Mahlke – Weder Hitler noch Heiliger

Günter Grass’ Novelle „Katz und Maus“ als Charakterstudie und Gesellschaftskritik


Seminararbeit, 2002

22 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Die Figur Mahlke
2.1. Der respektierte Außenseiter
2.2. Der „Große Mahlke“
2.3. Mahlkes Makel: Das Adamsapfel-Motiv
2.4. Der Clown ohne Publikum
2.5. Mahlkes Leistungssucht
2.6. Zusammenfassung

3. Das Symptom Mahlke
3.1. „Katz und Maus“ als Gesellschaftskritik
3.2. Religionskritik in der Novelle
3.3. Führertum und Mitschuld

4. Schlussbemerkungen

5. Bibliographie

1. Einführung

„Und aufgewachsen bin ich zwischen

dem Heilgen Geist und Hitlers Bild.“ (Günter Grass)[1]

Die folgende Arbeit soll sich mit der Figur Joachim Mahlke beschäftigen, dem Protagonisten der 1961 erschienenen Novelle „Katz und Maus“ von Günter Grass.

Im ersten Teil, der den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet, wird versucht, die Figur Mahlke anhand einer Analyse des Textes greifbarer und nachvollziehbarer zu machen, als sie dem Leser auf den ersten Blick erscheint. Mahlke entbehrt auch heutzutage nicht einer gewissen Faszination, was wohl einerseits an der zeitlosen Thematik der Jugend- und Initiationsgeschichte liegt, andererseits aber auch auf die treffende Gestaltung des Stoffes durch den Autor zurückzuführen ist. Allerdings soll auf eine genauere Untersuchung der Struktur und sprachlichen Ausgestaltung der Novelle durch Günter Grass verzichtet werden.[2] Des weiteren wird im ersten Teil die Besonderheit der Erzählsituation außer Acht gelassen, da der Schwerpunkt auf der Figur Mahlke und ihren Eigenarten liegen soll.

Der zweite Teil soll kurz darauf eingehen, inwiefern Mahlke nicht als Einzelfall, sondern als symptomatisch für Staat, Gesellschaft und Kirche gesehen werden kann.

2. Die Figur Mahlke

2.1. Der respektierte Außenseiter

Im Umschlagtext zur Taschenbuchausgabe von „Katz und Maus“ schreibt Walter Jens:

„Ich halte die Figur des ‚Großen Mahlke’ für eine der ergreifendsten und glaubhaftesten Jungen-Gestalten der modernen Dichtung.“

Mahlke ist ein Sonderling, ein Einzelgänger, der aus der Gruppe der Gleichaltrigen heraustritt. Zunächst ist Mahlke ein unbeachteter Junge, der vollkommen unauffällig ist, sich nicht an den Freizeitaktivitäten seiner Altersgenossen beteiligt und nicht in die Gruppe integriert ist:

Als Joachim Mahlke kurz nach Kriegsbeginn vierzehn Jahre alt wurde, konnte er weder schwimmen noch Rad fahren, fiel überhaupt nicht auf und ließ jenen Adamsapfel vermissen, der später die Katze anlockte. Vom Turnen und Schwimmen war er suspendiert, weil er sich als kränklich ausweisen konnte, indem er Atteste vorzeigte. Noch bevor Mahlke das Radfahren lernte und steif verbissen, mit hochrot abstehenden Ohren und seitlich verbogenen, auf-und-untertauchenden Knien eine komische Figur abgab, meldete er sich während der Wintersaison im Hallenbad Niederstadt zum Schwimmen, wurde aber vorerst nur zum Trockenschwimmen mit Acht- bis Zehnjährigen zugelassen. Auch im folgenden Sommer war er noch nicht soweit. Der Bademeister der Anstalt Brösen, eine typische Bademeisterfigur mit Bojenleib und dünnen haarlosen Beinen unter dem stoffbespannten Seezeichen, musste Mahlke zuerst im Sand drillen und dann an die Angel nehmen. Doch als wir ihm Nachmittag um Nachmittag davonschwammen und Wunderdinge von dem abgesoffenen Minensuchboot erzählten, bekam er mächtigen Auftrieb, schaffte es innerhalb von zwei Wochen – und schwamm sich frei.[3]

Mit der Pubertät – und der Herausbildung seines überproportionalen Adamsapfels – beginnt Mahlke, ein Individuum zu werden und auch damit erst eine Figur, die dem Erzähler schilderungswürdig erscheint. Indem Mahlke aus seiner Bedeutungslosigkeit heraustritt, gewinnt er aus der Sicht von Pilenz erst eine gewisse Signifikanz. Um noch einen Schritt weiter zu gehen, könnte man auch sagen, dass erst sein Heraustreten aus der Masse ihn zu einer literarischen Figur macht, welche sowohl für die Figur als auch für den Erzähler Pilenz zu einer wichtigen Person wird, über deren Schicksal es sich lohnt zu schreiben.

Bevor Du schwimmen konntest, warst Du ein Nichts, das ab und zu aufgerufen wurde, zumeist richtige Antworten gab und Joachim Mahlke hieß.[4]

Mahlke lernt also zugleich, sich aus eigener Kraft über Wasser zu halten und auch, sich in der Flut von Menschen freizuschwimmen, sich einen eigenen Platz zu suchen, um aus der Anonymität herauszutreten.

Allerdings bleibt Mahlke, obwohl er nun von der Gruppe wahrgenommen wird, ein Außenseiter, der aufgrund seines Aussehens und Verhaltens von den anderen nicht akzeptiert wird.

Zwar bewunderten wir Mahlke; doch mitten im verquollenen Getöse schlug die Bewunderung um: wir fanden ihn widerlich und zum Weggucken. Dann tat er uns, während ein tiefliegender Frachter einlief, mäßig leid. Auch fürchteten wir Mahlke, er gängelte uns. Und ich schämte mich, auf der Straße mit Mahlke gesehen zu werden. Und ich war stolz, wenn Hotten Sonntags Schwester oder die kleine Pokriefke mich an Deiner Seite vor den Kunstlichtspielen oder auf dem Heeresanger traf. Du warst unser Thema. Wir wetteten: „Was wird er jetzt machen? Wetten wir, der hat schon wieder Halsschmerzen! Jede Wette gehe ich ein: Der hängt sich irgendwann mal auf oder kommt ganz groß raus oder erfindet was Dolles.“[5]

Diese Textstelle macht den Zwiespalt deutlich, mit dem ihm die anderen Gleichaltrigen gegenüberstehen. Seine Schwächen machen ihn angreifbar und verletzlich, was ihn für die Gruppe als Sündenbock und Projektionsfigur für die eigenen Unzulänglichkeiten prädestiniert. Gerade unter pubertierenden Jugendlichen ist so eine Person von sehr wichtiger Bedeutung, da sie im Prozess ihrer Identitätsfindung auf eine Gruppe von Gleichgesinnten angewiesen sind:

Für das Klassenkollektiv ist Mahlke ein störender Fremdling, der den Kollektivinstinkt beleidigt, weil er kollektives Verhalten nicht mitmacht.[6]

Doch der Störfaktor Mahlke ist in Wirklichkeit gar nicht unerwünscht, sondern wird von den anderen sogar benötigt. Der Außenseiter, der ihnen in seiner körperlichen Entwicklung voraus ist, erzeugt bei ihnen Minderwertigkeitsgefühle, die sie durch ihr Verhalten gegenüber dem Einzelgänger zu vertuschen und zu kompensieren versuchen. Deshalb sind sie auf Mahlke angewiesen, was ihm wiederum eine besondere Machtposition einräumt:

[...] als armer Adam, den das Kollektiv zur Projektionsfigur gemacht hat, beherrscht er auch das Kollektiv; Mahlke ist dem Kollektiv, das Kollektiv aber auch Mahlke verhaftet.[7]

Während also die Gruppe Gleichaltriger die vielzitierte „Katze“ aus dem Titel der Novelle darstellt, ist Mahlke die ungeschützte „Maus“, die dem Kollektiv unwillentlich als Spielzeug und Jagdobjekt dient. Die Tiermetaphorik lässt sich noch weiter treiben, wenn man in Mahlkes Bemühungen um Anerkennung die Fluchtversuche einer in der Falle sitzenden Maus sieht, die dadurch nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht und sich in noch größere Gefahr begibt.

2.2. Der „Große Mahlke“

Analog zur Abscheu, welche Mahlke bei seinen Mitschülern auslöst, empfinden diese jedoch auch eine gewisse Bewunderung für den Außenseiter, dessen Anderssein ihn für die anderen interessant macht. Führt er von außen betrachtet ein unscheinbares Dasein, so wird er für die Gruppe von Gleichaltrigen doch zu einer Figur von immenser Wichtigkeit:

Das Mitglied Mahlke blieb innerhalb der staatlichen Jugendorganisation, zumal die Überweisung vom Jungvolk in die Hitlerjugend kein Sonderfall gewesen war, unbekannt und farblos, während ihm in unserer Schule, schon nach dem ersten Sommer auf dem Kahn, ein besonderer, kein schlechter, kein guter, ein legendärer Ruf anhing.[8]

Gerade das Legendäre an Mahlke, dem „Großen Mahlke“, lässt sich von erzählten Erzähler Pilenz nur schwer auf einzelne Begriffe bringen – so benötigt er die knapp 180 Seiten der Novelle, um uns von dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit zu berichten. Mahlke ist für ihn ein schwer zu erfassendes Charakter mit für ihn nicht durchschaubaren Persönlichkeitsmerkmalen, die erst im Gesamtkontext, in der Gesamtgeschichte, ein Bild von seinem facettenreichen Schulkameraden ergeben, der sich leichter dadurch definieren lässt, was er nicht ist, als durch konkrete Schlagworte. Denn Mahlke ist anders als die anderen, er ist der „Große Mahlke“:

Aber kein Streber, büffelte mäßig, ließ jeden abschreiben, petzte nie, entwickelte, außer während der Turnstunde, keinen besonderen Ehrgeiz, hatte auffallende Abscheu vor den üblichen Sauereien der Tertianer und griff ein, als Hotten Sonntag einen Überzieher, den er zwischen Bänken im Steffenspark gefunden hatte, an die Türklinke der Klassentür stülpte. Studienrat Treuge, einem halbblinden Pauker, der eigentlich hätte pensioniert sein müssen, sollte eins ausgewischt werden. Jemand rief schon auf dem Korridor: „Er kommt!“, da drückte sich Mahlke aus seiner Bank, machte unbeeilte Schritte und entfernte das Präservativ mit einem Butterbrotpapier von der Klinke.

Niemand widersprach. Er hatte es uns wieder einmal gezeigt; und jetzt kann ich sagen: Indem er kein Streber war, nur mäßig büffelte, alle abschreiben ließ, keinen Ehrgeiz, außer während der Turnstunde, entwickelte und die üblichen Sauereien nicht mitmachte, war er schon wieder der ganz besondere Mahlke, der auf teils erlesene, teils verkrampfte Art Beifall sammelte; schließlich wollte er später in die Arena, womöglich auf die Bühne, übte sich als Clown, indem er glibbernde Überzieher entfernte, erhielt gemurmelte Zustimmung und war beinahe ein Clown, wenn er seine Kniewellen am Reck drehte und die silberne Jungfrau durch den sauren Turnhallenmief wirbelte. Aber den meisten Beifall stapelte Mahlke während der Sommerferien auf dem abgesoffenen Kahn, obgleich wir uns sein besessenes Tauchen kaum als wirksame Zirkusnummer vorstellen konnten. Wir lachten auch nie, wenn er Mal um Mal blau und bibbernd in den Kahn stieg, etwas hochholte, um uns hochgeholtes Zeug zeigen zu können. Wir sagten allenfalls nachdenklich bewundernd: „Doll, Mensch, prima. Deine Nerven möchte ich haben. Bist ein verrückter Hund, Joachim. Wie haste das bloß wieder hingekriegt?“[9]

Pilenz steht mit seinem zwiespältigen Verhältnis zwischen Bewunderung und Ekel stellvertretend für die ganze Gruppe. Er ist vermutlich derjenige, der Mahlke die Katze an den Hals setzt, was an anderer Stelle jedoch auch anders geschildert wird – jedenfalls wünscht er sich derjenige zu sein, der eine wichtige Rolle in der Geschichte Mahlkes gespielt hat. So ist es auch seine Aufgabe, das kollektive schlechte Gewissen der Gruppe niederzuschreiben, denn als vielleicht engster Vertrauter – wenn sich im Fall Mahlkes überhaupt davon sprechen lässt – ist er am stärksten zwischen den zwiespältigen Gefühlen dem Außenseiter gegenüber hin und her gerissen. Immer wieder hebt er hervor, wie hässlich und abstoßend Mahlke erscheint, doch betont er auch „ich bewunderte Dich, ohne das Du es darauf angelegt hattest.“[10] Er muss sogar zugeben:

[...] ich verspürte eine Art sahnebonbonsüßen Stolz auf Joachim Mahlke und hätte Dir gerne meine Armbanduhr geschenkt.[11]

Denn an Mahlkes Leistungssucht bewundert die Gruppe „gerade das Sinnlose und bewusst Zerstörerische“[12], da die Jugendlichen ihn um seine Ausdauer und seinen Eifer beneiden, ohne den wahren Antrieb hinter seinen Handlungen zu verstehen.

2.3. Mahlkes Makel: Das Adamsapfel-Motiv

Der überproportionierte Adamsapfel, „Mahlkes Motor und Bremse“[13], ist das wichtigste Leitmotiv der gesamten Novelle. Bereits auf der ersten Seite der Erzählung wird seine Signifikanz in Verbindung mit dem Titel des Werkes herausgehoben:

Mahlkes Adamsapfel fiel auf, weil er groß war, immer in Bewegung und einen Schatten warf. [...] denn Mahlkes Adamsapfel wurde der Katze zur Maus.[14]

[...]


[1] „Ohrenbeichte. Lieber armer Freund Schlieker.“ Gedicht. In: Sprache im technischen Zeitalter, September 1962, S. 341 – 343. Zitiert nach: Hermes 1997

[2] hierzu sei verwiesen auf: Piirainen 1968

[3] S. 8f (Alle Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf folgende Ausgabe:

Grass, Günter: Katz und Maus. Eine Novelle. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999.)

[4] S. 33

[5] S. 78f

[6] Emil Ottinger: Zur mehrdimensionalen Erklärung von Straftaten Jugendlicher am Beispiel der Novelle „Katz und Maus“ von Günter Grass. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1962. Carl Heymanns Verlag, Köln. S. 175 – 183. Zitiert nach Ritter 1977, S. 117

[7] Kaiser 1971, S. 17f

[8] S. 32

[9] S. 28f

[10] S. 31

[11] S. 56

[12] S. 76

[13] S. 104

[14] S. 5

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Mahlke – Weder Hitler noch Heiliger
Untertitel
Günter Grass’ Novelle „Katz und Maus“ als Charakterstudie und Gesellschaftskritik
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Deutsches Seminar)
Veranstaltung
PS II: Erzähltexte in ihrer Zeit: Die Fünfziger und Sechziger Jahre (1950 – 1965)
Note
1.0
Autor
Jahr
2002
Seiten
22
Katalognummer
V3845
ISBN (eBook)
9783638123761
ISBN (Buch)
9783638638340
Dateigröße
607 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mahlke, Weder, Hitler, Heiliger, Erzähltexte, Zeit, Fünfziger, Sechziger, Jahre
Arbeit zitieren
Stephan Rott (Autor:in), 2002, Mahlke – Weder Hitler noch Heiliger, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3845

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