Prädikat "Kinderfreundlich"


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

34 Seiten


Leseprobe


Gliederung

1. Einführung
1.1. Zum Begriff „kinderfreundlich“
1.2. Gesetzliche Grundlagen zu den Belangen von Kindern
1.3. Veränderte Kindheit – gesellschaftliche Entwicklungen

2. Auf dem Weg zu einer kinderfreundlichen Stadt
2.1. Aktionsräume der Kinder in der Stadt
2.2. Handlungsbedarf
2.3. Zuständige Institutionen

3. Beispiel: Aktionsgemeinschaft „Essen – Großstadt für Kinder“
3.1. Die Teilnehmer und ihre Ziele
3.2. Spiel- und Bewegungsraum
3.3. Freizeitgestaltung
3.4. Verkehrsplanung
3.5. Weitere kinderfreundliche Projekte

4. Fazit

1. Einführung

1.1. Zum Begriff „kinderfreundlich“

„Kinderfreundlich ist alles, was die Besonderheiten des Lebens im Kindesalter berücksichtigt: Alter, Größe, Erfahrung, Kraft, Wissen und die natürliche Freude am Spiel. ..., denn zwar ist Spielen zwecklos, aber doch sinnvoll.“[1] So hat es der Architekt und ehemalige Vorstand des Essener Vereins „Mehr Platz für Kinder“ Günter Koschany einmal treffend auf den Punkt gebracht. Leider erfordert eine Definition dieses Begriffs für die Umsetzung in die Praxis wesentlich genauere Vorgaben und Erläuterungen, die zu finden keine leichte Aufgabe darstellt.

Den Versuch einer Begriffsbestimmung hat unter anderem die Infostelle Kinderpolitik des Deutschen Kinderhilfswerkes unternommen. Dort wird deutlich, daß Kinderfreundlichkeit zuallererst aus Sicht der Kinder betrachtet werden muß, allerdings darf die Erwachsenenwelt, wozu Politiker ebenso wie Organisationen oder Privatpersonen gehören, nicht außen vor bleiben. Letztere sollten zuvor abwägen, ob kinder-freundliches Verhalten, also Kindern gegenüber freundlich gesinnt sein, ausreichend ist, oder ob nicht besser (auch) von kind-gerecht, die Rechte des Kindes achtend, gesprochen werden sollte. Das Augenmerk sozial- und kinderpolitischer Fragestellungen und Maßnahmen fällt zwar stärker als noch vor einigen Jahren auf die Interessen der Kinder, jedoch ist nach wie vor zu beobachten, daß sie noch häufig genug hinter anderen, als wichtiger erachteten Anliegen zurückgestellt werden. Daraus folgt, daß sowohl auf politischer wie auf gesellschaftlicher Ebene noch einiges für Kinderfreundlichkeit bzw. Kindgerechtigkeit getan werden muß. Es bleibt anzumerken, daß kaum Lexika oder andere Nachschlagewerke existieren, die diese Bezeichnung(en) beinhalten, was wohl auch von der Schwierigkeit herrührt, einen Ausdruck zu definieren, dessen Inhalt je nach Situation immer wieder aus einer anderen Perspektive betrachtet werden sollte und zudem in verschiedenen Epochen unterschiedliche Bedeutung erlangt, d. h. der einer gewissen Dynamik nicht entbehrt.[2]

Eine übersichtliche und praktische Antwort auf die Frage „Was heißt Kinderfreundlichkeit?“ hat die Konferenz der Kinderbeauftragten in Nordrhein-Westfalen erarbeitet. Dort wird das Thema anhand von sieben Leitfragen konkretisiert, deren Ziel keine vollständige Definition ist, sondern die allen Interessierten und Beteiligten einen Anstoß geben wollen zu etwaigen Handlungen im Sinne der Kinder. „Sie sollen anregend ins Gespräch bringen und im Austausch fördern, wie sich Kinderfreundlichkeit in den Köpfen entwickelt, möglichst lange bevor (bürokratische) Formalverfahren einsetzen.“ ³ Ausgehend vom Kind als betroffenem Subjekt über dessen Umwelt bis zu den entsprechenden sozialen Zusammenhängen umfassen die Leitfragen sieben verschiedene Gesichtspunkte, die jeweils kurz erläutert werden, um anschließend auf deren praktische Folgen und einige Stichwörter einzugehen.

Sie beginnen mit den Rechten der Kinder, die wenigstens genauso viel Beachtung und Berücksichtigung verdienen wie die Rechte aller Menschen. Die unterschiedlichen Gruppen von Kindern, ihre Belange und ihre Rechte müssen ermittelt, charakterisiert und berücksichtigt werden. Der zweite Punkt beinhaltet die Förderung von Gesundheit und Sicherheit, mit anderen Worten gesunde Lebensverhältnisse sowie Unantastbarkeit von Leib und Leben. Dabei geht es unter anderem um Folgenabschätzungen in Planung und Ausführung, damit Mißstände von vorne herein ausgeschlossen werden können. Es folgt die Anregung, Gebrauchsfähigkeit herzustellen, sich also mit den Nutzungsbedürfnissen der Kinder zu befassen, so daß die kindgerechte Gestaltung der Lebenswelt schon in die Planungsüberlegungen mit einbezogen wird. Dazu zählen auch Gegenden oder Gegenstände, die primär nicht für Kinder hergerichtet oder hergestellt werden, aber vielleicht gerade deswegen trotzdem für sie interessant sein könnten. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Veränderbarkeit, d. h. die Spontaneität und Kreativität der Kinder zuzulassen. Sie sollen ihre Lebensumgebung mitgestalten können, und zwar nicht in engen Grenzen, sondern vielmehr in nutzungsoffenen Bereichen und nach ihren eigenen Vorstellungen. Auch soll ihr Erlebnisdrang erhalten bleiben, indem Erlebniswelten für sie geschaffen werden, wo sie durch ausgewählte Anregungen statt Reizüberflutung die Möglichkeit haben, Herausforderungen zu finden, Erfahrungen zu machen und auf diese Weise ihre Persönlichkeit zu entfalten. Des weiteren thematisieren die Leitfragen den Aspekt der Partizipation von Kindern, denn sie selbst sind „der Maßstab für Kinderfreundlichkeit.“³ Sie müssen beteiligt werden, sei es durch eigene Verbalisierung von Wünschen und Anregungen oder durch Kinderinteressenvertretungen. Schließlich gehen die Autoren noch auf Widerstände und Bündnispartner ein, womit gemeint ist, daß dem Zurücksetzen von Kinderbelangen zugunsten der Erwachseneninteressen gerade gemeinsam mit Hilfe von erwachsenen Partnern entgegengewirkt werden muß. Konkrete Handlungen entstehen, wenn bestehende Widerstände überwunden werden können. Dies schaffen Kinder nur mit der Unterstützung von engagierten Menschen, die ihnen gegenüber aufmerksam sind und sich für sie einsetzen, schließlich sind wir „nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ (Voltaire)[3]

Bei der Frühjahrstagung der Kinderbeauftragten von Nordrhein-Westfalen war ein Jahr vor Formulierung der Leitfragen im Zusammenhang mit dem Entwurf eines „Prüfverfahrens Kinderfreundlichkeit“ bereits ein ähnliches Konzept entstanden. Hier wurden sieben Prüffragen aufgestellt, die es ermöglichen sollten, allgemeingültige Aussagen über Kinderfreundlichkeit in allen Bereichen zu machen. Diese Prüffragen decken sich teilweise mit den Leitfragen, jedoch umfassen sie noch weitere wesentliche Punkte, wie zum Beispiel die grundlegende, aber nicht immer einbezogene Frage nach der bloßen Wahrnehmung von Kinderbelangen. Planungs- und Entscheidungsträger müssen sich darüber im Klaren sein, was für Kinder eigentlich wichtig ist und was ihre Bedürfnisse und Wünsche sind, ansonsten wird es ihnen nicht möglich sein, für letztere eine angepaßte Lebensumgebung zu schaffen. Die verantwortlichen Erwachsenen müssen den Dialog mit Kindern suchen, um sie wirklich verstehen zu können und nicht bloß „vermuten“, was kindgerecht sei. Entscheidend ist, Kinder nicht aus der Gesellschaft auszugrenzen, sondern sie zu integrieren und als Bestandteil zu sehen. Es kommt auf die Schaffung von Spiel- und Aufenthaltsräumen für die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft innerhalb der allgemeinen Lebensräume an und nicht auf deren Begrenzung auf kleine, abseits befindliche Gebiete. Die letzte Prüffrage will Gründe finden für die Tatsache, daß man bei der praktischen Umsetzung von Kinderfreundlichkeit immer wieder auf Widerstände und Hindernisse verschiedener Art stößt.[4] Dies können beispielsweise einzelne Bevölkerungsgruppen sein, die sich durch Kinder in ihrer Ruhe gestört fühlen oder langwierige und komplizierte bürokratische Verfahren, die ein schnelles Handeln be- bzw. verhindern. Trotz alledem muß die Beschreibung des politischen Handlungsbedarfs und dessen Ausführung das Ziel aller Bemühungen sein. „Kinderfreundlichkeit herzustellen, ist eine politische und gesellschaftliche Querschnittsaufgabe.“[5]

Während des Projektes „Familien- und Kinderfreundlichkeits-Prüfung in den Kommunen“, das vom Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung (Hannover) betreut wird und noch bis 2001 läuft, wurden erste Erfahrungen und Konzepte bereits zusammengestellt und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veröffentlicht.[6] Wie der Titel des Projektes erahnen läßt, wird die kindliche Lebenswelt hier stets im Zusammenhang mit dem Kontext der Familie betrachtet, was eine Definition von Kinderfreundlichkeit aus einem anderen Blickwinkel darstellt. Da das familiäre Umfeld einen elementaren Bestandteil im Leben eines Kindes ausmacht - nicht nur im soziologischen, sondern auch im räumlichen Sinne -, ist diese Perspektive für eine Begriffsbestimmung durchaus interessant und aufschlußreich. Familien einschließlich ihrer Kinder sollten in allen sie betreffenden Bereichen die nötige Unterstützung finden, angefangen bei der Infrastruktur bis hin zu öffentlichkeitswirksamen Aktionen für, über und mit dem Nachwuchs, und das von Seiten verschiedener Ebenen: Mitmenschen, Verwaltungen, Politiker, Arbeitgeber, öffentliche Einrichtungen, ÖPNV, aber auch Anlauf- und Beratungsstellen bei Problemen und Fragen gehören dazu.

Die Erleichterung des Lebens für Familien mit Kindern durch die Schaffung eines kinderfreundlichen Klimas steht hierbei im Vordergrund, vor allem in der Wohnumgebung und der direkten Nachbarschaft. Das Wohnumfeld fängt bei der Wohnung selbst an, die schon in Grundriß und Mietpreis für Familien relevant oder aber unzulänglich sein kann. Vor der Wohnungstüre gibt es weitere grundlegende Dinge zu beachten: so müssen ausreichend Spielgelegenheiten und Entfaltungsräume ohne das Zurücklegen langer Wege für Kinder erreichbar sein, wobei es selbst bei kurzen Wegen an Verkehrssicherheit nicht mangeln darf. Nicht nur Spielplätze bedürfen einer kindgerechten und damit ebenso phantasievollen wie sicheren Gestaltung, sondern auch Schulen und Schulhöfe, die ebenfalls auf sicheren Wegen ohne große Distanz erreichbar sein sollten. Selbstverständlich muß genauso an andere Betreuungseinrichtungen für Kinder gedacht werden, seien es Tageseinrichtungen, Kindergärten oder Freizeiteinrichtungen.[7]

Zusammenfassend gelangt man zu der Erkenntnis, daß es sich bei dem Schlagwort Kinderfreundlichkeit um ein facettenreiches Themengebiet handelt, das sehr viele sehr unterschiedliche Lebensbereiche vieler Menschen berührt bzw. berühren kann. Daher ist es im Grunde gar nicht möglich, für ein solches Wort eine umfassende und allgemeingültige Definition vorzulegen. In jeder betreffenden Situation muß neu bestimmt werden, was kinderfreundlich oder kindgerecht ist, was eher unter den Begriff Kinderfeindlichkeit fällt und welche Konsequenzen für die Planung und Umsetzung daraus folgen. Fest steht, daß nicht nur die Politiker die Pflicht haben, für Kinderfreundlichkeit einzutreten, vielmehr liegt die Verantwortung dafür bei allen Mitgliedern der Gesellschaft.

1.2. Gesetzliche Grundlagen zu den Belangen von Kindern

Kinder sind Menschen, die genauso Träger der Grundrechte nach dem Grundgesetz sind wie die Erwachsenen. Darauf wird im Gesetzestext natürlich nicht explizit hingewiesen, sondern es wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß für Kinder diese Rechte in gleichem Maße gelten. So ist aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes beispielsweise abzuleiten, daß auch die Würde des Kindes unantastbar ist und auch jedes Kind das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit genießt. Art. 6 Abs. 4 des Grundgesetzes beinhaltet einen indirekten Schutzanspruch des Kindes, dort heißt es: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Hier wird - zumindest auf dem Papier - eine gute Basis für Kinderfreundlichkeit geschaffen. Wenn nämlich die Gesellschaft, also die im Umfeld der Mutter lebenden Menschen, um deren Wohl bemüht sind, so kommt dies auch dem Kind zugute. Auf der anderen Seite wird den Eltern in Abs. 2 des gleichen Artikels aktives Handeln abverlangt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürlich Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Jedoch muß betont werden, daß die Gesetze von Erwachsenen in erster Linie für eben solche gemacht wurden, was daran zu erkennen ist, daß in gesetzlichen Vorschriften, die für Kinder bestimmt sind, meist nur die Eltern mit ihren Rechten und Pflichten gegenüber ihren Nachkommen genannt sind und nicht umgekehrt.

Anders verhält es sich zumindest teilweise im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), dessen § 1 Abs. 3 Nr. 4 „positive Lebensbedingungen für junge Erwachsene und ihre Kinder sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt“ fordert.[8] Den Rahmen hierfür bildet der erste Absatz dieses Paragraphen, der sozusagen der Ausgangspunkt des gesamten KJHG ist: „Jeder Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Die Jugendhilfe, die einerseits von freien Trägern wie Kirchen und Jugendverbänden und andererseits vom Jugendamt geleistet wird, soll speziell Kindern und Jugendlichen in den verschiedensten Konfliktsituationen mit Rat und Tat zur Seite stehen, jedoch werden meistens auch deren Eltern mit einbezogen, da ihnen laut Grundgesetz die Erziehungsverantwortung obliegt. Interessant ist außerdem der § 7 Abs. 1 Nr. 1, der als Kind definiert, „wer noch nicht 14 Jahre alt ist“, und nicht etwa unter 18jährige.[9]

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz beinhaltet noch eine Reihe weiterer elementarer Vorschriften und Richtlinien wie beispielsweise die Leistungen und Aufgaben der Jugendhilfe im einzelnen, die hauptsächlich Beistand in Erziehungsfragen aller Art und den Schutz von Minderjährigen umfassen, Organisation und Zuständigkeiten der Jugendhilfe sowie eine Kinder- und Jugendhilfestatistik.

Einen etwas anders gearteten Grundstock gesetzlicher Bestimmungen bildet die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, die 1989 nach zehnjähriger Vorbereitung von den Vereinten Nationen verabschiedet und 1992 von Deutschland ratifiziert wurde. Diese Konvention umfaßt im wesentlichen die Schwerpunkte Schutz, Beteiligung und Förderung von Kindern, und zwar in Form einer Vielzahl von Rechten aus Sicht der Kinder, die häufig den üblichen Gesetzen für Erwachsene entlehnt sind. Das Hauptanliegen bestand bzw. besteht darin, verschiedene internationale Vereinbarungen zu Kinderrechten in einem gemeinsamen Schriftstück zusammenzuführen. Vorgänger sind die Genfer Erklärung des Völkerbundes über die Rechte des Kindes von 1924, die UN-Deklaration der Rechte des Kindes von 1959 und eine weitere aus dem Jahre 1978.[10]

Nach der Kinderrechtskonvention „ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt.“ Dies unterscheidet sich, wie oben gesehen, vom Kinder- und Jugendhilfegesetz, wohingegen andere Punkte, z.B. das „angeborene Recht auf Leben“ (Art. 6 Abs. 1) oder der Schutz „vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung“ (Art. 19 Abs. 1) dem Deutschen Grundgesetz ähnlich bzw. übereinstimmend sind. Auch die Würde des Kindes kommt in verschiedenen Artikeln des Übereinkommens zur Sprache. Erweiterungen finden sich in den beiden folgenden Artikeln: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ... ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ (Art. 3 Abs. 1) und „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ (Art. 12 Abs. 1) Dies sind die wohl bedeutendsten Artikel bezüglich Kinderfreundlichkeit, namentlich wenn Bereiche wie Stadtplanung involviert sind, denn hier wird die Beachtung der kindlichen Interessen, das Mitspracherecht und die Beteiligung der Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen thematisiert und von den Verantwortlichen gefordert.[11]

Für die Bekanntmachung der UN-Kinderechtskonvention, die deren Artikel 42 verlangt, sorgt vor allem die Karawane für mehr Kinderfreundlichkeit, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderhilfswerk seit 1994 veranstaltet wird. Die Kinderkarawane startet seither in jeden Jahr am 1. Juni, dem Internationalen Tag des Kindes, und macht bis zu ihrem Ende am Weltkindertag (20.9.) Station in 30 Städten und Gemeinden quer durch Deutschland, die zuvor nach dem Kriterium der „Kinderfreundlichkeit in der Stadt“ ausgewählt wurden. In jeder Stadt, wo die Karawane Halt macht, findet ein umfangreiches Informations- und Veranstaltungsprogramm für Kinder statt, das neben Gesprächen zwischen Kindern und Politikern viele weitere Möglichkeiten für die Beteiligung von Kindern bietet.[12]

Eine letzte gesetzliche Grundlage in Deutschland, die ich im Rahmen von Kinderfreundlichkeit erwähnen möchte, ist im Baugesetzbuch (BauGB) zu finden. Dort heißt es in § 1 Abs. 5 zu Grundsätzen der Bauleitplanung: „Die Bauleitpläne sollen ... eine dem Wohl der Allgemeinheit entsprechende sozialgerechte Bodennutzung gewährleisten und dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern...“ und in Satz 3 des selben Absatzes: „(Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind insbesondere zu berücksichtigen) die sozialen und kulturellen Bedürfnisse ...der jungen...Menschen...“.[13] Hier handelt es sich zunächst um Aussagen, die alle Menschen betreffen, die aber im folgenden präzisiert werden und demzufolge vornehmlich auf Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen hinweisen. In diesem Sinne bilden sie eine sehr zweckmäßige Ergänzung zum § 1 Abs. 3 Nr. 4 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, der sich auf die kinderfreundliche Umwelt bezieht.

1.3. Veränderte Kindheit – gesellschaftliche Entwicklungen

Während der vergangenen Jahrzehnte hat sich im städtischen Leben für Kinder vieles geändert. Es ist nicht mehr selbstverständlich, daß sie im direkten Wohnumfeld einen Platz zum Spielen vorfinden, wie es „früher einmal“ war, sondern eher im Gegenteil: sie treten vor

der Haustüre unmittelbar auf eine oftmals große und viel befahrene Straße, die für kleinere Kinder zunächst ein Hindernis darstellt, und selbst, wenn eine solche Straße überquert werden kann, ist geeigneter Spielraum noch nicht unbedingt in Sichtweite.

Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wurden immer mehr Siedlungen immer dichter bebaut, so daß der Freiraum für das Kinderspiel auf der Straße zwangsläufig zurückgedrängt wurde. Ein weiterer Faktor war und ist noch heute der stetig zunehmende Autoverkehr, dessen Platzbedarf meist weitaus mehr Berücksichtigung fand - und auch heute noch findet - als die Bedürfnisse der Kinder nach Bewegungsfreiheit an der frischen Luft. Diese Tatsache führte dazu, daß sich die freie Spielzeit der Kinder im Verlauf der Jahre mehr und mehr in den Wohnraum bzw. in verschiedene Kinder-Freizeit-Einrichtungen verlagerte. Die Möglichkeiten der Nutzung von Straße und Wohnumfeld als Entfaltungsraum für die kleinsten Familienangehörigen verringerten sich jedoch nicht nur wegen des wachsenden Platzmangels, sondern auch wegen der steigenden Gefahr, die vom Straßenverkehr ausging. Kinder können und dürfen immer seltener unbeaufsichtigt in der näheren Umgebung spielen, obwohl die „Möglichkeit der umfassenden, selbständig-aktiven Aneignung von Erfahrungen durch das Spielen im Wohnumfeld ohne elterliche Kontrolle ... für die Sozialisation der Kinder elementar wichtig“ ist.[14]

In den achtziger und neunziger Jahren, im sogenannten Informationszeitalter, führten besonders die neuen Medien zu einer scheinbaren Erleichterung dieses Prozesses für die Kinder, weil die durch die Verhäuslichung entstehenden Beschäftigungsdefizite zwar ausgeglichen wurden, nicht aber Bewegungsdefizite. Außerdem haben die Kinder immer weniger soziale Kontakte bzw. Kommunikation mit gleichaltrigen Spielgefährten und verbringen mehr Zeit alleine, im Zuge der Mediatisierung nicht selten vor dem Fernseher, dem Computer, dem Gameboy oder ähnlichen heutzutage üblichen häuslichen Medien.

Die oben beschriebenen Gegebenheiten der Verlagerung der Kinderfreizeit von den Außen- in die Innenräume haben weitere Folgen. Mit den weit verstreuten Freizeitangeboten wächst die räumliche Distanz zwischen den einzelnen wahrgenommenen Aktivitäten. Ein von Kindern eigenständig erreichbarer Spielplatz befindet sich nur selten in der unmittelbaren Wohnumgebung, während eine Vielzahl von Freizeiteinrichtungen wie Schwimmbäder, Sportplätze, Vereine, Jugendheime oder auch die Wohnung von Freunden in der Regel weiter entfernt liegen. Die Kinder sind demzufolge gezwungen, sich zwischen diesen Funktionsräumen fortzubewegen, was sie je nach Entfernung nicht ohne Hilfe der Eltern bzw. ohne öffentliche Verkehrsmittel bewerkstelligen können. Diese Situation wird in der Literatur häufig als „Verinselung“ bezeichnet.[15]

Allerdings führen nicht nur diese äußeren Umstände zu einer veränderten Kindheit, sondern auch die demographische Entwicklung und der Wandel des Familienlebens in den letzten Jahrzehnten. Auf der einen Seite ist die Geburtenrate in Deutschland seit den sechziger Jahren kontinuierlich rückläufig bzw. stagnierend, während auf der anderen Seite die Lebenserwartung weiter steigt, was dazu führt, daß der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung sinkt, wohingegen der Anteil älterer Menschen ansteigt. Laut Prognosen für das Jahr 2040 verschärft sich dieser Trend noch. (vgl. Abb. 1 ® Bev.pyramide) Darüber hinaus hat die Zahl der Kinder pro Familie abgenommen und die Zahl der sogenannten Ein-Eltern-Familien vergrößert sich. Das familiäre Umfeld variiert also dahingehend, daß jedes Kind durchschnittlich mit weniger Geschwistern oder ohne Geschwister und häufiger nur mit einem Elternteil aufwächst. Die Konsequenzen sind klar ersichtlich: die Zeit, die viele Kinder in Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen außerhalb des Familienlebens verbringen, verlängert sich, da sie in der Arbeitszeit des Elternteils oder der Eltern alleine nicht zu Hause bleiben sollen. An dieser Stelle sei nochmals auf die schon angesprochene Problematik der Verinselung hingewiesen.[16]

2. Auf dem Weg zu einer kinderfreundlichen Stadt

2. 1. Aktionsräume der Kinder in der Stadt

Um räumliche Aktivitäten und Bewegungen von Kindern in der Stadt zu erörtern, deren Ausgangsort ja die Wohnung ist, soll zunächst eine grobe Einteilung vorgenommen werden zwischen ausgewiesenen Wohngebieten, die im allgemeinen familien- und kinderfreundlicher konzipiert sind und sich eher in Stadtrandlagen befinden, und Wohnstandorten mitten in der Stadt und an Hauptverkehrsstraßen. Der Ort des Wohnens hat zwangsläufig einen enormen Einfluß auf räumliche Prozesse.

Einen Großteil der Freizeit, die Kinder draußen verbringen, halten sie sich in der näheren Wohnumgebung auf, wo die nächstgelegene Spielmöglichkeit Höfe und Gärten darstellen, die ganz oder teilweise eingegrenzt sein können: Garten hinter dem Haus, vor dem Haus, Innenhof oder Hinterhof. Befinden sich dort Spielgeräte und sind diese Orte ausreichend groß, so bieten sie besonders für kleinere Kinder eine reizvolle und praktische Spielgelegenheit. Jedoch existieren auch im öffentlichen Raum eine Vielzahl von Flächen und Punkten, die für verschiedene Tätigkeiten von Kindern zur Verfügung stehen bzw. verfügbar gemacht werden können und die von ihnen aufgesucht und genutzt werden. Sie sind vielfältig und, wie schon festgestellt, oft inselhaft im Raum verteilt.

Je nach Wohngegend kommen Bürgersteig oder Straße als Aufenthaltsort zum Spielen in Frage, besonders in der Stadt jedoch häufig nicht. Dort sind die Straßen meist viel befahren und die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt 50 km/h und mehr, weshalb sie nicht nur zum Spielen ungeeignet sind, sondern auch die freie Fortbewegung der Kinder hemmen. Verkehrsberuhigung in Form von Tempo-30-Zonen oder sogar Spielstraßen in Wohnvierteln stellen eine gute Alternative dar, um Kindern das Spielen auf der Straße vor der Haustüre zu ermöglichen.

[...]


[1] SPIELRAUM 6/1992, S. 228

[2] URL: http://www. Kinderpolitik.de/biblio/lexikon/k.htm [Stand: 06.07.9

[3] Kinderbeauftragter der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, 1994

[4] Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS), 1993, S. 17 ff.

[5] MAGS, 1995, S. 3

[6] Borchers, 1999

[7] Borchers, a.a.O., S. 58 f.; S. 68 f.

[8] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), 1997, S. 55

[9] BMFSFJ, 1997, S. 57

[10] Deutsches Kinderhilfswerk, 1991, S. 11 ff.

[11] URL: http://www.amnesty.de/de/3610/kin_konv.htm, S.2 [Stand: 06.07.99]

[12] Deutsches Kinderhilfswerk, 1995, S. 9 ff.

[13] Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, 1997

[14] BMFSFJ, 1998, S. 55

[15] BMFSFJ, 1998, S. 54 ff.

[16] BMFSFJ, 1998 , S. 23 ff.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Prädikat "Kinderfreundlich"
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Geografisches Institut)
Veranstaltung
Soziale Aspekte der Stadtentwicklung
Autor
Jahr
1999
Seiten
34
Katalognummer
V16555
ISBN (eBook)
9783638213783
Dateigröße
636 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prädikat, Kinderfreundlich, Soziale, Aspekte, Stadtentwicklung
Arbeit zitieren
Diana Sieben (Autor:in), 1999, Prädikat "Kinderfreundlich", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16555

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Titel: Prädikat "Kinderfreundlich"



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