Zur unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-Rechts


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2002

18 Seiten


Leseprobe


A. Einleitung

Von den EG-Organen geschlossene Völkerrechtsverträge sind nach überkommener Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung.[1] Für das Recht der Welthandelsorganisation hat damit die gleiche Ausgangslage zu gelten. Der EuGH folgert hieraus jedoch nicht, dass die Bestimmungen deswegen Maßstab einer Rechtmäßigkeitsprüfung der sekundären Gemeinschaftsakte in einem Verfahren nach Art.230 EGV sein müssen, sondern hat in verschiedenen Urteilen stets die unmittelbare Wirkung des GATT 1947 und nunmehr des WTO-Rechts abgelehnt. Damit wird dem Wirtschaftsvölkerrecht ein Großteil seiner Effektivität geraubt.

Begrifflich ist bei der Frage der direkten Anwendung des WTO-Rechts zwischen der Anwendungsfähigkeit und der Einklagbarkeit zu unterscheiden. Der erste Problemkreis betrifft die Frage, ob der materielle Gehalt einer Regelung der Anwendung fähig ist, das heißt, ob sie eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkung nicht vom Erlass eines weiteren Rechtsakts abhängig ist. Die prozessuale Komponente zielt darauf ab, ob sich ein EG-Mitgliedstaat oder ein Bürger vor Gericht auf diese Norm berufen kann.[2]

Seit 1995 ist für die Untersuchung der unmittelbaren Anwendbarkeit die neue Rechtslage im Wirtschaftsvölkerrecht zu berücksichtigen. Die WTO-Verträge, unter anderem das GATT, GATS und das TRIPS-Übereinkommen, sind institutionell in die zum 1.Januar 1995 gegründete Welthandelsorganisation[3] mit Sitz in Genf eingebettet worden. Sämtliche Mitgliedstaaten der WTO sind gem. Art.XVI:4 des Übereinkommens zur Errichtung der WTO dazu verpflichtet, ihre Rechtsordnung den wirtschaftsvölkerrechtlichen Anforderungen anzupassen. Zur Einhaltung der Welthandelsregeln ist die EG, die nunmehr gem. Art.XI:1 WTO-Übereinkommen selbst Vertragspartei der Welthandelsorganisation neben ihren Mitgliedstaaten geworden ist, auch in Anwendung des Art.300 Abs.7 EGV gemeinschaftsrechtlich angehalten.

B. Zur unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-Rechts

In den WTO-Abkommen sind verschiedene Vorschriften enthalten, die eine generelle Umsetzung und Beachtung der Vertragspflichten fordern (vgl. Art.XVI:4 WTO-Übereinkommen, Art.41 TRIPS-Abkommen). Sie schreiben jedoch nicht vor, in welcher Weise dies konkret zu geschehen hat. Es gibt insbesondere keine ausdrückliche Regelung, die besagt, dass ein Abkommen oder nur spezielle Bestimmungen unmittelbar anwendbar sein sollen.

Mangels solcher Hinweise in den WTO-Verträgen bleibt die Art und Weise der Erfüllung der Verpflichtungen in der eigenen Rechtsordnung damit den Vertragsstaaten und der EG selbst überlassen. Deshalb ist es durchaus möglich, dass Gerichte einer Vertragspartei eine unmittelbare Anwendbarkeit an Hand eigener Prüfungskriterien bejahen.

I. Konkretisierung und Verrechtlichung der Pflichten

Eine direkte Wirkung könnte sich aus dem Charakter, der Struktur und den Zielen des WTO-Rechts ergeben. Ob eine solche vorliegt, ist nach Sinn, Aufbau und Wortlaut des Übereinkommens zu ermitteln.[4] Die Norm eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens ist danach als unmittelbar anwendbar anzusehen, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Übereinkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängt.[5]

In verschiedenen Urteilen hatte der EuGH ausgeführt, dass es kein Recht des einzelnen Gemeinschaftsbürgers gebe, sich vor den nationalen Gerichten in den Mitgliedstaaten auf das alte GATT-Recht von 1947 zu berufen.[6] In seiner Argumentation gegen die unmittelbare Rechtswirkung des GATT stellte der EuGH auf den Charakter des Abkommens ab. Er wies dabei auf die große Flexibilität[7] und Geschmeidigkeit[8] der GATT-Vorschriften hin, insbesondere jener Regelungen, die eine Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen gestatten, den Vorschriften über Maßnahmen bei außergewöhnlichen Schwierigkeiten und über die Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten. Auch sei das Streitbeilegungsverfahren des GATT nicht auf eine streitige Rechtsentscheidung, sondern vielmehr auf eine politische Einigung ausgerichtet.[9]

Mit dem In-Kraft-Treten der Schlussakte von Marrakesch/Marokko am 1.Januar 1995 hat sich der Charakter des GATT-Rechts jedoch grundlegend verändert.[10] Das Weltwirtschaftsrecht wurde insbesondere mit seiner Erweiterung auf den Dienstleistungsbereich und den geistigen Eigentumsschutz sowie den Verbesserungen des Streitbeilegungsverfahrens auf eine qualitativ neue Stufe gehoben. Der stärkere Geltungsanspruch des neuen Regelwerks lässt sich aus Art.XVI:4 WTO-Übereinkommen ablesen, der die Vertragsparteien dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass ihre nationalen Rechtsordnungen dem Abkommen entsprechen.[11]

Darüber hinaus einigte man sich auf eine Präzisierung von GATT-Vorschriften, auf konkretisierte Voraussetzungen für die Schutzmaßnahmen nach Art.XIX GATT und auf eine restriktivere Handhabung der Ausnahmebestimmungen.[12] Insbesondere das Abkommen über Schutzmaßnahmen begrenzt die Möglichkeit der Vertragsparteien von ihren Verpflichtungen Abstand zu nehmen.[13] Das neue WTO-Recht sieht in Nr.1a GATT1994 außerdem vor, dass das Protokoll über die vorläufige Anwendung des GATT entfällt und damit auch die in diesem Protokoll enthaltene Existing Legislation Clause. Das zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens geltende nationale Recht ist deswegen den Vorgaben der WTO-Abkommen entsprechend anzupassen.[14]

Vor allem das Streitbeilegungsverfahren wurde im Dispute Settlement Understanding weiterentwickelt. Künftig ist nicht mehr die Einstimmigkeit für die Annahme einer Panel -Entscheidung notwendig, damit sie Rechtswirkung erzeugt. Vielmehr kann nur noch die Ablehnung einstimmig vom Dispute Settlement Body nach Art.16:4 DSU beschlossen werden.[15] Zusätzlich wurde eine Rekursinstanz, der sog. Standing Appellate Body, geschaffen, deren Errichtung nicht zuletzt auch zu einer höheren juristischen Qualität der Berichte führt.

Dadurch wurde ein Streitschlichtungsverfahren eingerichtet, das zwar nicht in vollem Maße gerichtsförmig ausgestaltet ist, dessen abschließende Entscheidungen aber gem. Art.21 DSU als rechtlich verbindlich anzusehen sind.[16] Die neue Einheitlichkeit der Verträge eröffnet ferner die Möglichkeiten der sog. Cross Retaliation. Alle Bestimmungen stehen in einem Vergeltungszusammenhang, das heißt, Verstöße in einem spezifischen Wirtschaftsbereich können auch durch Maßnahmen auf einem anderen Gebiet vergolten werden. Zusammen mit der deutlich gesteigerten Zahl von vorgelegten Streitfällen würde also vieles für eine höhere Verbindlichkeit des WTO-Rechts sprechen.

Die Welthandelsordnung scheint mit diesen Maßnahmen insgesamt wesentlich stärker verrechtlicht worden zu sein. Ihre Durchsetzung gegenüber Vertragsverletzungen wurde, zumindest was die rechtlichen Bedingungen betrifft, weiter stabilisiert.[17] Aus den genannten Gründen kann im Ergebnis von einem behutsamen Schritt von einem machtorientierten System zu einem eher regelorientierten System gesprochen werden.[18]

[...]


[1] Vgl. EuGH Slg.1974, S.449ff. – Rs.181/73 „Haegeman”; EuGH Slg.1982, S.3641 (3662) – Rs.104/81 „Kupferberg”.

[2] von Danwitz, Der EuGH und das Wirtschaftsvölkerrecht – ein Lehrstück zwischen Europarecht und Politik, in: JZ2001, S.721 (722).

[3] Hierzu Senti, WTO. System und Funktionsweise der Welthandelsordnung, Zürich/Wien 2000, Rdnr.272ff.

[4] EuGH Slg.1972, S.1219 (1228., Rdnr.19/20) – verb. Rs.21 bis 24/72 „International Fruit Company“.

[5] EuGH Slg.1987, S.3719 (3752, Rdnr. 14) – Rs.12/86 „Demirel“.

[6] Leitentscheidung hierzu EuGH Slg.1972, S.1227f.

[7] EuGH Slg.1989, S.1781 (1831, Rdnr.20). – Rs.70/87 „Fediol”.

[8] EuGH Slg.1972, S.1228, Rdnr.21.

[9] Hilf, Die Anwendung des GATT im deutschen Recht, in: Hilf/Petersmann (Hrsg.), GATT und Europäische Gemeinschaft, Baden-Baden 1986, S.11 (47f.).

[10] Vgl. Jackson/Davey/Sykes, Legal Problems of International Economic Relations, 3.Aufl., St. Paul 1995, S.301ff.

[11] Stoll, Die WTO: Neue Welthandelsorganisation, neue Welthandelsordnung, in: ZaöRV1994, S.241ff.

[12] Meng, Gedanken zur Frage unmittelbarer Anwendung von WTO-Recht in der EG, in: Beyerlin u.a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. Festschrift für Rudolf Bernhardt, Berlin u.a. 1995, S.1063 (1084).

[13] Hierzu Beise/Oppermann/Sander, Grauzonen im Welthandel. Protektionismus unter dem alten GATT als Herausforderung an die neue WTO, Baden-Baden 1998, S.131ff.

[14] Eine Ausnahme gilt lediglich hinsichtlich eines US-amerikanischen Gesetzes, dem sog. Jones Act; vgl. Stoll, ZaöRV1994, S.266 Fußn.115.

[15] Senti, WTO, Rdnr.352.

[16] Meier, Der Endbericht des WTO-Panels im Bananenrechtsstreit, in: EuZW 1997, S.566 (566) spricht z.B. davon, „(...) daß Panel-Berichte faktisch die Wirkungen von gerichtlichen Entscheidungen haben.“

[17] Meng, FS-Bernhardt, S.1084f.

[18] Oppermann, Die Europäische Gemeinschaft und Union in der Welthandelsorganisation (WTO), in: RIW1995, S.919 (924).

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Zur unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-Rechts
Hochschule
Universität Hohenheim  (Institut für Rechtswissenschaft)
Autor
Jahr
2002
Seiten
18
Katalognummer
V6148
ISBN (eBook)
9783638137935
Dateigröße
655 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
WTO, EuGH, unmittelbare Wirkung
Arbeit zitieren
Dr. Gerald G. Sander (Autor:in), 2002, Zur unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-Rechts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6148

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