Identitätsproblematik in Max Frischs 'Stiller'


Seminararbeit, 1996

18 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

A. Einleitung: Identitätsproblematik als literarisches Thema

B. Identitätsproblematik im Stiller
I. Wer ist Stiller
1. Der Mensch - Der Mann
2. Der Künstler
3. Der Kämpfer
4. Der Ehemann
5. Der Liebhaber
6. Die Flucht
a) Gründe der Flucht
b) Der Selbstmord
c) Die „Wiedergeburt“
II. Wer ist Mr. White
1. Whites Identitätslosigkeit
a) Whites Nicht-Identität
b) Whites Wunsch nach Persönlichkeit
c) Whites Angst vor Wiederholung
2. Gründe der Rückkehr
3. Hoffnung auf Julika
4. Das „Geständnis“
III. Das Nachwort
1. Stiller aus der Sicht des Staatsanwalts
2. Das Gespräch über die Liebe

C. Schlußbetrachtung

Literaturverzeichnis

A. Einleitung: Identitätsproblematik als literarisches Thema

"Ich bin nicht Stiller“ (III,361), ist der Ausruf des Protagonisten dieses Romans, eines Häftlings, der seine Identität nicht zu kennen vorgibt. Der Amerikaner James Larkin White wird bei seiner Heimreise in die Schweiz als der verschollenen Stiller erkannt und verhaftet; seine Papiere sind gefälscht. Er soll sein Leben aufschreiben, um seine Behauptung, nicht der Gefangenen zu sein, wider alle Fakten zu belegen. Es entsteht eine Art Tagebuch, das White sowohl mit Geschichten aus seiner Vergangenheit bereichert, als auch mit Berichten über den Verschollenen Stiller, die ihm seine Besucher, darunter ehemalige Bekannte und Verwandte, erzählen. Auf diese Weise tritt die Suche nach seiner wirklichen Identität in den Vordergrund.

Im Gegensatz zur wissenschaftlichen oder psychologischen Denk- und Vorgehensweise setzt Frisch die Suche nach dem Ich in den Spannungsbogen zwischen Erinnerungen von White und Aussagen von Stillers Freunden. Es ist ein Herantasten an die Zusammenhänge zwischen Identität und Rolle, Bildnis und Wirklichkeit, Selbstbetrachtung und Fremdbetrachtung aus verschiedenen Blickrichtungen. Dies macht den Roman zu einem interessanten Zugang zu solchen Themen, deren Reiz eine wirklichkeitsgetreue Geschichte als Grundlage voraussetzt.

Gegenstand dieser Arbeit soll es sein, Stillers Lebensverlauf in seinem Wandel aufzuzeigen, und Ursachen für sein Handeln zu ergründen, um Einblicke in sein Identitätsverständnis zu erlangen. Es ist zu zeigen, daß der Weg zum Ich nichts anderes ist, als das Identischwerden des erscheinenden Ichs mit der Idee des Ichs.[1] Ferner soll herausgestellt werden, wie eng die Identitätssuche mit der Rollen-, Bildnis- und Geschlechterproblematik zusammenhängt. Whites Reflexionen über die Schwierigkeit, eine Identität in Worte zu fassen, einen Menschen also mit Worten abzubilden, sowie die Untat sich überhaupt Bilder von Menschen zu machen, spielen dabei eine zentrale Rolle.

B. Identitätsproblematik im Stiller

I. Wer ist Stiller

1. Der Mensch - Der Mann

„Anatol Ludwig Stiller [...], Bildhauer, verheiratet mit Frau Julika Stiller-Tschudy“ (III,728), lautet das Urteil des Gerichts. Was hinter diesem Namen steckt, kann nur in Bildnissen, die sich Freunde und Bekannte über Stiller gemacht haben, berichtet werden. Wir erfahren sie durch Berichte, die White über Stiller zusammenfaßt:

Er hat das Gefühl, keinen Willen zu besitzen [...]; er will nicht er selbst sein. Seine Persönlichkeit ist vage; [...] Er ist ein Moralist, wie fast alle Leute, die sich selbst nicht annehmen. [...] Er leidet an der klassischen Minderwertigkeitsangst aus übertriebener Anforderung an sich selbst, und sein Grundgefühl, etwas schuldig zu bleiben, hält er für seine Tiefe [...]. Er möchte wahrhaftig sein. Das unstillbare Verlangen, wahrhaftig zu sein, kommt auch bei ihm aus einer besonderen Art von Verlogenheit; man ist dann mitunter [...] wahrhaftiger als andere Leute. Er lebt stets in Erwartungen. Er liebt es, alles in der Schwebe zu lassen. [...] Unter Männern kommt er sich nicht als Mann vor. Aber in seiner Grundangst, nicht zu genügen, hat er eigentlich auch Angst vor den Frauen (III,600f).

Stiller ist sehr von Bildern, vor allem von Ideal-Bildern, beeinflußt. So will er z.B. dem Bild, das er in der Öffentlichkeit vertritt, genau wie dem eines Ideal-Mannes entsprechen. Frisch hat seinen Helden nicht umsonst ausgerechnet zu einem Bildhauer gemacht.[2] Stiller ist sehr unsicher in allem was er anstellt, „es fällt auf, wie häufig dieser Mensch sich glaubte entschuldigen zu müssen“ (III,440). Er ist auch nie zufrieden, so heißt es an der oben zitierten Stelle auch: „Stiller gehört zu den Menschen, denen überall, wo sie sich befinden, zwanghaft einfällt, wie schön es jetzt auch anderswo sein möchte. Er flieht das Hier-und-Jetzt zumindest innerlich“ (III,601). Und deshalb richtet er sein Atelier nach diesen Bedürfnis ein, so daß Sibylle, Stillers Geliebte, es wie folgt beschreibt: "Wohin man blickte, hatte man in diesem Atelier das erregende Gefühl, jederzeit aufbrechen und ein ganz anderes Leben beginnen zu können" (III,603).

2. Der Künstler

Stiller ist Künstler, ein Bildhauer. Über sein Talent gehen die Meinungen auseinander, doch sein wachsender Erfolg nimmt ihm die Hoffnung sich "in Lehm oder Gips [...] verwirklichen zu können“ (III,682) denn „schon war der Ehrgeiz da, die Freude in Hinsicht auf Anerkennung, die Sorge in Hinsicht auf Geringschätzung“ (III,682). In diesem Moment erfährt Stiller die Spannung zwischen Realität und Rolle, will diese Rolle nicht in der Realität erfüllen müssen, auf die Gefahr hin als Hochstapler erkannt zu werden.[3] Er flieht vor der bevorstehenden Erkenntnis seiner Selbsttäuschung und seines Größenwahns nach Spanien. "Eines Tages erwachst du und liest es in der Zeitung, was die Welt von dir erwartet. Die Welt! [...] Es ist lächerlich. Aber da stehst du nun mit deinem Größenwahn - bis endlich, Gott sei Dank, so ein Spanischer Bürgerkrieg losgeht!" (III,612).

3. Der Kämpfer

Die Flucht nach Spanien hatte sicher mehrere Gründe, aber sie war „wenigstens zum Teil, eine Flucht vor sich selbst“ (III,489). Stiller hatte im Spanischen Bürgerkrieg einen Schießbefehl, den er nicht ausführte. Die Ereignisse in Spanien werden als „Anekdote“ (III,491) in Stillers Freundeskreis erzählt, wo sie lobend aufgenommen werden, und Stiller immer gut dastehen lassen. Die Spaniengeschichte stellt die Flucht vor der drohenden Kränkung des Selbstwertgefühls dar und zugleich die Erfahrung dieser Kränkung.[4] Denn Stiller wollte sich damals eigentlich „zeigen, daß er ein Kämpfer sei“ (III,600), deshalb nahm er nach der Niederlage[5] „es sich übel, kein Spanienkämpfer zu sein“ (III,669). Rolf, sein Staatsanwalt und Freund, erkennt gut Stillers Lage: “Zur Selbstüberforderung gehört unweigerlich eine falsche Art von schlechtem Gewissen“ (III,669). Stillers Ideal-Bild eines Mannes ist jedoch immer noch präsent. Sibylle „beichtet“ er als Grund, warum er damals nicht geschossen habe: "Weil ich ein Versager bin. Ganz einfach! Ich bin kein Mann" (III,615). Sibylle zeigt ihm auf, daß er versucht, einer Rolle zu entsprechen, die er gar nicht ist:

Du schämst dich, daß du so bist, wie du bist. Wer verlangt von dir, daß du ein Kämpfer bist, ein Krieger, einer, der schießen kann? Du hast dich nicht bewährt, findest du, damals in Spanien. Wer bestreitet es! Aber vielleicht hast du dich als jemand bewähren wollen, der du gar nicht bist - (III,616).

Das ist eine Wahrheit, die Stiller gerade nicht hören will.[6] Er weiß sehr wohl, das die Erkenntnis, daß man ein Problem hat immer schmerzhaft ist, und lehnt sie deshalb ab. "Stiller gefiel sich [...] in seiner Verwundung; er wollte nicht damit fertig werden. Er verschanzte sich. Er wollte nicht geliebt werden. Er hatte Angst davor" (III,617). Der Staatsanwalt zu Stillers Selbstbelügung: "Wir sehen wohl unsere Niederlage, aber begreifen sie nicht als Signale, als Konsequenzen eines verkehrten Strebens, eines Strebens weg von unserem Selbst. Merkwürdigerweise ist ja die Richtung unserer Eitelkeit nicht, wie es zu sein scheint, eine Richtung auf uns Selbst hin, sondern weg von unserem Selbst“ (III,669).

4. Der Ehemann

Stillers Ehe mit Julika ist, sachte ausgedrückt, keine leichte. Es handelt sich um eine ausweglose Beziehung im doppelten Sinn des Wortes. Sie ist ausweglos, sofern weder Julika noch Stiller ihr entgehen kann,[7] und sie ist ausweglos, weil sie mißlingen muß.[8] Stiller beschreibt seine Ehe bei seinem Trennungsgespräch mit Julika nach der gnadenlosen Selbstanalyse wie folgt:

Wäre nicht diese Niederlage in Spanien gewesen [...], wäre ich dir mit dem Gefühl begegnet, ein voller und richtiger Mann zu sein - ich hätte dich schon längst verlassen, Julika, vermutlich schon nach unserem ersten Kuß, und diese ganze jämmerliche Ehe wäre uns beiden erspart geblieben. [...] Ich bildete mir ein, du brauchst mich. Und deine Müdigkeit immer, deine Herbstzeitlosenblässe, dein Hang zum Kranksein, das war ja genau, was ich unbewußtermaßen brauchte, eine Schonungsbedürftige, um mir selbst um so kraftvoller vorzukommen. Eine gewöhnliche Geliebte zu haben, verstehst du, so ein gesundes und durchschnittliches Mädchen, das umarmt sein will und selber umarmen kann, nein, davor hatte ich Angst. Überhaupt war ich ja voll Angst! Ich machte dich zu meiner Bewährungsprobe. Und darum konnte ich dich auch nicht verlassen. Dich zum Blühen zu bringen, eine Aufgabe, die niemand sonst übernommen hatte, das war mein schlichter Wahnsinn. Dich zum Blühen zu bringen! Dafür machte ich mich verantwortlich - und dich machte ich krank, versteht sich, denn wozu solltest du gesund werden mit einem solchen Mann; die Angst, daß du an meiner Seite unglücklich würdest, fesselte mich ja stärker als irgend eine Art von Glück, die du zu geben hast (III,496f).

[...]


[1] Lüthi: Du sollst dir kein Bildnis machen (S. 10)

[2] Poser: Max Frisch. Stiller (S. 16)

[3] Lusser-Mertelsmann: Identitätsproblematik (S. 104)

[4] Lusser-Mertelsmann: Identitätsproblematik (S. 105)

[5] So bezeichnet Stiller dieses Ereignis nach seiner Selbstanalyse im letzten Gespräch mit Julika.

[6] Lüthi: Du sollst dir kein Bildnis machen (S. 63)

[7] Hier wird angedeutet, warum Stiller später wieder zurückkehren muß. Darauf wird noch einmal näher eingegangen.

[8] Petersen: Max Frisch. Stiller (S. 64)

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Identitätsproblematik in Max Frischs 'Stiller'
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
Prosatexte des 19. und 20. Jahrhunderts
Note
2
Autor
Jahr
1996
Seiten
18
Katalognummer
V29417
ISBN (eBook)
9783638309257
ISBN (Buch)
9783640203215
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Identitätsproblematik, Frischs, Stiller, Prosatexte, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
Kristian Klett (Autor:in), 1996, Identitätsproblematik in Max Frischs 'Stiller', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29417

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