Auffällige Stile der Jugend als Ergebnis gesellschaftlichen Wandels am Beispiel der Halbstarken in den 50er Jahren


Magisterarbeit, 2003

107 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen in der Nach- kriegszeit bis Mitte der 50er Jahre
2.1 Politische Entwicklung
2.2 Wirtschaftliche Entwicklung
2.3 Vom Mangel zum Konsum
2.4 Der Wandel gesellschaftlicher Grundwerte

3. Jugend und Jugendsubkulturen
3.1 Zum geschichtlichen Begriff "Jugend"
3.2 Klassifizierung der Lebensphase "Jugend"
3.3 Begriffsklärung "Jugendkultur" und "Jugendsubkultur"
3.4 Sozialwissenschaftliche Jugendtheorien
3.4.1 Die phänomenologische Gegenwartsanalyse der Jugend: Helmut Schelsky
3.4.2 Der funktionalistische Ansatz: Samuel N. Eisenstadt
3.4.3 Der handlungstheoretische Ansatz: Friedrich H. Tenbruck

4. Jugendstile in den 50er Jahren in Westdeutschland
4.1 Die Peer-Group als informelle Gruppe
4.2 Stile der Jugendkultur
4.2.1 Die Existentialisten
4.2.2 Die Teenager
4.2.3 Die Motorradjungs (Rocker)

5. Die Halbstarken der fünfziger Jahre
5.1 Vorläufer der Halbstarken in der Geschichte
5.2 Die soziale Herkunft der Halbstarken
5.3 Die Entwicklung eines eigenen Stils in Mode, Sprache und Habitus
5.4 Verhalten in der Freizeit
5.5 Das Leben in Banden
5.6 Die Reaktion der Medien auf Krawalle und Provokationen
5.7 Rock 'n' Roll und die Rolle der USA

6. Zusammenfassung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Thema dieser Arbeit ist die Jugendkultur der (west)deutschen Bundesrepublik der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Betrachtung soll die Gruppe der sogenannten Halbstarken stehen, an Zahl sicher nicht die größte der Jugendsubkulturen jener Zeit, möglicherweise aber ihre einflussreichste, was die Prägung von Stilen anbelangt, bestimmt auch in der Art, wie sie die öffentliche Meinung über "die Jugend" der Fünfziger bestimmte.

Das Interesse am Thema Jugendkultur bzw. Jugendsubkultur resultiert aus der Erkenntnis, dass sich jugendliche Verhaltensweisen offenbar zu allen Zeiten moderner Industriegesellschaften gruppenförmig herausbil- den, in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen und Einflüs- sen. Die Relevanz dieses Themas ist daher bis heute gegeben. Auch in der Folgezeit der fünfziger Jahre machten Jugendkulturen auf sich auf- merksam, seien es beispielsweise Punker oder Skinheads. Jede Gene- ration hat ihr "eigene" Jugendkultur, in der sich verschiedene Subkultu- ren wiederfinden. Während für die 60er Jahre die Beatgeneration als typische Vertreter dieser Zeit galten, wurden die 70er Jahre von den Blumenkindern oder den sog. Hippies dominiert. In den 80er Jahren sprach man von der Blütezeit der Punker, die trotz ihrer relativ geringen Gruppengröße, meist im öffentlichen Raum den Erwachsenen negativ auffielen. Die 90er Jahre gelten als das Jahrzehnt der Raver und Techno-Anhänger, die sich nach außen mittels der "Love-Parade" in Berlin darstellen - eine der größten organisierten öffentlichen Veranstal- tungen, die speziell auf die jugendliche Fangemeinde dieser Musikrich- tung zugeschnitten ist.

So unterschiedlich die Ausprägungen der einzelnen Stilrichtungen auch sind, es gibt wesentliche Gemeinsamkeiten, die alle Jugendsubkulturen aufweisen. Die Orientierung an Gleichaltrigen, die als Gruppe eine wichtige Funktion erfüllt, der hohe Stellenwert des Konsums (Kleidung, Musik etc.), sowie die Ausprägung eines eigenen Stils als Wiederer- kennungswert (Mode, Sprache etc.) sind bedeutende Merkmale von Jugendkultur.

In den fünfziger Jahren wurde die Herausbildung einer eigenständigen Jugendkultur erstmals verstärkt wahrgenommen und somit auch Ge- genstand wissenschaftlicher Forschung. Daher steht dieses Jahrzehnt, mit den Halbstarken als Subkultur im Mittelpunkt der vorliegenden Ar- beit.

Als eine der zentralen Thesen soll der Frage nachgegangen werden, ob insbesondere Zeiten ausgeprägten gesellschaftlichen Wandels das Entstehen von Jugendkulturen begünstigen und in welcher Weise dies geschieht. Die Jugendkulturen der fünfziger Jahre waren die ersten, die unter dem Einfluss einer sich in die westliche Parteiendemokratie der Nachkriegszeit hinein entwickelnden Gesellschaft entstanden - nach Jahren der Gleichschaltung der Jugend unter einer autoritären faschis- tischen Staatsform. Auch die Entwicklung einer konsumorientierten, Massengüter produzierenden Industriegesellschaft und die Suche nach moralischer und kultureller Identität kennzeichnen u. a. den heftigen gesellschaftlichen Wandel, der die fünfziger Jahre prägte und spannend machte. Letztlich war es nicht nur die Jugend, die ihre gesellschaftliche Position neu zu bestimmen hatte, diese Anforderung betraf alle damali- gen Generationen.

So sollen am Anfang dieser Arbeit die gesellschaftlichen Rahmenbe- dingungen der fünfziger Jahre untersucht werden. Wie gestalteten sich die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit bis zur Herausbildung der hier analysierten Jugendkulturen? Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sind diese entstanden? Welche Rolle spielten dabei wirtschaftlicher Aufschwung und beginnender Konsum? Welchen Wandlungsprozessen unterlagen Familie, Freizeitverhalten und Arbeitsprozess? Gab es einen Wertewandel, wie sah er aus und welchen Einfluss hatte er auf die Jugend jener Jahre?

Im folgenden Verlauf der Arbeit wird die jugendsoziologische Literatur untersucht nach notwendigen Begriffserklärungen und relevanten Ansätzen zum Thema Jugendkultur und Jugendsubkultur. Hier soll auch der Frage nachgegangen werden, seit wann die Jugend als eigenständige Lebensphase betrachtet wird, welche Definitionen auf "Jugendkultur" und "Jugendsubkultur" angewandt werden.

Im Hauptteil der Untersuchung wird hinterfragt, welche Gruppen und Stilrichtungen der Jugendkulturen in den fünfziger Jahre auftraten. Wel- che Rolle spielten z. B. Existentialisten, Teenager und Motorradjungs? Besonderes Augenmerk wird auf die Gruppe der Halbstarken verwandt, deren Existenz offensichtlich von erheblichem Einfluss auf die öffentli- che Diskussion über Jugend und Jugendfragen, Erziehung und gesell- schaftliche Werte war. Das Abgrenzen von gesellschaftlichen Normen, ihr "Anderssein" und ihre "Aufsässigkeit" bis hin zur Anwendung von Randale und Gewalt erschienen spektakulär und konfrontierte die sich neu formierende Nachkriegsgesellschaft zum ersten Mal mit dem Phä- nomen der Nichtanpassung einer gesellschaftlichen Gruppe, was offen- sichtlich zur Schockerfahrung führte und mit Unverständnis quittiert wurde. Aus welchen gesellschaftlichen Schichten rekrutierten sich die Halbstarken? Handelten sie bewusst "politisch", definierten sie ihre Ak- tionen als "Widerstand"? Nicht zuletzt scheint auch die Frage interes- sant, ob das Phänomen der Halbstarken in den fünfziger Jahre erstmals auftrat oder Vorläufer in der Geschichte hatte.

Inwiefern orientierten sich die Halbstarken an Mustern und Vorbildern, die über die neuen medialen Möglichkeiten des Freizeitkonsums (Film, Musik, Jugendzeitschriften) zugänglich waren? Offensichtlich spielten Idole, vor allem aus den USA, eine große Rolle bei der Orientierung der jungen Generation. Da das Auftreten der Gruppe der Halbstarken zu erheblichen Diskussionen unter den Erwachsenen über die Rolle und das Verhalten von Jugendlichen generell führte, wird hier auch der Fra- ge nachgegangen, welche Funktion die Medien bei der Beurteilung und ggf. Aufwertung des Phänomens "Halbstarke" ausübten.

Zum Schluss fasse ich die wesentlichen Erkenntnisse dieser Arbeit zusammen und stelle im Überblick dar, welche jugendlichen Subkulturen auf die der 50er Jahre folgten.

2. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen in der Nach- kriegszeit bis Mitte der 50er Jahre

Im folgenden soll beschrieben werden, welche Rahmenbedingungen die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger Jahre prägten, welche Entwicklung die Gesellschaft seit Kriegsende genommen hatte. Dies soll zeigen, welche politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnis- se die Generation vorfand, aus der heraus sich die Jugendkulturen je- ner Jahre entwickelten.

2.1 Politische Entwicklung

Mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 war die Naziherrschaft beendet und Deutschland stand vor der Aufgabe des politischen und gesellschaftlichen Neubeginns. Man spricht von der Stunde Null, die einen kompletten Neuanfang darstellen sollte - dennoch ist dieser Begriff weitgehend umstritten.

Zwar wurde der Diktatur unter Hitler, einschließlich seiner Idee von einem Großdeutschland und seinen Vorstellungen von einer deutschen Gesellschaft, durch Intervention der Alliierten ein Ende bereitet, etliche Politiker und Wirtschaftsführer aus der Nazizeit hatten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft jedoch weiterhin Einfluss.

Die Anstrengungen der Alliierten, Deutschland zu entnazifizieren, blie- ben aufgrund des kaum zu bewältigenden Verwaltungsaufwands eher halbherzig. Die vier Siegermächte bildeten 1945 den Internationalen Mi- litärgerichtshof in Nürnberg, um die Hauptkriegsverbrecher zu verurtei- len. Anfang Oktober 1946 wurden die hauptverantwortlichen NS- Größen des Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Völkermord schuldig gesprochen. Die Organisationen NSDAP, SS, Gestapo und der Ge- heimdienst der SS (SD) wurden verboten, jedoch wurden deren Mitglie- der ohne Nachweis persönlicher Schuld nicht strafrechtlich verfolgt.1

Die Alliierten setzten sich zum Ziel, neben den Nazigrößen alle Mitglie- der der damaligen NS-Organisationen zu bestrafen. Dass dieses Vor- haben nicht vollends gelingen sollte, zeigen die weiteren Ausführungen.

Bis September 1945 waren in der amerikanischen Zone 66.500 und in der britischen Zone bis Ende desselben Jahres 70.000 Personen in Haft. Durch Druck der englischen Öffentlichkeit erhielten 1946 zwei Drit- tel der von den Briten Inhaftierten ein verkürztes Verfahren und wurden wieder frei gelassen. Zahlreiche Strafverfahren verzögerten sich. Die Alliierten wollten den Abschluss der Nürnberger Prozesse abwarten, um die Schwere der Schuld hinsichtlich der Zugehörigkeit zu den verschie- denen Organisationen besser einschätzen zu können. Im Herbst 1947 kam aus Washington die Aufforderung, die Strafverfahren bis zum Frühjahr 1948 abzuschließen. Um dem Zeitdruck gerecht zu werden, wurden von der Militärregierung neue Bestimmungen erlassen, wobei sich die Zahl der zu Verurteilenden von 750.000 auf 250.000 reduzierte.

Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus der hohen Zahl der Mitglie- der der NSDAP und deren Unterorganisationen. Wollte man alle entna- zifizieren, bezog sich dies auf ca. ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der BRD. Da viele Richter vorher nationalsozialistisch organisiert wa- ren, gab es einen großen Mangel an unbelasteten Personen innerhalb der Gerichtsbarkeit. Viele Richter waren zum Teil selbst Angeklagte. In Bayern wurden unter Minister Pfeiffer ca. 60 Prozent derer, die eigent- lich als "Hauptschuldige" hätten eingestuft werden müssen, entweder als "Entlastete" oder als "Mitläufer" eingestuft und kamen so mit gerin- gen Geldstrafen davon.2

In der Literatur ist gar von einer Restauration der Wirtschafts- und Ge- sellschaftsordnung die Rede. So wird das Jahr 1945 als wesentliche Zäsur in der deutschen Geschichte bezeichnet, nicht jedoch als die viel- fach so genannte "Stunde Null". Zwar war der deutsche Faschismus besiegt, eine Gesellschaftsordnung auf der Basis systemverändernder Maßnahmen als Alternative jedoch nicht opportun, insbesondere wegen der politischen und ökonomischen Interessenlage der USA, die auf eine Restauration des Kapitalismus in Deutschland gerichtet war.3

Nachdem das Deutsche Reich am 8. Mai 1945 kapituliert hatte, erhiel- ten die Siegerstaaten die oberste Regierungsgewalt. Das verbliebene Gebiet wurde in eine amerikanische, britische, französische und sowje- tische Besatzungszone aufgeteilt. In Berlin wurde der Alliierte Kontroll- rat gebildet, der von den vier Mächten die gemeinschaftliche Verwal- tung Deutschlands übernehmen sollte. Im März 1948 brach dieser je- doch aufgrund der zunehmenden ideologischen und machtpolitischen Spannungen zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion auseinander. Am 1.1.1947 wurden die amerikanische und die britische Zone zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet der Bizone zusammen ge- schlossen, 1949 folgte ihnen die französische Zone. Aus diesem Gebiet der drei Westmächte -Trizone genannt- wurde später die BRD, während auf dem Gebiet der sowjetischen Zone die DDR entstand.4

Die Situation im besetzten Deutschland war in hohem Maße von den Beziehungen zwischen den Siegerstaaten abhängig. Insbesondere zwi- schen den westlichen Staaten auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite.5 Anfang 1947 entwickelte sich der sogenannte Kalte Krieg, der entscheidend sein sollte für die weitere Entwicklung Deutsch- lands. Die amerikanische und die sowjetische Regierung standen sich mit unvereinbaren Vorstellungen über die Staatsform Deutschlands ge- genüber. Der damalige amerikanische Präsident Truman sah den Kommunismus in der Sowjetunion als Gefahr, die in Schach gehalten werden musste.

1946 wurde die Versorgung der Bevölkerung immer schlechter, der Zuwachs der Industrieproduktion kam zum Stillstand, 1947 wurde er sogar rückläufig. Ein Grund dafür waren die Reparationen, die Deutsch- land zu zahlen hatte. Die Sowjets forderten insgesamt 20 Milliarden Dollar, von denen die Hälfte Rußland zugute kommen sollte. Die USA warnten davor, zu hohe Forderungen an Deutschland zu stellen, die nur durch amerikanische Anleihen gesichert werden könnten.6 Aus den schlechten wirtschaftlichen Bedingungen und der inkonsequenten Ver- wirklichung der Potsdamer Beschlüsse entwickelte sich Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die Potsdamer Konferenz zwischen den USA, Eng- land und der Sowjetunion hatte im Juli und August 1945 u. a. die Aus- handlung einer Nachkriegsordnung Deutschlands zum Inhalt, ein- schließlich seiner Behandlung als wirtschaftliche Einheit.

"Wir waren fest davon überzeugt, daß die erzielten Beschlüsse eine Grundlage für die baldige Wiederherstellung dauerhafter Verhältnisse in Europa bildeten. Tatsächlich haben die Beschlüsse die Konferenz zu einem Erfolg gemacht, aber die Verletzung dieser Beschlüsse verwandelte den Erfolg zu einem Fehlschlag."7

Frankreich war nicht zur Potsdamer Konferenz hinzu gezogen worden. Als Konsequenz daraus akzeptierte die französische Regierung unter dem Vorsitz von Charles de Gaulle das Abkommen nur zum Teil. Auf- grund von Vorbehalten gegenüber der geplanten Zentralverwaltung sperrte Frankreich seine Zone für Flüchtlinge und Vertriebene und strebte eine Abtrennung des Saargebietes und eine Internationalisie- rung der Ruhr an. Im Wesentlichen sollte die Einrichtung einer deut- schen Zentralgewalt am französischen Widerstand scheitern.8

Bald folgten politische Auseinandersetzungen, Arbeitskämpfe und De- monstrationen. Höhepunkt war ein Streik von 300.000 Bergarbeitern im Ruhrgebiet 1947. Die Forderungen waren eine Besetzung der Ernäh- rungs- und Wirtschaftsämter mit demokratischen Kräften, eine gerechte Erfassung und Verteilung der Lebensmittel, Bestrafung der Schwarzarbeiter und Schieber, sowie Sozialisierungsmaßnahmen.9

In den Parteiprogrammen der Nachkriegsjahre widerspiegelt sich eine gegenüber dem kapitalistischen Wirtschaftssystem kritische Haltung, die den nach dem Krieg verbreiteten Wunsch nach einer politischen Neuordnung reflektierte. Die SPD griff nach dem Krieg bis zum Ende der 50er Jahre auf ihr noch in der Weimarer Republik 1925 verabschie- detes Heidelberger Programm zurück, das als klassisch reformistisch- sozialistisches Programm galt.10 Damit war gemeint: Auf der einen Sei- te enthielt es eine Klassenanalyse der kapitalistischen Gesellschaft, die den Sozialismus als Zielstadium definierte, auf der anderen Seite, strikt davon getrennt, enthielt es Sofortforderungen, die innerhalb des kapita- listischen Systems verwirklichbar waren. Erst 1959 wurde das Godes- berger Programm beschlossen, mit dem die SPD sich auf die Grundla- ge der sozialen Marktwirtschaft bewegte. Während im Heidelberger Programm gefordert wurde: "Das Ziel der Arbeiterklasse kann nur er- reicht werden durch die Verwandlung des kapitalistischen Privateigen- tums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum", erklär- te das Godesberger Programm: "Das private Eigentum an Produkti- onsmitteln hat Anspruch auf Schutz und Förderung, soweit es nicht den Aufbau einer gerechten Sozialordnung hindert". Das Programm "bejaht [...] den freien Markt".11

Auch in der CDU waren in den Jahren nach dem Krieg kapitalismuskri- tische Diskussionen programmbestimmend. Im Ahlener Wirtschaftspro- gramm vom 3. Februar 1947 wurde festgehalten, dass Gewinn- und Machtstreben im kapitalistischen Wirtschaftssystem dem deutschen Volk nicht gerecht werde, sondern eine soziale und wirtschaftliche Neu- ordnung dem Volk dienen soll.12 Auch die CDU forderte die Vergesell- schaftung zumindest des Bergbaus und der eisenschaffenden Industrie.

Auch auf der Ebene der ersten Länderverfassungen kam diese kapita- lismuskritische Haltung der Parteien zum Ausdruck, insbesondere in der hessischen, die hier exemplarisch Erwähnung finden soll. Sie for- dert mit der Volksabstimmung in 1946 auch die soziale Einbindung des Wirtschaftslebens und einen weitreichenden Schutz des Faktors Arbeit ein. Sie erkennt ausdrücklich das Streikrecht an, verbietet dagegen a- ber die Aussperrung.13 Für alle Angestellten, Arbeiter und Beamten soll- te ein einheitliches Arbeitsrecht geschaffen werden. Betriebsvertretun- gen sollten gegenüber Unternehmern in sozialen, personellen und wirt- schaftlichen Fragen gleichberechtigte Mitbestimmungsrechte zustehen. Weite Teile der Schlüsselindustrien (Bergbau und Energie, Eisen und Stahl) sowie das schienen- bzw. leitungsgebundene Verkehrswesen wurden mit dem Inkrafttreten der Verfassung als in Gemeineigentum überführt erklärt. Die hier verkündete Sofortsozialisierung sollte wenig später aufgrund alliierter Einflussnahme und folgender Reprivatisierung realpolitisch gegenstandslos werden, andere soziale und wirtschaftliche Gestaltungsansprüche wurden durch neugeschaffenes Bundesrecht begrenzt. Dennoch kennzeichnen diese Formulierungen in Parteipro- grammen und Verfassungen die in diesen Jahren noch weit verbreitete Suche nach einer alternativen politischen und wirtschaftlichen Ordnung.

Die USA entwickelte 1947 den sogenannten Marshall-Plan, der auf "...die Wiederbelebung einer funktionierenden Wirtschaft [zielte], damit die Entstehung politischer und sozialer Bedingungen ermöglicht wird, unter denen freie Institutionen existieren können..."14

Die Bundesrepublik arbeitete energisch am ökonomischen Wiederauf- bau. Vorherrschend war dabei die Anlehnung an die Westmächte, insbesondere die USA, um ökonomische Benachteiligungen zu besei- tigen. Es gab materielle und ideelle Aufbauhilfen für die westliche Industrie.

Die USA verfolgten das Interesse, Westdeutschlands außenpolitische Situation zu verbessern und diesen Staat in das westeuropäische Bündnissystem einzugliedern. Das bedeutete die Aufnahme der BRD in den Europarat, sowie das Abkommen mit den USA über die "Marshall- Plan-Hilfe". Die BRD durfte nun wieder Konsular- und Handelsbe- ziehungen betreiben.15

Nach Kriegsende war das deutsche Geldvolumen auf 300 Milliarden Reichsmark (RM) angewachsen. Zusätzlich hatten die Besatzungs- mächte eigenes Geld gedruckt. Es mußte eine Entscheidung getroffen werden, um Wirtschaft und Gesellschaft auf eine langfristig gültige Grundlage zu stellen. Dem unkontrollierbaren Umfang an Geld stand kein Warenangebot gegenüber. Der Schwarzmarkt florierte und neben- her entstand die sogenannte Zigaretten-Währung (1 Zigarette = 7 RM). Beginnende Gespräche der Besatzungsmächte über die Zukunft der Währung sollten eine Regelung für das Geldwesen finden. Die Sowjets waren anfangs beteiligt, sollten sich aber im weiteren Verlauf absplitten. Am 18. Juni 1948 wurde durch das Währungsgesetz die "Deutsche Mark" in Westdeutschland eingeführt. Im Oktober schließlich regelte das Festkontengesetz die endgültige Höhe alter Bankguthaben in neuer Währung.16 Es gab jedoch auch Nachteile, die eine Enteignung für Bar- geldbesitzer darstellten. Deren Guthaben wurde im Verhältnis von 1:6,5 umgetauscht, was viele für ungerecht hielten, denn Sachwerte und Ak- tien wurden im Verhältnis 1:1 umgetauscht. Trotz allem entwickelte sich ein Vertrauen in die neue Währung, denn es entstand ein Gleichgewicht zwischen der monetären Nachfrage und dem Warenangebot. Über

Nacht füllten sich die Schaufenster, und die Grundlage für wirtschaftli- ches Wachstum war geschaffen.

Auf oberster Ebene begann die Weichenstellung für die doppelte Staatsgründung. Stalin verfolgte eine Strategie in zwei Richtungen. Ei- nerseits machte er sich für die deutsche Einheit stark, um sich eine poli- tische Mitsprache und wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, anderer- seits setzte er in der eigenen Zone tief greifende gesellschaftliche Ver- änderungen durch, die eine Auseinanderentwicklung der Besatzungs- zonen verstärkten.

Der neu gegründete parlamentarische Rat verabschiedete Anfang Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Nach Zu- stimmung der Besatzungsmächte wurde von allen Länderparlamenten die bindende Kraft des Grundgesetzes anerkannt. Die Bundesrepublik Deutschland galt offiziell am 24. Mai 1949 als gegründet, wenn auch noch unter westalliierter Aufsicht. Die ersten Wahlen zum Bundestag fanden am 14. August 1949 statt. Aus der Wahl vom 14. August 1949 ging die CDU mit dem Vorsitzenden Konrad Adenauer als Sieger her- vor. Am 15. September 1949 wurde Konrad Adenauer zum ersten deut- schen Bundeskanzler gewählt.17

In der sowjetischen Zone erhielten die SED-Führer Ende 1948 die Zu- stimmung Stalins für die Staatsgründung. Das Ziel, ohne freie Wahlen, auf der Basis einer manipulierten Einheitsliste, die Macht zu erreichen, gelang schließlich mit Hilfe Stalins, der die Wahlen so lang verschob, bis die SED die bürgerlichen Parteien unter Kontrolle hatte. Am 7. Ok- tober 1949 entstand die Deutsche Demokratische Republik unter der Leitung der Provisorischen Volkskammer.18 Mit der BRD und der DDR waren auf diese Weise zwei separate deutsche Staaten entstanden.

Eines der beherrschenden politischen Themen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und nach der Gründung der BRD war die Remilitarisie- rung. Das am 22. November 1949 beschlossene Petersberger Abkom- men enthielt zunächst die Aufrechterhaltung der Entmilitarisierung der Bundesrepublik. Zu schwer wogen die Erfahrungen des Faschismus und des Krieges, so dass es unmöglich erschien, Deutschland wieder aufzurüsten. Weite Teile der Bevölkerung lehnten zudem eine Wiederbewaffnung ab. Dies belegt u. a. eine Meinungsumfrage der Konstanzer Wochenzeitung im Oktober 1950. Über 16.000 Leser antworteten auf folgende Fragen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Tabelle 1, Quelle: Siepmann, E., 1986, S. 94)

Im Jahr 1950 brach der Korea-Krieg aus. Das kommunistische Nordko- rea fiel in Südkorea ein und verschärfte somit auch die Sorge in Deutschland über die innere Sicherheit. Der Ost-West-Konflikt bekam eine verstärkte Brisanz. Das beschleunigte den westeuropäisch- amerikanischen Entscheidungsprozess zugunsten eines militärischen Bündnisses gegen die Sowjetunion. In der westdeutschen Bevölkerung entstand die Furcht vor einem Überfall Ostdeutschlands. Die übrigen westeuropäischen Länder stellten nun ihre Bedenken gegen die Wie- derbewaffnung der Bundesrepublik zurück. Adenauer konnte seine Forderungen für eine Remilitarisierung im Bundestag durchsetzen. 1952 erklärten die Westmächte im sogenannten Deutschland-Vertrag ihr Einverständnis, das Besatzungsregime zu beenden. Die Realisie- rung dieses Vertrages und die Aufnahme der BRD in die NATO zog sich aufgrund Frankreichs Widerstand bis 1955 hin. Schließlich einigte man sich auf eine Streitkraft von höchstens 500.000 Mann und den Verzicht auf die Produktion und die Nutzung von ABC-Waffen.19

Folgende Ziele dienten als Begründung für die Wiederbewaffnung der BRD:

- Die Erlangung der Souveränität als Folge der Wiederaufrüstung
- Sicherheit gegenüber der Aufrüstung der Sowjetzone durch Sowjetrußland
- Herbeiführung einer europäischen Föderation.20

Die Reaktion der Bevölkerung spiegelte sich in einer "Ohne-uns- Bewegung" und dem Entstehen von Widerstandsgruppen, die sich in zahlreichen Demonstrationen gegen eine Wiederaufrüstung Deutschlands auflehnten.21 Das Bundesinnenministerium zählte 175 Vereinigungen, die gegen die Wiederaufrüstung kämpften. Unter ihnen befanden sich Gruppen wie der "Darmstädter Aktionskreis gegen Militarisierung" oder der "Nauheimer Kreis", für den sich besonders der Geschichtsprofessor Ulrich Noack einsetzte.

1951 wurde in Essen ein Friedenskongress der Wiederaufrüstungsgeg- ner durchgeführt. Schwerpunkt war die Entscheidung über eine Volks- abstimmung. Trotz eines Verbots der Regierung wurden unter diesen erschwerten Bedingungen Befragungen zur Wiederaufrüstung durchge- führt. Zwar war der Widerstand in der Bevölkerung durchaus relevant, größere Auswirkungen hatte er jedoch nicht. Fehlende Vereinheitli- chung der Gruppen nahmen jeglichen politischen Einfluss.22

Schritt für Schritt wurde von der Regierung auf die Remilitarisierung hingearbeitet und wurden restriktive Maßnahmen gegen Gegner und Widerstandsgruppen vorgenommen. Mitgliedern der KPD, der FDJ, des demokratischen Frauenbundes und aus anderen Widerstandsorganisa- tionen wurde 1950 der Eintritt in den öffentlichen Dienst untersagt.

Die drei westlichen Außenminister genehmigten für die BRD mobile Polizeikräfte und bald darauf entstand eine kasernierte Bereitschaftspolizei mit einer Stärke von 10.000 Mann. 1951 wurde das Gesetz über den Bundesgrenzschutz verabschiedet.23 Es folgte das Verbot der FDJ. Das sogenannte Blitzgesetz (innerhalb von 3 Tagen verabschiedet) ermöglichte durch weit gefasste Formulierungen den Gerichten, jede Kritik an der Regierung unter Strafe zu stellen.24

Diese Entwicklung vollzog sich zeitlich parallel zu jenem gesellschaftlichen Prozess in den USA, der später "McCarthyismus" genannt wurde. Senator McCarthy hatte dort 1950 in einer Rede behauptet, er kenne 205 Kommunisten im höheren Staatsdienst der USA, die Schuld an Amerikas Misserfolgen trügen. Damit leitete er eine Verfolgungswelle gegen liberale und demokratische Kräfte in den USA ein.

Auch in Westdeutschland entwickelte sich ein langsames Verdrängen fortschrittlicher und demokratischer Kräfte. Im Dezember 1954 wurde in der Neun-Mächte-Konferenz in Paris die Aufrüstung der deutschen Bundeswehr beschlossen.

2.2 Wirtschaftliche Entwicklung

Die wirtschaftliche Entwicklung nahm in den 50er Jahren durch Unterstützung der USA eine stetige Aufwärtsentwicklung und brachte somit eine erhebliche Verbesserung des alltäglichen Lebens in westdeutschen Familien. Die Verlauf des sogenannten Wirtschaftswunders soll im folgenden Abschnitt beschrieben werden.

Die USA und Deutschland einigten sich im Dezember 1949 über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit, die in den folgenden Jahren finanzielle und materielle Unterstützung der USA für Deutschland sicherte. Die Vereinbarungen über den sogenannten "Marshall-Plan" sollten bessere wirtschaftliche Verhältnisse und stabile internationale Beziehungen er- möglichen. Bis 1952 erhielt die BRD 6,5 Milliarden DM als Wirtschafts- hilfe in Form von Waren.25 Jürgen Weber erkennt in der Durchsetzung des Marshall-Plans auch einen "psychologischen" Aspekt: die Förde- rung der Hinwendung der Deutschen zu den westlichen Demokratien.26

Die folgende Tabelle zeigt die genaue Größenordnung der Mittel:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2, Quelle: Neebe, R. ,1990, S. 16; Angaben in 1.000$

Die höchsten Werte an Warentransferleistungen wurden in den Jahren 1948-51 erbracht, bei Industriegütern mit kontinuierlich steigender Ten- denz. Ab 1951/52 reduzierte sich die auf diesem Weg erfolgte Wirt- schaftshilfe signifikant.

Das Ziel eines gemeinsamen europäischen Marktes wurde durch einen Plan des französischen Außenministers Schuman vorangetrieben. Die- ses Ziel bezog sich vorerst auf die Montanindustrie. Alle beteiligten Länder sollten gleichmäßig an der Produktion von Kohle, Eisenerz, Stahl und Schrott beteiligt sein. Die Entstehung der Europäischen Ge- meinschaft für Kohle und Stahl (EKGS) war ein weiterer Schritt zur poli- tischen Gleichberechtigung der Bundesrepublik.27 Die SPD forderte als Grundbedingung für eine EKGS die Überführung der Schlüsselindust- rien in Gemeineigentum und die Mitbestimmung von Arbeitern und An- gestellten, um eine mögliche Kartellbildung zu verhindern. Adenauer, der das EKGS-Projekt verwirklichen, aber die angekündigten Streiks der vom DGB mobilisierten Mitglieder verhindern wollte, stimmte nach Verhandlungen einer paritätischen Mitbestimmung zu. Der EKGS- Vertrag wurde im Januar 1952 im Bundestag angenommen.28 Bald zeigten sich erste Auswirkungen der EKGS. Die Stahlproduktion stei- gerte sich im Zeitraum 1950-1955 von 11,8 Millionen auf 21,3 Millionen Tonnen. Die vorstehend beschriebenen Ankurbelungsimpulse bewirk- ten insgesamt ein erhebliches Wirtschaftswachstum.

Verstärkt wurde diese Entwicklung durch wirtschaftliche Folgen des Ko- rea-Krieges, der im Juni 1950 begann. Dieser sogenannte "Korea- Boom" beschleunigte die Internationalisierung des Kapitaltransfers in erheblichem Maße29. Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die Bun- desrepublik waren gravierend und kamen unerwartet. Warum kam der Korea-Boom gerade Westdeutschland zugute? Ursache war, dass durch den Kriegsausbruch der Bedarf an Rohstoffen auf den Weltmärk- ten erheblich angestiegen war. Dadurch stiegen auch die Preise (in den ersten fünf Kriegs-Monaten allein um 13 Prozent). Auch für industrielle Erzeugnisse stiegen die Preise (um 22 Prozent). In vielen außerdeut- schen Ländern arbeitete die Industrie in erhöhtem Maße für die Rüs- tung, so dass die deutsche Industrie mit ihren zivilen Erzeugnissen auf den Weltmärkten vordringen konnte. Die westdeutsche Produktion stieg in den Monaten nach Beginn des Koreakrieges jeweils um sieben Pro- zent, die Zahl der Arbeitslosen reduzierte sich erheblich. Mehr oder we- niger unbeabsichtigt wurde die Bundesrepublik zum wirtschaftlichen Nutznießer der Weltkrise.

Das Jahr 1950 kann man als das erste Boom-Jahr bezeichnen, mit ei- nem Wirtschaftswachstum von 16,4 Prozent. Dann schwächt die Kon- junktur etwas ab, bleibt aber weiterhin auf einem hohem Niveau. 1955 erlebt Deutschland den zweiten Boom mit einer Wachstumsrate von 11,8 Prozent. In den weiteren fünf Jahren bleibt das Wachstum relativ stabil und erreicht 1960 mit einer Rate von 8,8 Prozent einen weiteren Spitzenwert. Insgesamt geht das Wachstum im Verlauf der fünfziger Jahre zurück, hatte aber in diesem ersten Jahrzehnt der Bundesrepu- blik ein Niveau, das in späteren Jahren nie wieder erreicht wurde. Dies erklärt sich im wesentlichen durch den wirtschaftlichen Nachholbedarf. Erst 1967 erfolgte eine erste Rezession mit einem "Minuswachstum".30

Betrachtet man die Umsatzentwicklung ausgewählter Industriezweige im Zeitraum der 50er Jahre, so wiesen die Ernährungsindustrie, der Maschinenbau, die chemische Industrie, die Elektroindustrie und der Fahrzeugbau die größten Steigerungsraten auf.31 Der Index der Indust- rieproduktion stieg allein in den Jahren 1950 bis 1955 von 100 auf den Wert 178.32

Erheblichen Einfluss hatte die rasche Entfaltung der Wirtschaft auf die Zahl der Erwerbstätigen. Von 1950 bis 1955 sank der Anteil der Arbeits- losen von 10,3 Prozent auf 5,1Prozent.33 Ab Mitte der 50er Jahre sank die Zahl der Arbeitslosen weiter, bis Mitte der 60er Jahre nahezu Voll- beschäftigung erreicht war.34 In dem Maße, wie man sich der Vollbeschäftigung näherte, wurde es nötig, über den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte nachzudenken, was bereits 1955 zum ersten Anwerbevertrag mit Italien führte.35

Zusammenfassend kann man sagen, dass mehrere Faktoren die Reor- ganisation der kapitalistischen Wirtschaft begünstigten. Dazu gehören:

- amerikanische technologische Innovationen und amerikanisches Anlagekapital
- die von den USA entwickelte Währungsreform, die als Stütze des Kapitals diente
- steuer- und kreditpolitische Maßnahmen zugunsten von Unterneh- men
- niedriges Lohnniveau
- eine allgemeine starke Nachfrage im In- und Ausland, die aufgrund der Kriegszerstörungen Absatzmärkte garantierte.

Für die USA war es von großem eigenem Interesse, Deutschland in die Weltwirtschaft zu integrieren.

"Erst wenn Europa wieder zu einem zahlungsfähigen Kunden geworden sei, könne es in das System der >wachsenden Weltwirtschaft< eingeschaltet werden."36

Da die USA den Höhepunkt ihrer Produktion überschritten hatten und massive Rückgänge befürchten mussten, kam der Marshall-Plan zum richtigen Zeitpunkt. Durch Exporte nach Deutschland konnte die eigene Wirtschaft gesichert werden.37

Das Wirtschaftswachstum der 50er Jahre kam neben anderen Bevölke- rungsgruppen auch den Jugendlichen zugute, die sich mehr Freiräume erobern konnten und somit erstmals zu Konsumenten "in eigener Sache" wurden. Sie erlangten eine gewisse Selbstständigkeit und waren in der Lage, eine eigene jugendliche Identität zu entwickeln, die sich u. a. durch Mode, Musik und Sprache ausdrückte.

2.3 Vom Mangel zum Konsum

Nicht nur, dass die Nationalsozialisten nach sechs Jahren Krieg eine zerrüttete Ernährungswirtschaft hinterließen, auch durch die Teilung des ehemaligen Reichsgebietes in vier Besatzungszonen zerriss nach Ende des Krieges die ernährungswirtschaftliche Ökonomie. Kalte Win- ter Ende der 40er Jahre und unbrauchbare Transportmittel verschärften die Situation für die Bevölkerung. Tauschen, Organisieren, Hamstern waren die Tätigkeiten der Menschen - der Schwarzmarkt war die gängi- ge Form der Bedürfnisdeckung jener Jahre. M. Wildt stellt fest: "Die Verwandlung der illegalen Marktökonomie in eine legale konnte (...) erst in dem Augenblick gelingen, in dem genügend Waren, vor allem Le- bensmittel, vorhanden waren, um die gesamte Bevölkerung ausrei- chend zu versorgen und die Preise auf einem erschwinglichen Niveau zu halten."38

Am 20. Juni 1948 kam es zu jenem denkwürdigen Effekt, von dem eine ganze Generation später oft erzählte: Die Währungsreform bescherte über Nacht volle Schaufenster, vor denen sich die Menschen die Nasen plattdrückten. Insbesondere in der Lebensmittelproduktion wurden zu- vor in Erwartung der Einführung einer neuen Währung die Güter gehor- tet. Die vollen Schaufenster halfen den Westdeutschen zunächst aller- dings wenig: 40,- DM im Juni, später, im August, noch einmal 20,- DM "Kopfgeld" hinzu, reichten nicht hin, um "große Sprünge zu machen".

"Hatte die Westdeutschen in den Umfragen der US-Militärregierung in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Sorge nach Lebensmitteln, Kleidung, Schuhen, Angst um vermisste Personen am meisten beschäftigt, focussierten nun alle Sorgen in einer einzigen: der ums Geld."39

Während die gesellschaftlichen Entwicklungen der fünfziger Jahre ohne das Wissen um die Kriegs- und Nachkriegszeit nicht zu erklären sind, vertritt Wildt die These, dass hinsichtlich des erlebten Mangels und des Umgangs mit Markt, Geld und Währungen die Erfahrungen der Men- schen letztlich durch die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ge- prägt waren. Inflation, Arbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise nach dem ersten Weltkrieg, Rationierungen und Hunger waren im 2. Welt- krieg und danach nicht neu. Nicht nur für die jungen Menschen Ein- gangs der fünfziger Jahre war die Ausnahmesituation der Rationie- rungs- und Tauschwirtschaft, "als deren Warenäquivalent nicht das Geld, sondern Bezugsscheine oder Zigaretten fungierten, zur alltägli- chen Gewohnheit geworden"40 - auch die vorangegangen Generationen waren von der dauerhaften Erfahrung des Mangels und des "Sich- durchschlagen-Müssens" geprägt. Erst in der ersten Hälfte der 50er Jahre erreichte der reale private Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung wieder ein Niveau, das zur Bedürfnisbefriedigung beitrug.41 Die wesent- liche Zäsur kam erst in den späten fünfziger Jahren, mit dem, was als "Wirtschaftswunder" in die Geschichte Nachkriegsdeutschlands einging.

Bei den Lebenshaltungskosten nahmen die Ausgaben für Nahrungsmit- tel Anfang der fünfziger Jahre noch den größten Anteil ein, er ging im Verlauf der 50er Jahre zurück, zugunsten von Ausgaben für Genussmit- tel, zunehmend auch für Kleidung. Ebenso stiegen die Ausgaben für Wohnung, Hausrat und Körper- und Gesundheitspflege. Mehr Geld wurde auch für Freizeit und Unterhaltung ausgegeben. Das Kino war das beliebteste Freizeitunternehmen der 50er Jahre, erlitt am Ende die- ses Jahrzehnts jedoch schon einen erheblichen Einbruch - durch den beginnenden Erfolg des Fernsehens. Jedenfalls wird der Kinobesuch, vor allem auch im Rahmen der Freizeitgestaltung jugendlicher Cliquen, im Verlauf dieser Arbeit noch eine gewichtige Rolle bei der Erklärung der Übernahme von Vorbildern in Mode und Kleidung, Musik und Verhalten für Jugendliche spielen.

Die Steigerungsraten des realen Bruttosozialprodukts waren Mitte der 50er Jahre auf einem Höhepunkt angelangt, die Privatnachfrage sorgte für konjunkturelle Schübe. Am Ende des Jahrzehnts war der Nachhol- bedarf der Privatverbraucher weitgehend gedeckt. Die sogenannte "Fresswelle", aber auch eine "Wohnwelle", die zur Neu-Möblierung der Haushalte führte und u. a. mit Nierentisch und Cocktailsessel den Stil der 50er Jahre prägte, fallen in diese Zeit. Es schloss sich eine "Motori- sierungswelle" an, die in den Jahren 1954-1957 zu einer Verdoppelung der Kraftfahrzeuge auf 5 Millionen beitrug.

Urlaub konnte man sich in den fünfziger Jahren noch kaum leisten, die Ausgaben dafür stiegen erst in den 60er Jahren auf relevante Größen- ordnungen. Von steigender Bedeutung wurde für die Gesellschaft der fünfziger Jahre dennoch die Mobilität - die Ausgaben für alle Arten von individuellen Verkehrsmitteln stiegen bis Ende der fünfziger Jahre stark an, einschließlich der Zahl der Pkws, wie oben bereits dargestellt.42

Verbrauchsstruktur eines 4-Personen-Arbeitnehmerhaushalts 1950-1965:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Tab. 3 Quelle: Statistisches Jahrbuch für die BRD, versch. Jahrgänge passim., in: Abelshauser, W., 1987, S. 88).

Die in den 50er Jahren steigende Sparquote mag ebenfalls als Beleg für die wachsenden Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung dienen. Steigende Anteile des verfügbaren Einkommens konnten "auf die Seite gelegt" und somit angespart werden, u. a. um sich größere Ausgaben wie Wohnungseinrichtung, Pkw und andere Konsumartikel leisten zu können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Tab. 4 Quelle: www.frido-boerner.de/frido/wirtschaft/derzweitezyklus1954-1958.htm).

Viele Privathaushalte kamen im Zeitraum der 50er Jahre in den Genuss neuer sozialer Leistungen des Staates: Ein erstes Kindergeldgesetz wurde wirksam und über das "Honnefer Modell" konnten Schüler und Studenten gefördert werden. Auch diese Maßnahmen trugen zur finan- ziellen Besserstellung von Privathaushalten bei, zumindest derjenigen, die über Kinder verfügten.

Resümierend kann festgehalten werden, dass die fünfziger Jahre den Startpunkt dafür markieren, was später Konsumgesellschaft genannt werden wird. Sie brachten die Voraussetzungen dafür einerseits mittels der beginnenden wirtschaftlichen Prosperität in Deutschland, andererseits durch einen beginnenden gesellschaftlichen Wertewandel, der nachfolgend beschrieben werden soll.

[...]


1 Weber, J. (2002), S. 13.

2 Huster, E.-U. u. a. (1972), S. 51ff.

3 ders. S. 69.

4 Neebe, R. (1990), S. 9.

5 Siepmann, E. (1986), S.23. zit n. Theissen, H., Die Vorgeschichte der 50er Jahre.

6 Lilge, H. (1967), S. 8-9.

7 Rede in Stuttgart von James F. Byrnes, amerikanischer Außenminister zit. n. Lilge, H. (1967), S. 10.

8 Lilge, H. (1967), S. 10.

9 Siepmann, E. (1986), S. 38.

10 Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen auf dem Parteitag Heidelberg 1926 (1976) in: Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1931, S. 316ff.

11 Vorstand der SPD, Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bad Godesberg vom 13.-15. November 1959.

12 Siepmann, E. (1986), S. 38.

13 Andersen, U./W. Woyke Hg. (2000), S. 41.

14 ebd., S. 39.

15 ders., S. 88.

16 Lilge, H. (1967), S. 45.

17 Neebe, R. (1990), S. 4.

18 Weber, J. (2002), S. 42ff.

19 Weber, J. (2002), S.60f.

20 Siepmann, E. (1986), S. 90.

21 ders., S. 96.

22 Steininger, R. (2002), S. 152ff.

23 Siepmann, E. (1986), S. 102

24 ders., S. 103.

25 ders., S. 107.

26 Weber, J. (2002), S. 37.

27 Siepmann, E. (1986), S. 107.

28 ders., S. 108.

29 Kaelble, H., Hg. (1992), S. 66, zit. nach Kiesewetter, H.

30 Neebe, R. (1990), S. 59.

31 ders., S. 60.

32 Siepmann, E. (1986), S. 117.

33 ebd., S. 117.

34 Neebe, R. (1990), S. 61.

35 ebd., S. 61.

36 Huster, E.-U. u. a. (1972), S. 79.

37 ebd., S. 79.

38 Wildt, M. (1994), S. 31-32.

39 ders., S. 33-34.

40 ders., S. 36.

41 Abelshauser, W. (1987), S. 59.

42 Wildt, M. (1994), S. 64f.

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Auffällige Stile der Jugend als Ergebnis gesellschaftlichen Wandels am Beispiel der Halbstarken in den 50er Jahren
Hochschule
Universität Kassel  (Soziologie)
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
107
Katalognummer
V21619
ISBN (eBook)
9783638251921
Dateigröße
874 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Auffällige, Stile, Jugend, Ergebnis, Wandels, Beispiel, Halbstarken, Jahren
Arbeit zitieren
Carolin Engel (Autor:in), 2003, Auffällige Stile der Jugend als Ergebnis gesellschaftlichen Wandels am Beispiel der Halbstarken in den 50er Jahren, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21619

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