was wiederum eine Verbesserung der Lebensqualität zur Folge hätte. Durch Zwischennutzung bietet sich die Chance, ‚Aneignungsräume’ für die Bevölkerung vor Ort und evtl. sogar Betätigungsfelder für den informellen Wirtschaftssektor zu schaffen. (vgl. Altrock 1998, 33) Zudem könnten temporäre Nutzungen „Licht- und Ausblicke auf eine künftige Ablösung der Verdrängung- und Ausgrenzungspolitik zugunsten einer neuen Kommunikations- und Vereinbarungskultur eröffnen.“ (Huber. In: Bürgin / Cabane 1999, 16) Sie sind aber zugleich Ausdruck von „Resignation und Wut [über die] zunehmend erfolgloseren Auseinandersetzungen an der traditionellen Eigentumsfront.“ (Huber. In: Bürgin / Cabane 1999, 16)

EXKURS: BürgerInnenbeteiligung und Selbstorganisation

Stadtumbau sei nicht technisch-administrativ zu bewerkstelligen, „sondern [bedarf] aktiver, selbstverantwortlicher Gruppen vor Ort, im Stadtteil.“ (Wohnbund. In: Selle 1994, 58) Die Erneuerung von städtischen Quartieren kann daher nicht ohne die BewohnerInnen erfolgen. Denn eine erfolgreiche BewohnerInnenbeteiligung gilt als einer der Schlüssel zu einem langfristigen Umsetzen aller Handlungsansätze. Zu Recht stellen sich Experten die Frage, was eigentlich unter BewohnerInnenbeteiligung zu verstehen ist.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung von Zwischennutzungen ist die Beteiligung der BewohnerInnen an der Planung und Gestaltung öffentlicher Maßnahmen zu nennen. Dabei geht es nicht um die inhaltliche Optimierung oder Legitimation von öffentlicher Planung, sondern „- dem Anspruch nach - vielfach auch um das Erproben und Üben sozialer Fähigkeiten bei Selbstorganisation, Meinungsbildung und Konfliktaustragung.“ (Selle 1994, 58-59) Das stellt sich für uns allerdings als eine sehr arrogante PlanerInnen-Haltung dar.

Nach Altrock sollte die Gestaltung der Zwischennutzung als ‚Experimentierfeld’ für die BewohnerInnen angesehen werden, die in die Beplanung eingebunden werden. Somit würde ein „gewisser Ausgleich für die Entfremdung durch den ohne ihren Einfluss vollzogenen Umbau an anderer Stelle“ geboten. Seiner Ansicht nach können so „neue planerische Zielfindungsprozesse im Kleinen ausprobiert werden, ohne dem Risiko der Irreversibilität“ ausgesetzt zu sein. (vgl. Altrock 1998, 33) Die Beteiligung von BewohnerInnen ist zudem in der Neuen Charta von Athen 1998 als Empfehlung festgeschrieben. Zwar sind die Beteiligungsmöglichkeiten „in Bezug auf Themen, die das tägliche Leben und die Qualität des örtlichen Umfeldes betreffen“ (Neue Charta von Athen 1998, 13) in den europäischen Städten und Regionen enorm unterschiedlich weit entwickelt. Es sollte aber angestrebt werden, innovative Formen der Beteiligung zu entwickeln und einen unmittelbaren Zugang der BürgerInnen zu einer aktiven Beteiligung an Planungsentscheidungen zu ermöglichen. Es sollten in dem Sinne örtliche, soziale und kulturelle Einrichtungen gefördert werden, um den zwischenmenschlichen Kontakt zu fördern. (vgl. Neue Charta von Athen 1998, 13)

Bei der Realisierung von Zwischennutzungen ist ein hoher Grad an Selbstorganisation29 der verschiedenen Akteure erforderlich, denn das zukünftige Quartier ist sich selbst überlassen. Das bedeutet, dass die beteiligten Akteure in die Entscheidungsprozesse einzubinden sind und sie somit ihre Aktivitäten in Eigenverantwortung realisieren. (vgl. Bürgin / Cabane 1999, 43) Es können neue räumliche und zeitliche Strukturen entstehen. In der Selbstorganisation liegt ihrer Meinung nach die Chance, in instabilen Phasen, „in denen das System fern vom Gleichgewicht nach neuen Möglichkeiten der Weiterentwicklung, nach einer neuen (wandelbaren) Ordnung sucht“, die Entwicklung zu forcieren. (Zibell. In: Bürgin / Cabane 1999, 8, 16) Nach Zibell ist „Selbstorganisation als eine gebündelte Kraft [zu begreifen], welche als geändertes - kollektives - Verhalten eine neue Ordnung, neue Strukturen bilden kann, ohne dass es dazu einer direkten Fremdeinwirkung bedarf.“30 (Zibell. In: Bürgin / Cabane, 1999, 43) Die Förderung von temporären Nutzungen bzw. Zwischennutzungen setzt demnach Eigeninitiative frei und setzt zum Teil auch irreversible Prozesse in Gang. (vgl. Mellauner 1998, 95)

Wirtschaftlicher Effekt

Zwischennutzungen, die vor allem von jüngeren und innovativen Bevölkerungsgruppen realisiert werden, können darüber hinaus einen Beitrag zur Wirtschaftsförderung leisten, „indem sie im Sinne einer konsequenten Win-Win Strategie das innovative Potential einer vorwiegend jüngeren Generation dadurch nutzt, dass ihnen Flächen zu äußerst günstigen Konditionen zur Verfügung gestellt werden.“ (Bürgin / Cabane 1999, 17) Aus der Not des Provisoriums sind Tugenden entwickelt worden, die „paradoxerweise heute als zeitgemäßes unternehmerisches Denken gestellt werden: flexibel, kostenbewußt, umweltschonend, effizient, innovativ, zeitgemäß, vernetzt, liberal, direkt, [...]“ (Bürgin / Cabane 1999, 17) Dadurch können sie sogar arbeitsmarktpolitische Effekte erzielen. (vgl. Freitag / Werner 1999, 4)

1.6.3. Mögliche Kategorisierungen von Zwischennutzungen

Es werden nun Kategorisierungsversuche von Zwischennutzungen verschiedener Autoren dargestellt, ohne von eigenen Beispielanalysen auszugehen. Es soll gezeigt werden, dass es viele unterschiedliche Ansätze gibt, Zwischennutzung in der aktuellen Planungsdebatte zu kategorisieren. Somit kann eine Unterscheidung bzw. Abgrenzung von Zwischennutzungen vorgenommen werden, die Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge erkennen lässt. (vgl. Freitag / Werner 1999, 32)

Zwischennutzung in einer ‚Zeitspanne’

Freitag und Werner nehmen eine Kategorisierung nach der ‚Zeitspanne’ vor, in der eine Zwischennutzung zustande kommt. Das heißt eine Zwischennutzung bzw. eine Interimslösung die entsteht, überbrückt grundsätzlich drei Arten von Zeitspannen bzw. Zeiträumen. Diese Zeitspannen entstehen aufgrund von nicht abgeschlossenen Realisierungsphasen, Vermarktungsproblemen oder nicht abgeschlossenen Planungsprozessen.

Vermarktungszeiträume

Wie schon oben erwähnt, ist ein Überangebot von Grundstücken oder Immobilien auf dem Markt oftmals Ursache für Brachflächen. Somit treten Vermarktungszeiträume von längerer Dauer auf, in denen die Eigentümer Schwierigkeiten haben, zu verpachten oder zu verkaufen.

Planungszeiträume

Wenn noch keine Vorstellungen über die künftige Nutzung der brach gefallenen Fläche oder des leer stehenden Gebäudes bestehen, müssen Planungszeiträume überbrückt werden. Gründe dafür können seitens des Eigentümers noch keine formulierten Planungsziele oder der in Aufstellung befindliche Bebauungsplan sein. Freitag und Werner weisen zudem auf den Sonderfall restitutionsbelasteter Gründstücke oder Gebäude hin, die sich beispielsweise in der Verwaltung der Treuhand Liegenschaftsgesellschaft befinden und somit nicht langfristig vermietet oder verpachtet werden dürfen.

Realisierungszeiträume

Nach Freitag und Werner müssen Realisierungszeiträume dann überbrückt werden, wenn das bauliche Vorhaben aufgrund von Finanzierungsproblemen o. ä. erst einmal nicht fortgesetzt werden kann, aber die Planungen vollständig fertig gestellt sind.

‚Entstehungszusammenhang’ der Zwischennutzung

Eine zweite Art der Kategorisierung kann bezüglich des Entstehungszusammenhangs der Zwischennutzung vorgenommen werden: Sie können ‚geplant’ oder ‚ungeplant’ entstehen. Bei Zwischennutzungen, die ‚geplant’ entstehen, ist der Zwischennutzungszeitraum eindeutig definiert ist, z.B. ist der Zeitpunkt (01.01.2003 -31.12.2003) oder das Projekt (Zwischennutzung bis Baubeginn eines konkreten Vorhabens) definiert. Dabei werden Auswirkungen ökonomischer, ökologischer und sozialer Art berücksichtigt. Diese Folgewirkungen sind bei ungeplanten Zwischennutzungen, die dagegen zufällig und spontan entstehen, eher nicht berücksichtigt. Beide Nutzungscharaktere - ‚geplant’ oder ‚ungeplant’ - können vertraglich geregelt sein, entweder im Vorfeld oder bereits bei der Realisierung der Nutzung. (vgl. Seidemann 1998, 16)

1.6.4. Dauer der Zwischennutzung

Die Nutzungsdauer hängt sehr stark mit dem Agieren der EigentümerInnen zusammen, d.h. die Nutzungsdauer wird durch die EigentümerInnen begrenzt. Nach Freitag und Werner ist das Agieren der EigentümerInnen davon abhängig, welcher Zeitraum, mit einer Zwischennutzung überbrückt wird. (vgl. Freitag / Werner 1999, 87)

Bei der Überbrückung eines Vermarktungszeitraumes, wird erst dann eine Zwischennutzung von der EigentümerIn angestrebt, wenn der ‚Raum’ am Markt keine Chance hat. Nach der Entscheidung der EigentümerIn für eine Zwischennutzung wird von Anfang an klargestellt, dass die Zwischennutzung sofort wieder beendet werden muss, sobald die Chance auf eine endgültige Nutzung gefunden ist. Dieser Zeitpunkt ist in der Regel nicht vorhersehbar und somit besteht für die ZwischennutzerInnen die Gefahr des unerwarteten Endes der Nutzung, so dass eine Nutzung unter Umständen nur wenige Wochen oder Monate dauern kann. (vgl. Freitag / Werner 1999, 87)

Bei der Überbrückung von Planungszeiträumen bestehen Unsicherheiten über den künftigen Umgang mit dem ‚Raum’, die auch in absehbarer Zeit nicht beseitigt werden können. Somit wird über Zwischennutzungen im Vergleich zu der Überbrückung von Vermarktungszeiträumen frühzeitiger nachgedacht. Aufgrund dessen wird bei der Überbrückung von Vermarktungszeiträumen von vornherein ein längerer Zeitraum eingeräumt, der sogar mehrere Jahrzehnte umfassen kann. (vgl. Freitag / Werner 1999, 87)

Der Zeitraum zur Überbrückung von Realisierungszeiträumen ist nach Freitag und Werner keiner Regelmäßigkeit unterworfen. Die Zeitdauer beträgt zwischen einigen Monaten bis hin zu mehreren Jahrzehnten. Sobald absehbar ist, dass die Realisierung noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird, werden oftmals Zwischennutzungen angestrebt. (vgl. Freitag / Werner 1999, 87)

Die Nutzungsdauer kann auch auf andere Art und Weise kategorisiert werden. Heidi Seidemann bezeichnet sie als kurz-, mittel- und langfristig, ausgehend von untersuchten Beispielen. Als kurzfristig werden Zeiträume bis zu zwei Jahren bezeichnet, mittelfristige Zwischennutzungen umfassen ca. fünf Jahre und langfristig werden Zwischennutzungen von 10 bis 20 Jahren von ihr gesehen. Bezüglich der Dauer einer Zwischennutzung ist von Bedeutung, bis wann eine Zwischennutzung als temporäre Nutzung zu bezeichnen ist bzw. ab wann als endgültige Nutzung gilt. (vgl. Seidemann 1998, 15) Die Nutzungsdauer ist ein entscheidender Faktor bezüglich der Effektivität der Nutzung. Die Effektivitätsbeurteilung kann bezüglich sozialer, ökologischer und ökonomischer Aspekte erfolgen, was beschreibt, ab welchem Zeitraum sich die Nutzung für die einzelnen Nutzer rentieren. (vgl. Seidemann 1998, 16)

Die zur Verfügung stehende Nutzungsdauer hat zum einen wiederum Einfluss auf die Eignung der angestrebten Nutzungsart und zum anderen kann sie Hinweise auf die planungsrechtliche Beurteilung geben. Denn es ist davon auszugehen, dass eine länger dauernde Zwischennutzung die planungsrechtliche Situation schwieriger werden lässt und eventuell sogar die Grundzüge der Planung berühren würde. (vgl. Seidemann 1998, 15)

1.6.5. Akteure - Zwischennutzungen entwickeln sich nicht von selbst

Vor einigen Jahren waren die NutzerInnen eindeutig als ‚die’ Initiatoren von Zwischennutzungen zu bezeichnen. Es ist der Trend erkennbar, dass sich die ‚Initiative’ verlagern kann, da auch Politik und Planung Impulse für Zwischennutzungen geben können. Impulse für Zwischennutzungen können also von unterschiedlichen Akteuren kommen, die natürlich verschiedenen Interessen zugrunde liegen. Die einzelnen Initiatoren bzw. Akteure werden im Folgenden kurz erläutert.31

BürgerIn als NutzerIn

In der Zeit der so genannten Jugendunruhen machten ‚Jugendliche und jung gebliebene Erwachsene’ Raumansprüche geltend und suchten nach Freiräumen, um gegenüber der etablierten Gesellschaft einen Kontrapunkt zu setzten. (vgl. Bürgin / Cabane, 1999, 11) In Städten nehmen aufgrund der Privatisierung der öffentlichen Räume die Möglichkeiten der Raumaneignung zunehmend ab. (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 259) Deshalb ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass BürgerInnen die Möglichkeit geschaffen wird, wenn auch nur temporär, städtische Räume zu beanspruchen.

Hoffmann-Axthelm bezeichnet NutzerInnen „als Verantwortliche - in der Breite ihrer widerstreitenden Interessen und Abhängigkeiten, zugleich Anleger und Nachfrager, Investoren und Abnehmer.“ (vgl. Hoffmann-Axthelm. In: Mellauner 1998, 37). Mellauner folgert daraus, dass NutzerInnen alle BürgerInnen, „die im Prozess des Abwägens von Kosten und Nutzen, des Engagierens für die neue Öffentlichkeit oder des Konsumierens dieser und des historischen Rückzugs aus bestehender Öffentlichkeit beteiligt sind, sprich alle“ sind. (vgl. Mellauner 1998, 38) NutzerInnen treten auf eine „neue, junge, eher unbekannte Bühne öffentlichen Lebens [...]“ (vgl. Mellauner 1998, 40)

ZwischennutzerInnen zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen geringe finanzielle Möglichkeiten zur Nachfrage an Flächen auf dem Markt zur Verfügung stehen, sie zum jeweiligen Standort ‚passen’, problemlos die Nutzungen verlagern können, wenn die endgültige Nutzung realisiert wird und eine „neue Qualität städtischen Lebens mitkatalysieren“ können. (vgl. Altrock, Uwe 1998, 30-31) Für die NutzerInnen bedeuten Zwischennutzungen oftmals ein ‚Vabanquespiel’32, zum Beispiel, wenn Fristen nicht eindeutig festgelegt sind. Die Investitionsbereitschaft sinkt auf Seiten der NutzerInnen sowie auf Seiten der EigentümerInnen. (vgl. Bürgin / Cabane 1999, 33, 10)

BürgerInnen werden u.a. einerseits aus ‚ästhetischen Gründen’ zu ZwischennutzerInnen. Bei Zwischennutzungen geht es um die zweckfremde Nutzung ehemaliger Zweck(-bauten)-räume, was offenbar den ästhetischen Reiz ausmacht. Diese Räume sind ‚offen’ und das nicht mehr oder noch nicht Gestaltete scheint stimulierend zu wirken. (vgl. Huber. In: Bürgin / Cabane, 1999, 15) Andererseits ist ‚Individualität’ ein maßgebliches Motiv. Denn die kulturelle Produktivität der Großstadtkultur stecke, so Häußermann und Kapphan, in der Anonymität der Großstadt, welche die Chance zur Entfaltung von Individualität und Exzentrik biete. Es ist die Sehnsucht nach Unterscheidung, nach einem Vorteil im ökonomischen und kulturellen Wettbewerb, welche die Basis für Innovation und Kreativität bildet. (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 246)

Politisch-Administratives System

Dem politisch administrativen System, bzw. den BeamtInnen und PolitikerInnen kommt eine bedeutende Rolle zu, denn ohne sie wäre eine Etablierung neuer städtischer Räume bzw. der Realisierung von ‚gesteuerten’ Zwischennutzungen nicht möglich. (vgl. Mellauner 1998, 38) Der politische Wille der PolitikerInnen ist der Anreiz für die Verwaltung, Zwischennutzungen zu initiieren, denn „das Lob von PolitikerInnen ist das Honorar für Beamte.“ Andererseits wird Politik aber auch von initiativen Geistern in der Verwaltung gesteuert. Grundsätzlich ist laut Mellauner der Anreiz für alle - auch für PlanerInnen - der Profilierungswille. (vgl. Mellauner 1998, 95)

PlanerIn als Aktivator

Eingangs steht zunächst eine provokante Aussage, in der behauptet wird, dass „Planende [...] ‚Wissende’ [sind] und [...] zumeist [...] mit der ‚Arroganz der Wissenden’ [agieren]“. (vgl. Luz. In: Mellauner 1998, 36) Aber PlanerInnen sind ideologisch und biographisch geprägt. Die PlanerIn nimmt immer häufiger bei der Entwicklung von Zwischennutzungen die Rolle des Aktivators ein. Nach Mellauner hat der Aktivator viele potentielle Rollen im Prozess der temporären Nutzungen bzw. Zwischennutzungen, die verschieden kombiniert werden und situationsadäquat angewendet werden müssen.

Der Aktivator handelt zunächst als Katalysator. Des weiterem kommt ihm die Moderatorenrolle zu, indem er als Experte für den Weg, nicht für das Ziel auftritt und somit bei der „Entwicklung einer Streitkultur zur Bewältigung von Konflikten“ hilft. (vgl. Rosinak. In: Mellauner 1998, 40). Nach Mellauner ist der Aktivator Makler, dessen Aufgabe es wäre, „Planung von vornherein in Kenntnis vorhandener Widersprüche und der Mittel zu ihrer Auflösung zu formulieren.“ (Mellauner 1998, 41) Es müssen für spezifische öffentliche Interessen die Bündnisinteressen bei UnternehmerInnen und NutzerInnen aufzufinden und zusammenzubringen sein. Als Consulter bietet der Aktivator Ideen und Handlungsalternativen nachfragenden Auftraggebern bzw. Akteuren an. Aktivator kann letztendlich auch als Empowerment-Initiator bezeichnet werden. „Empowerment kann als andauernder, zielgerichteter Prozess im Rahmen kleiner, meist lokaler Gemeinschaften verstanden

werden. Er [der Prozess] beinhaltet wechselseitige Achtung und Fürsorge, kritische Reflexion und Bewusstwerdung der Akteure, durch den eine Form der Teilhabe für die Person oder Gruppe ermöglicht wird, die unzureichenden Zugang zu wichtigen sozialen Ressourcen haben.“ (vgl. Stark. In: Mellauner, 1998, 40-41) Empowerment, auch als Gemeinwesenarbeit bekannt, motiviert BewohnerInnen zu Eigeninitiative und überträgt sogar Lösungskompetenz an die Betroffenen. (vgl. Arge Schöpfwerk. In: Mellauner 1998, 41)

1.7. Zwischennutzung und innerstädtische Brachen - eine Symbiose

Im Folgenden wird die Zwischennutzung als Möglichkeit des Umgangs mit brachliegenden Flächen betrachtet.

Martin Wentz stellt dazu fest, dass einfach geordnete und orientierungserleichternde Raumstrukturen mit nicht endgültig festgelegten Nutzungsmöglichkeiten bei ausrechender Dichte und Vielfältigkeit der Zwischen- und Freiräume eine Absicherung für spätere Um- und Weiternutzungen darstellen. Die bewusste und intensive Reaktivierung der Brache wird entweder Stadtreparatur, Stadtumbau, Stadtplanung im Sinne des vielschichtigen Weiterbaus genannt. (vgl. Wentz. In: Der Architekt. 1993, Nr. 10, 558-559) oder kann ‚zwischengenutzt’ werden.

Brachliegende oder unzureichend genutzte lokale Ressourcen sollten den BürgerInnen zumindest vorübergehend zur Verfügung gestellt werden, „wenn die öffentliche Hand keine Mittel hat, eine umfassende Fürsorge zu betreiben, aber gleichzeitig die Bürger dazu aufordert, selbst ihr Schicksal in die Hand zu nehmen“ (Altrock, Uwe 1998, 29) Altrock vertritt in diesem Zusammenhang eine „Kultivierung des Vorläufigen.“ (vgl. Altrock, Uwe 1998, 30)

Die Neue Charta von Athen 1998 empfiehlt eine Neuentwicklung brachliegender Flächen mit einem klaren Bezug zu der Struktur des öffentlichen Raumes. Es wird weiterhin empfohlen, eine Wiederbelebung des öffentlichen Raumes zu forcieren, um erneut als „Ort der Entstehung und Entwicklung von Gemeinschaftssinn, sozialen Aktivitäten und Vitalität zu dienen.“ (Neue Charta von Athen 1998, 13) Das Netz u. a. von Freiräumen in der Stadt sollte erhalten und gestärkt werden. Weiterhin wird in der Charta formuliert, dass gesellschaftliche Funktionen auf Brachflächen angestrebt und entwickelt werden sollten, die zum Beispiel in aufgelassenen Einrichtungen, wie z.B. ehemalige Fabriken und Militärkomplexe untergebracht sind. (vgl. Neue Charta von Athen 1998, 13) Somit könnten auch brachliegende Flächen öffentlich zugänglich gemacht werden.

1.7.1. Mögliche Zwischennutzungen auf innerstädtischen Brachen

Die Nutzungsart hängt stark von dem Anlass der Brachwerdung einer Fläche oder eines Gebäudes und ist zudem eng mit der Nutzungsdauer verknüpft. Freitag und Werner haben vier allgemeine verschiedene Zwischennutzungsarten in ihrer Analyse herausgearbeitet, die sich nicht ausschließlich auf innerstädtische Brachflächen beziehen. Sie unterscheiden nach

- gewerblicher Nutzung (Einzel- und Großhandel, Büronutzung, Lagerflächen usw.),
- sozialer Nutzung (z.B. Spiel- und Sportflächen),
- kultureller Nutzung (z.B. Ateliers, Galerien, soziokulturelle Veranstaltungen) und
- sonstiger Nutzung (z.B. Pferdekoppel). (vgl. Freitag / Werner 1999, 78)

Dabei wird festgestellt, dass ein Zusammenhang zwischen dem ‚Anlass des Brachliegens’ - Überbrückung von Realisierungs-, Planungs- oder Vermarktungszeiträumen - und der ‚Art der Zwischennutzung’ deutlich wird.

Werden Vermarktungszeiträume überbrückt, sind es fast ausschließlich kulturelle Zwischennutzungen, die realisiert wurden.

Planungszeiträume werden überwiegend mit gewerblichen Interimslösungen überbrückt.

Allerdings ließ sich nach Freitag und Werner bei der Überbrückung von Realisierungszeiträumen keine Regelmäßigkeit dieser Art feststellen, da die Zwischennutzungen eine zu große Heterogenität aufwiesen. (vgl. Freitag / Werner 1999, 78-79)

Die Potentiale der einzelnen Zwischennutzungsarten werden nun kurz erläutert. 23

[...]


1 Zunächst wird Raum demnach in einem zweidimensionalen Ordnungsschema „verortet“ (mit allen Eigenschaften seiner Lage), der zu seinen räumlichen Relationen (Distanz, Richtung) zu jedem anderen Ort in Beziehung gesetzt werden kann. (vgl. Dangschat 1994, 337- 338)

2 Nach Prigge werden durch die „Konfrontation von Ort und Raum“ neue Formen von „rebellischer Subjektivität“ entwickelt, „die vor Ort Perspektiven der Produktion und Reproduktion anderer Lebensweisen entwerfen und erproben“. Diese Formen rebellischer Subjektivität konstituieren sich aus der Nähe zum Ort und stiften Identität „im Feld stabiler sozialer Beziehungen von intimer Nachbarschaft. (vgl. Prigge 1987, 24)

3 Zudem ist die Materie untrennbar mit dem Raum verbunden, also konstituierend für den Raum; Orte sind durch ihre Relationen bestimmt und nicht lediglich durch ihre Inhalte und Distanzen zueinander. (vgl. Läpple. In: Dangschat 1994, 338-339)

4 Mikro-Raum ist „unmittelbarer situativer Nahbereich, in dem raumbezogenes Verhalten stattfindet [...].“ Der Makro-Raum bezeichnet die städtische, regionale, nationale und internationale Raumebene, auf der „’Großprozesse’ des sozialen Wandels [ablaufen], die sich gegenwärtig als ökonomische und soziale Umstrukturierung, verbunden mit einer veränderten politischen und gesellschaftlichen Regulation darstellen.“ (vgl. Dangschat 1994, 348)

5 Darüber hinaus hat die ‚historische Zeit’ das Ziel nachhaltige Einflüsse des sozialräumlichen Kontexts in bestimmten historischen

Perioden zu ermitteln. (Ermittlung von Kohorteneffekten). In der Geschichtswissenschaft wird nunmehr die Dauer der Auswirkungen auf die Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt. (vgl. Dangschat 1994, 339)

6 Der Umgang mit ‚Zeiten’ im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung sollte ernster genommen werden. ‚Soziale Zeiten’ sind zu beachten, dass heißt, dass die Möglichkeiten des Austausches und der Kommunikation in den Nachbarschaften zu unterstützen sind. Denn die Nähe und der soziale Austausch im Nahbereich sind wichtig ohne dabei die Weltoffenheit zu verlieren. Zudem sollten Jahresrhythmen und längere Rhythmen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn die Stadt ist in jeder Jahreszeit in der ihr eigenen spezifischen Weise attraktiv - in der Art der Grünanlagen und Gärten sowie der Gestaltung der Straßen und Plätze. (vgl. Held difu, 1998, 32-33). Ein weiterer Zeit-Aspekt ist der Wechsel von Aktivität und Ruhe. Zeiträume - Zeiten und Räume sollten für Muße, Geselligkeit und nichtzweckgerichteter Kreativität zur Verfügung stehen. Zum Beispiel fördern Spiele im öffentlichen Raum die Kreativität. Darüber hinaus sind gerade Freiräume für das Ausleben nichtzweckgerichteter Kreativität „im Zeitablauf vielfach Quelle für soziale Innovationen“. (Held difu, 1998, 33) Meiner Ansicht nach könnte ‚die Zwischennutzung von Brachflächen’ diese Ansprüche erfüllen. Eng damit zusammen hängt eine Kultur der öffentlichen Räume und Plätze, in denen „Platz für Pausen, Anfänge, Enden und Übergänge ist; Räume, die die Individualität der Eigenzeiten zulassen, ohne dass es um den Preis der sozialen Abschottung und der Aufgabe öffentlicher Räume geschieht.“ (vgl. Held difu, 1998, 33) Das ist auch im Ansatz der kommunalen Agenda 21-Prozesse zu erkennen, die vielfältige Bürgerinteressen mit einbeziehen und so die Voraussetzungen für Innovationsfähigkeit fördern. Somit wird eine Vielfalt der ‚Zeitlandschaften’ als übergeordnete Leitlinie gefördert. (vgl. Held difu, 1998, 34)

7 Es ist somit eine Flexibilisierung und Individualisierung festzustellen, die zur Auflösung kollektiver urbaner Rhythmen führt. Das Aktivitätsniveau linearisiert sich und die Tendenz zur Kontinuierlichkeit wird verstärkt. Es ist von einer fortschreitenden Entkopplung von natürlichen Rhythmen und der immer weitergehenden Ökonomisierung fast aller Lebenszusammenhänge die Rede. Dadurch können Zeitkonflikte entstehen, denn die zeitliche Ordnung unsrer Gesellschaft wird immer komplexer, was die zeitlichen Koordinierungsleistungen immer schwieriger macht. (vgl. Henckel 1998, 16-18)

8 Am Beispiel der historischen Betrachtung wirtschaftlicher Entwicklung sind Konjunkturzyklen festzustellen mit einer Unterscheidung zwischen Langen und kurzen Zeiten. Es werden also „Temporalstrukturen im Horizont der historischen Dynamiken kapitalistischer Produktion und Reproduktion“ untersucht. (Prigge 1987, 16) Nach Läpple nahm die Dynamik städtischer Entwicklungsprozesse noch in den 60er und frühen 70er Jahre die Denkfigur eines ökonomischen „Perpetuum mobile“ vor dem Hintergrund des Paradigmas industriellgesellschaftlicher Entwicklungskontinuität. Dieser sozialökonomische Entwicklungsprozess war von ungleichmäßig zeitlichen und ungleichen räumlichen Verlaufsformen gekennzeichnet. (Läpple. In: Prigge 1987, 60)

9 Dr. Ernst-Hasso Ritter ist Staatssekretär des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen und Mitglied der Akademie für Raumforschung und Landesplanung.

10 Nach Dieter Hoffmann-Axthelm müssen planerische Instrumentarien steuern, wobei steuern heißt, „die Dinge flexibel zu halten.“ (Hoffmann-Axthelm. In: Mellauner 1998, 33) „Dauerhaftigkeit und das Streben danach sind eine Illusion traditioneller [...] Planung.“ (Hoffmann-Axthelm. In: Mellauner 1998, 33)

11 „Unsere Städte und unsere Wohnungen sind Produkte der Phantasie wie der Phantasielosigkeit, der Großzügigkeit wie des engen Eigensinns. Da sie aber aus harter Materie bestehen, wirken sie auch wie Prägestöcke, wir müssen uns ihnen anpassen. Und das ändert zum Teil unser Verhalten, unser Wesen. Es geht um einen im Wortsinn fatalen, einen schicksalhaften Zirkel: Menschen schaffen sich in Städten einen Lebensraum, aber auch ein Ausdrucksfeld mit tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit.“ (Mitscherlich, Alexander 1965, 9)

12 Den Extremfall stellt die „broken windows-Theorie“ dar, in der davon ausgegangen wird, dass die Verwahrlosung und Vernachlässigung der physischen Umwelt auch entsprechende soziale Verhaltensweisen nach sich ziehe. Es wird behauptet, dass Gleichgültigkeit gegenüber Verwahrlosungen und Zerstörungen in der Umwelt als Aufforderung zur weiteren tatkräftigen Mithilfe beim Prozess des Zerfalls und der Zerstörung aufgefasst. (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 260)

13 Grundsätzlich gilt es demnach, „Formen der Stadtentwicklungspolitik zu entwickeln, die sowohl den geringen finanziellen Möglichkeiten als auch der ideellen Erschöpfung angemessen sind.“ (Altrock, Uwe 1998, 28)

14 Der Mannigfaltigkeit entgegen setzt Jane Jacobs die Homogenität. Nach Jacobs „werfen gerade die homogenen Orte [...] höchst merkwürdige ästhetische Probleme auf. Die Gleichheit der Nutzung tritt auch in ihrer äußeren Erscheinung als das auf, was sie ist - als Gleichförmigkeit nämlich; sie ist monoton, öde.“ (Jacobs 1993, 132-133)

15 Bernd Hunger stellt die These auf, dass je gravierender die Identitätsverluste in der Arbeitswelt ist, umso bedeutsamer werden gesicherte Werte in anderen gesellschaftlichen Bereichen, so dass der Stadterneuerung (bzw. der gesamten Stadtentwicklung) als Verstärker der Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt „eine nicht zu unterschätzende Kompensationsfunktion“ zukommt. (vgl. Hunger in: Helms 1992, 522)

16 Bernd Hunger ist Stadtplaner in Berlin. Für Häußermann und Kapphan scheint es dagegen offensichtlich, dass es erst gar keine Vision bzw. kein Leitbild mehr gibt, denn die Interessenlagen sind zu unterschiedlich und die kollektiven Bestände von Normen und Zielen sind zu fragmentiert. (vgl. Häußermann / Kapphan 2000, 272)

17 Dieter Hoffmann-Axthelm formulierte in seiner Studie „Die dritte Stadt“ ein Ausdehnungsverbot für Städte. Er sagt, Städte dürfen flächenmäßig nicht weiter wachsen. Als Erweiterungsfläche dürfe nur noch die schon verstädterte zur Verfügung stehen, wobei sogar diese erheblich reduziert werden müsse. Denn „Fläche sei künftig qualitativ zu denken und in soziale Form rückzuübersetzen.“ (Hoffmann-Axthelm. In: Mönniger 1999, 26) Das mag meiner Meinung auch ein großes Ziel sein, aber ob ein „Ausdehnungsverbot“ das richtige Instrument ist, sei fraglich.

18 Es werden räumlich-funktionale Brachen durch Investitionen beseitigt und zugleich das ‚Biotop-Armut’ zerstört, indem Einkommensschwache vertrieben werden oder ihnen das letzte Kapital nimmt, welches sie vor der sozialen Brache bewahrt: das soziale Kapital. Denn die ‚inneren Werte’ der vermeintlichen sozialen Brachen werden nicht gesucht, sodass sie unentdeckt bleiben. Aber die „Brache lebt“, denn es gibt stabile soziale Netzwerke, die häufig eng geschlossen und räumlich auf ein Quartier beschränkt sind. (vgl.

19 „Eine Stadt braucht Räume, die für eine in Zukunft gerichtete Entwicklung zur Verfügung stehen.“ Es muss demnach unfertige Quartiere, Leerstand, Brachen und freie Räume geben, „um bereit zu sein, neue Entwicklungen und Strömungen aufzunehmen.“ Denn Stadt ist nicht bewegungslos es finden ständig Veränderungen statt. (vgl. Freitag / Werner 1999, 3-4)

20 Liegenschaftsveräußerungen in Zuge von Privatisierungen der Deutschen Bundesbahn bzw. Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Bundespost sowie die entstandenen Konversionsflächen aufgrund des Abzugs der alliierten Truppen und der allgemeinen Verkleinerung der Bundeswehr stellen enorme Flächen zur Verfügung. Zusätzlich entstand bezüglich Berlins eine Überproduktion von Büroflächen infolge der Hauptstadt-Euphorie Anfang der 90er Jahre. Weiterhin spekulierten Eigentümer ungenutzter Gewerbegrundstücke auf die Umwandlung zu Handels- und Dienstleistungsflächen. Und auch die Abwanderung von Betrieben ins wieder gewonnene Umland trug hauptsächlich zum „Freiwerden“ von Raum bei. (vgl. Freitag / Werner 1999, 27) Es wird immer häufiger der Fall, dass Projekte in vorgesehenen Zeiträumen nicht mehr realisiert oder sogar gar nicht umgesetzt werden können, was u.a. bezüglich öffentlichen Vorhaben der wachsenden Finanzknappheit der kommunalen Haushalte verschuldet ist. (vgl. Seidemann, Heidi 1998, 5). Somit werden Aufgaben der Stadtentwicklung mit zunehmender zeitlicher Verzögerung in die Zukunft verlagert. (vgl. Seidemann, Heidi 1998, 5)

21 Auf die Darstellung von Brachflächen in Gebäuden, wie Bürobrachen, wird an dieser Stelle verzichtet.

22 Zudem wird in der Literatur von der ehemaligen DDR als ein Brachenland gesprochen, denn mit den chemiemüllverseuchten Bergbaulöchern werden sich noch Generationen befassen müssen (vgl. Weisbach. In: Der Architekt. 1993, 552)

23 Zwischennutzungen in „Gebäudebrachen“ oder auf größeren Arealen, wie Bahnflächen, Industrieflächen etc. sollen an dieser Stelle nicht betrachtet werden.

24 Formelle Planung meint jene Verfahren, welche bau- und planungsrechtlich vorgesehen sind.

25 Unter Strukturwandel sind z.B. betriebliche Rationalisierungen, Überproduktion von Büro- und Gewerbeflächen oder die Sättigung des Wohnungsmarktes zu verstehen.

26 Wie Mitscherlich schon meinte, sind Experimente als solche etwas Unvermeidliches. (Mitscherlich, 1965 (1996), 20)

27 siehe auch 2.2.

28 Nach Bürgin und Cabane lassen sich informelle Planungen als Verfahren bezeichnen, die handlungsorientiert sind. „Handeln ist grundsätzlich flexibler als Bauen.“ (Bürgin / Cabane 1999, 5, 8)

29 Nach Barbara Zibell kann man unter dem Begriff der „Selbstorganisation die marktwirtschaftlichen Kräfte subsumieren oder auch Entwicklungen, die zum Beispiel in Form von Moden an der Basis der Bevölkerung entstehen. Die Bedeutung der Selbstorganisation und vor allem auch deren Bandbreite wird in der Planung eher unterschätzt oder zumindest nicht ausrechend berücksichtigt. Es ginge darum, die vielfältigen Bewegungen in der Bevölkerung aufzugreifen und sie in umfassende Konzeptionen und Planungsverfahren zu integrieren.“ (Zibell. In: Bürgin / Cabane 1999, 8, 16)

30 Die Selbstorganisation entfaltet ihre treibende Kraft insbesondere in offenen Systemen mit hohen individuellen Freiheitsgraden, in denen viele potentielle Ordnungsparameter als neue Variablen für den Wandel auftreten können.“ (Zibell. In: Bürgin / Cabane, 1999, 43)

31 Die Akteursgruppen werden im Folgenden institutionalisiert und sind somit als geschlechtsunspezifisch zu betrachten. 21

32 „va banque“ bedeutet, alles aufs Spiel bzw. eine Karte setzen.

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
Grünzeit. Zwischennutzung von Brachflächen
Hochschule
Technische Universität Berlin  (Institut fuer Stadt- und Regionalplanung)
Note
1,7
Autoren
Jahr
2002
Seiten
102
Katalognummer
V29955
ISBN (eBook)
9783638313339
ISBN (Buch)
9783638737654
Dateigröße
2122 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grünzeit, Zwischennutzung, Brachflächen
Arbeit zitieren
Heike Hoffmann (Autor:in)Carsten Zehner (Autor:in), 2002, Grünzeit. Zwischennutzung von Brachflächen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29955

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Titel: Grünzeit. Zwischennutzung von Brachflächen



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