Markante Techniken der Figurencharakterisierung im Lenz-Fragment von Georg Büchner


Hausarbeit, 2003

16 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNISS

Einleitung

1. Die Einführung der Figur

2. Natur als Spiegel der Seele

3. Die Entwicklung des Wahnsinns

4. Die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit der Figur

5. Sinnerfahrung in verschiedenen Bezugssystemen
5.1. Bezugssystem Natur
5.2. Bezugssystem Familie
5.3. Bezugssystem Gesellschaft
5.4. Bezugssystem Religion

Schluss

Anmerkungen

Bibliografie

Einleitung

Das Thema dieser Arbeit sind die Techniken der Figurencharakterisierung Georg Büchners am Beispiel des Lenz-Fragments.

Büchner zeichnet in diesem Text das Bild eines sensiblen Dichters, der vielfältige Probleme zu verarbeiten sucht, aber ohne Hilfe zu scheitern droht. Dabei verzichtet er fast vollständig auf äußere Beschreibungen der Figur und konzentriert sich auf die Wiedergabe subjektiver Erfahrungen. Trotzdem gelingt es ihm in der Art, wie er mit seiner Figur umgeht und sie charakterisiert, seine eigene Position deutlich zu formulie-ren. Er wendet sich von den Quellen ab und macht die historische Person zu einer lite-rarischen Figur.

Büchner zeigt auf, dass Lenz auf Sinnsuche in der Natur, der Familie, der Gesellschaft und auch der Religion ist, dabei aber an Konventionen und Unverständnis scheitert. Letztendlich scheint Lenz eine dauerhafte Integration verwehrt zu bleiben und in der Beantwortung der Frage nach dem Wieso offenbart sich der Unterschied zwischen Büchner und seinen Quellen.

Er greift die neunzehn Tage aus dem Leben der historischen Persönlichkeit Jakob Michael Reinhold Lenz auf, die dieser im Steintal bei dem Pfarrer Oberlin verbringt. O-berlin hat über diesen Zeitraum einen Rechenschaftsbericht verfasst, der einen detaillierten Einblick in die Ereignisse dieser Tage ermöglicht, eigentlich aber zur Erklärung und Rechtfertigung seines eigenen Verhaltens dienen sollte.

Büchner zeichnet diesen Zeitraum nach, übernimmt von seiner Primärquelle die faktische Wiedergabe der Ereignisse und die formale Struktur, aber ergänzt den Text mit der, von ihm ausgearbeiteten, Innensicht des Protagonisten.

Der Leser begleitet Lenz auf seinem Weg im Steintal und erhält einen detaillierten Einblick in dessen Erfahrungswelt und wird dazu aufgerufen sich selbst ein Bild vom Hintergrund der Ereignisse zu machen und nicht der Vorverurteilung zu folgen, die in seinen Quellen formuliert wird.

Da Büchner ein Erzählverhalten wählt, mit dem er scheinbar neutral die subjektive Sichtweise seiner Figur wiedergibt, stellt sich die Frage, wie er trotzdem Gelegenheit findet, diese Stellung zu beziehen. Denn durch seine Subjektivität verzichtet er zusätz-lich auf mögliche Techniken der objektiven Figurenbeschreibung, wie zum Beispiel die explizite Beschreibung durch den Erzähler oder eine andere Figur, oder die Schil- derung der Lebensumstände. Welche Mittel stehen ihm noch zur Verfügung um seine Haltung zu formulieren und wie könnte sie aussehen?

1. Die Einführung der Figur

Die Figur Lenz wird uns schon im ersten Satz des Textes vorgestellt, aber man erfährt zunächst nicht viel mehr als den Namen. Und doch finden sich in diesem kurzen Satz schon deutliche Anzeichen auf den Fokus des Textes, welcher ganz auf die Figur ge-richtet ist.

Über den Zeitpunkt und den Ort der Handlung finden sich nur die pauschalen Angaben, dass es ein bestimmter Tag irgendeines Monats ist und dass sich Lenz in einem Gebirge bewegt. Es ist nicht die zeitliche oder räumliche Situierung, die für Büchner von Bedeutung ist, es ist die Figur, die er gleich in den Mittelpunkt rückt.

Auch bei der anschließenden Beschreibung der Landschaft, und der scheinbar damit einhergehenden Verlagerung des Fokus, liegt die Betonung auf der subjektiven Wahr-nehmung von Lenz. Deutlich wird das an der Verwendung des Wortes „so“, „die den jeweiligen Befund unmittelbar aus der objektiven Sphäre in das Erleben der Figur ein-bringt […]“1.

Der Satz „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“2 offenbart endgültig, dass es sich nicht um eine objektive Wiedergabe der Umwelt handelt, sondern eine Innensicht präsentiert wird, die den seelischen und emotionalen Zustand von Lenz aufzeigt.

Mit dieser Einführung in die Erzählung und dem Fortführen dieser Methode durch den ganzen Text offenbart sich die Position Büchners, er „[…] steht in seinem Betroffensein von vornherein ganz auf der Seite von Lenz.“3

2. Natur als Spiegel der Seele

Auffällig oft beschreibt Büchner die Landschaft und die Natur, in der sich Lenz bewegt. Aber entfernt er sich dadurch von seinem Subjekt und verlagert den Fokus?

Die Beschreibung der Landschaft kann in zwei Richtungen gedeutet werden. Zum einen handelt es sich um die Darstellung von Tatsachen, zum anderen wird auch die Wahrnehmung von Lenz eingebunden.

Durch die Wortwahl und die Art der Satzkonstrukte, entsteht beim Lesen des Textes ein Bild der Landschaft, welches der psychischen und physischen Reaktion von Lenz nachempfunden ist und in der sich seine Gemütslage offenbart. „Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte;“4

Diese Dualität in den Landschaftsbeschreibungen wird von Büchner als Stilmittel verwendet, um das zentrale Thema der Erzählung, das Empfinden Lenz´, auch bildlich darstellen und eine Unmittelbarkeit erzeugen zu können.

Als zwei weitere markante Beispiele für diese Technik kann man die Schilderung der Natur nennen, nach der Lenz sich entschließt zu predigen und auch die Beschreibung der Umwelt am Schluss, wenn Lenz nach Straßburg abtransportiert wird.5 Die wichtigen Punkte der psychischen Entwicklung von Lenz, der Höhepunkt in Form von Ausgeglichenheit und Ruhe und der Tiefpunkt in Form von Resignation und Selbstaufgabe, werden dadurch von Büchner markiert und unmittelbar zugänglich. Die Beschreibungen haben auch die Funktion die Stellen im Text zu markieren, an denen Entscheidendes in der Entwicklung von Lenz passiert.

3. Die Entwicklung des Wahnsinns

Die psychische Entwicklung von Lenz ist das zentrale Thema, welches sogar eine Handlung im eigentlichen Sinne verdrängt und die Erzählung zu einer subjektiven Schilderung der Erfahrungen von Lenz macht. Die bisher genannten Techniken der Figurencharakterisierung erfüllen vorrangig die Aufgabe diese Entwicklung zu unterstreichen, hervorzuheben oder anzutreiben.

Aber auch die Beschreibung des „Wahnsinns“6 an sich ist als solche zu untersuchen, da hier der wesentliche Unterschied zu der Primärquelle liegt. Oberlin konzentriert sich auf die Wiedergabe der Vorgänge und die Erklärung des eigenen Verhaltens. Büchners Schwerpunkt ist „… der erfahrene exemplarische Leidens- und Krankheitsweg einer gefährdeten Persönlichkeit, ihre vorübergehende Hoffnung auf Genesung und Integrati- on und ihr endgültiges Verstummen in der Leere.“7 Büchner bezieht durch dieses Verfahren Stellung, „ist seine durch emotionale und gesellschaftliche Erfahrungskorrespondenzen bedingte Anteilnahme an der Lenzfigur so eindeutig, dass er seine Quellen radikal und gewissermaßen einsträngig - immer auf die gefährdete und zerbrechende Existenz dieser Figur hin - umdeutet.“8 Wenn Lenz den Wunsch äußert, dass er gerne auf dem Kopf gehen möchte, dann zeigt dies objektiv betrachtet, dass er sich in seinem Denken unterscheidet. Die Tatsache, dass es „ihm manchmal unangenehm“9 ist, wenn er es nicht kann, zeigt, dass sich aus dieser Andersartigkeit ein Problem für ihn entwickelt.

Lenz bewegt sich in einer Welt, die seine Bedürfnisse nicht erfüllen kann, und auch wenn er diese Diskrepanz zunächst überwinden oder ignorieren kann, ist seine Position schon zu diesem Zeitpunkt gefährdet.

„Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.“10 Die Textstelle zeigt, dass er sich seiner Probleme bewusst ist, dass er weiß, dass sie ihn zum Außenseiter in der Gesellschaft machen. Büchner wendet sich vom Oberlin-Bericht ab und erhebt seine Figur zu einer Person, die sich ihrer selbst bewusst ist und kritisch reflektieren kann, er macht aus einem behandelten Objekt ein handelndes Sub-jekt.

Dieses Wissen um seinen Zustand hebt Büchners Figur kritisch vom Lenz in Oberlins Bericht ab und verleiht seinem Leidensweg die Würde, die ihm in der Quelle nicht zugestanden wird .11

Da Büchner den Oberlin-Bericht teilweise wörtlich zitiert, sind es gerade die Unterschiede, die noch mehr von Büchners Position offenbaren.

In den Überlegungen Oberlins über die geistige Zerrüttung Lenz´ stehen Fragen von Schuld, Sünde, Gehorsam, Lebenswandel im Vordergrund: die Tendenz also, die geistige Krankheit bei allem Mitgefühl als‚ Strafe Gottes’ für menschliches Fehlverhalten zu deuten.12

Dem stellt Büchner seinen Text gegenüber, in dem er nicht versucht eine Erklärung zu geben, sondern dem Leser die Möglichkeit bietet aus der Schilderung der subjektiven Erfahrungswelt der Figur selber Schlüsse zu ziehen. Wertend wird seine Darstellung erst im historischen Kontext, da bei ihm nicht die Vorverurteilung eines geistig Kranken stattfindet. Büchner gibt nicht pauschal dem Kranken die Schuld an seinem Zustand, sondern richtet seinen Blick auf gesellschaftliche und soziale Begebenheiten als mögliche Ursache.

Büchners Lenz verzweifelt nicht an seinen eigenen Handlungen, sondern an den Reak-tionen seiner Umwelt, die ihn nicht verstehen kann, vielleicht auch nicht verstehen will.

4. Die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit der Figur

Im Verlauf der Geschichte nutzt Büchner auch die Veränderung der Kommunikations-fähigkeit der Figur, um die psychische Entwicklung zusätzlich zu betonen. In seinem ersten Gespräch zeigt Lenz, dass er in der Lage ist Konversation zu betreiben, er ist in der Lage seine Zuhörer zu unterhalten und dabei das Gewünschte zu vermitteln. „Er fing an zu erzählen, […], man drängte sich teilnehmend um ihn, […], sein lebendiges Erzählen;“13 Es wird aber auch nicht hervorgehoben, so dass es für einen Schriftsteller, der über ein hohes Sprachverständnis verfügt, als normal einzustufen ist.

Der Höhepunkt seiner Kommunikationsfähigkeit wird durch das Kunstgespräch dargestellt, welches er mit Oberlin und Kaufmann führt. In langen Monologen offenbart er seine Ansicht zu Literatur und der Kunst im Allgemeinen, führt sie aus, erklärt und belegt sie geschickt mit Beispielen. Hier bricht einmal der Dichter und Autor durch, der es versteht geschickt mit Worten und ihren Bedeutungen umzugehen. „Mit außerordentlicher Luzidität und Empfindlichkeit entwickelt er kunsttheoretische Positionen, von denen in Büchners Quellen nichts zu finden ist.“14

Das Kunstgespräch befindet sich sowohl strukturell als auch inhaltlich an einer zentra-len Stelle des Textes, daher ist anzunehmen, dass Büchner von dieser Position beabsich-tigt zu einem Blick auf Gesprochenes und noch zu Sprechendes einlädt. Nach diesem Gespräch baut Lenz immer weiter ab und das drückt sich auch in seiner Art zu reden aus. Er spricht oft in abgehackten Sätzen, die kaum zu verstehen sind. „Im Gespräch stockte er oft, …“15. Die kurz formulierten Gedanken ähneln Ausrufen, die andeuten, wie beschränkt seine Fähigkeit sich mitzuteilen geworden ist. Unabhängig davon, was Lenz spricht, liegt in der Art und Weise, wie er spricht, sein inneres Befinden verborgen.

[...]


1 Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 3. Auflage. Stuttgart 2000 (Sammlung Metzler, M 159: Abt. D, Literaturgeschichte). (Im Folgenden angegeben als: G. Knapp.)

2 Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. München 1988, S. 137. (Im Folgenden angegeben als: WUB.)

3 G. Knapp, S. 131.

4 WUB, S. 137.

5 siehe WUB, S. 141 u. 158.

6 vergleiche WUB, S. 138.

7 G. Knapp, S138.

8 ebd., S131.

9 WUB, S. 137.

10 ebd., S. 138.

11 G. Knapp, S144.

12 ebd., S133.

13 WUB, S. 139.

14 G. Knapp, S145.

15 WUB, S. 155.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Markante Techniken der Figurencharakterisierung im Lenz-Fragment von Georg Büchner
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für deutsche Literatur)
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
16
Katalognummer
V19767
ISBN (eBook)
9783638238137
Dateigröße
390 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Markante, Techniken, Figurencharakterisierung, Lenz-Fragment, Georg, Büchner
Arbeit zitieren
Jan Lechner (Autor:in), 2003, Markante Techniken der Figurencharakterisierung im Lenz-Fragment von Georg Büchner, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19767

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