Waldorfpädagogik im Kindergarten: Metaphysische Kunstlehre oder praxisnahe Erziehungskunst?


Seminararbeit, 1996

36 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung: Erziehung als Kunst

2. Grundlagen der Waldorfpädagogik
2.1. Erforschung und Kenntnis des Menschen
2.2. Der Mensch als dreigliedriges Wesen
2.3. Die vier Leiber des Menschen
2.4. Die vier Temperamente
2.5. Die schützenden Hüllen der menschlichen Wesensglieder
2.6. Die Entwicklung der Wesensglieder im Siebenjahresrhythmus

3. Das erste Jahrsiebt - Zentrale Thesen
3.1. Das Kind ist ganz Sinnesorgan
3.2. Leib und Seele sind untrennbar verbunden
3.3. Lernen durch Tun
3.4. Physiognomisch-wesenhaftes Weltbild des Kindes
3.5. Wollen als vorherrschende seelische Funktion
3.6. Das Kind lernt durch Nachahmung

4. Innere Struktur und äußerer Rahmen des Kindergartens
4.1. Strukturelle Gegebenheiten
4.2. Bauliche Besonderheiten von anthroposophischen Einrichtungen

5. ErzieherInnenpersönlichkeit
5.1. Weltanschaulicher Hintergrund und Ausbildung
5.2. Sixtinische Madonna als Urbild
5.3. ErzieherIn als Mutter
5.4. ErzieherIn als Vorbild
5.5. Elternarbeit

6. Pädagogische Grundprinzipien im Kindergarten
6.1. Zauberwort: Nachahmung und Vorbild
6.2. Zauberwort: Rhythmus und Wiederholung
6.3. Anthroposophische Spielförderung
6.4. Künstlerisch-musische Erziehung

7. Waldorfpädagogik im Kindergarten: Metaphysische Kunstlehre oder praxisnahe Erziehungskunst?
7.1. Steiners Erkenntnistheorie
7.2. Erstes Lebensjahrsiebt und empirische Wissenschaft
7.3. Kritik an der Waldorfpädagogik - Impulse aus der Waldorfpädagogik

8. Ausblick

Literaturverzeichnis

'Das Kind ist in Ehrfurcht aufzunehmen, in Liebe zu erziehen und in Freiheit zu entlassen.' (Steiner nach Lehner 1994)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Rudolf Steiner (Abb. 1) wurde am 27. Februar 1861 in Kraljevec als Kind eines Eisenbahnbeamten geboren. Nach seinem Abitur 1879 studierte er Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie in Wien. 1882 - 87 arbeitete er an der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes und war 1884 - 89 zugleich als Hauslehrer tätig. Ab 1890 war Rudolf Steiner Mitarbeiter am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und trat durch reiche schriftstellerische Tätigkeit hervor, die Steiners Auseinandersetzung mit der europäischen Geistesgeschichte (Hegel, Fichte, Goethe) und mit zeitgenössischen Denkern (Nietzsche, Haeckel) spiegelt. Als 30jähriger promovierte Steiner zum Doktor der Philosophie. Bald darauf erschien sein Buch 'Die Philosophie der Freiheit'. In diesem Werk fanden sich bereits wesentliche Grundlagen dessen, was Rudolf Steiner später zur Anthroposophie, seiner geisteswissenschaftlichen Lehre, ausbaute. 1897 übersiedelte Steiner nach Berlin und wurde dort Mitherausgeber des 'Magazins für Litteratur'. 1899 - 1904 wirkte er auch an der 'Arbeiterbildungsschule'; er verkehrte in verschiedenen Literatenkreisen Berlins und begann mit einer umfangreichen Vortragstätigkeit, die ihn durch ganz Europa führte. 1904 schrieb er sein erstes Werk zur Begründung der Anthroposophie als umfassende Geisteswissenschaft. In seine Werke findet eine umfassende Kenntnis der zeitgenössischen Wissenschaften Eingang, die in denkerischen Zusammenhang gestellt und durch okkultes Wissen ergänzt wird. 1913 begründete Steiner die Anthroposophische Gesellschaft. Die Gründung der freien Waldorfschule mit einer eigenen Pädagogik, die Ausgestaltung der Heilpädagogik und Vorschulerziehung folgten. Im Laufe der nächsten Jahre bis zu seinem Tod 1925 entwarf Steiner aus seiner 'ganzheitlichen Menschenkenntnis' heraus Impulse für Medizin und Pharmazie (z.B. Krebs-Misteltherapie), Theologie, Landwirtschaft (biologisch-dynamischer Anbau) und Architektur (vgl. Brockhaus 1993).

1. Einleitung: Erziehung als Kunst

Für Rudolf Steiner soll 'das Erziehen und Unterrichten ... zu einer wirklichen Kunst werden', zur Erziehungs-Kunst, deren 'lebensvolle Grundlage die Geisteswissenschaft sein muß' (nach Berger 1986). Steiner - ganz Kind seiner Zeit - stand damit durchaus im Einklang mit der Kunsterziehungsbewegung als pädagogische Strömung um die Jahrhundertwende.

Kunst spielt in der Waldorfpädagogik in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle, sei es die Auffassung von Pädagogik als Kunstlehre, die Sichtweise von Erziehung als künstlerische Aufgabe, Kunst als integrales Prinzip der Erziehung oder Kunst als Erziehungsmittel.

Es ist schwierig, wirkliche Kunst zu beschreiben und in Worte zu fassen.

Diese Arbeit möchte trotzdem den Versuch wagen, diese Erziehungskunst in ihren Grundzügen zu umreißen. In einem ersten Teil sollen die wichtigsten Grundlagen dieser Kunstlehre benannt werden - im Vordergrund stehen hierbei v.a. Aussagen zur Sichtweise und Entwicklung des Menschen im Vorschulalter. Der Schwerpunkt der Arbeit befaßt sich mit der praktischen Umsetzung dieser Kunstlehre - hier soll ein möglichst umfassendes Bild des täglichen Kindergartenalltags in seinen Grundzügen skizziert werden.

2. Grundlagen der Waldorfpädagogik

'Will man das Wesen der Seele durchschauen, so muß man das Gesetzmäßige mit künstlerischer Gestaltungskraft in der Erkenntnis durchdringen. Der Erkennende muß zum künstlerisch Schauenden werden' (Steiner nach Barz 1993).

Steiners Anthropsophie begreift Erziehung weder vorrangig als Sozialisationsprozeß, noch im Sinne des Behaviorismus - in erster Linie orientiert sie sich an entwicklungspsychologischen und entwicklungsphysiologischen Aspekten.

Die anthroposophische Menschenkunde - in Tab. 1 im Überblick dargestellt - ist demnach der Angelpunkt der Waldorfpädagogik, aus dem alle weiteren Grundaussagen hervorgehen.

2.1. Erforschung und Kenntnis des Menschen

Da sich erst aus den Erkenntnissen über das Wesen des Menschen pädagogische Forderungen ableiten lassen, muß nach Steiner '.. alle wirkliche Pädagogik, alle wirkliche Didaktik auf Menschenkenntnis beruhen. Dazu muß man sich aber erst die Möglichkeit verschaffen, in das Wesen des Menschen sachgemäß einzudringen' (nach Hobmair 1989).

Für jenes 'sachgemäße Eindringen' reichen nach Steiners Überzeugung jedoch die Erhebungsmethoden der empirischen Wissenschaften nicht aus, da sie bei ihrer Erforschung lediglich die körperlichen Aspekte erforschen können. Die 'Sinneswissenschaft' könne 'nur auf den Leib ... auf körperhafte Vorgänge gerichtet sein; sie kommt nicht zu einer Erfassung des ganzen Menschen' (Steiner nach Hobmair 1989).

2.2. Der Menschen als dreigliedriges Wesen

'So ist der Mensch Bürger dreier Welten. Durch seinen Leib gehört er der Welt an, die er auch mit seinem Leibe wahrnimmt; durch seine Seele baut er sich seine eigene Welt auf; durch seinen Geist offenbart sich ihm eine Welt, die über die beiden anderen erhaben ist' (Steiner nach Barz 1993). Aufgabe der Erziehung muß es nun sein, 'günstige Lebensbedingungen für Kinder zu schaffen und ganzheitliches Erleben zu ermöglichen, das seinen Leib gesund, seine Empfindung kraftvoll und seinen Geist hell macht' (Steiner nach Lehner 1994).

Da der Mensch in seiner Ganzheit außer seinem Körper auch eine Seele und einen Geist besitzt (Tab. 1), die sich jeder naturwissenschaftlichen Herangehensweise entziehen, ist es für Steiner unumgänglich, die bestehende Wissenschaft um jene Methoden zu erweitern, die das menschliche Wesen in seiner Ganzheit erfassen können. Mit seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft versucht Steiner diese methodische Grundlage zu schaffen, die als Basis der Waldorfpädagogik angesehen werden kann.

2.3. Die vier Leiber des Menschen

Weiterhin spricht die Anthroposophie dem Menschen vier Wesensglieder zu (Tab. 1):

- Der physische Leib ist ein menschliches Wesensglied, das aus Materie besteht, und in dem chemische und physikalische Kräfte wirksam sind.
- Der Ätherleib als zweites Wesensglied des Menschen ist Träger der Wachstums- und Fortpflanzungskräfte, der Gewohnheiten und Neigungen sowie des Gedächtnisses.
- Der Astralleib als drittes Wesensglied ist Träger der menschlichen Empfindungen, insbesondere der Lust, Unlust und der Begierden.
- Der Ich-Leib als höchstes menschliches Wesensglied ist der Träger des Bewußtseins, der Individualität, des unsterblichen Wesenskerns des Menschen' (vgl. Hobmair 1989).

Obwohl man meinen könnte, daß diese in vielen Teilen esoterisch anmutende Wissenschaft eher auf 'Imagination, Inspiration und Intuition' basiert, ist das Schaubild doch auch deutlicher Hinweis auf Steiners Schwäche für 'schöne Systeme, die in mathematischer Ästhetik aufgehen' (Barz 1993).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1 - Anthroposophische Menschenkunde im Überblick (nach Barz 1993)

Aus dem Zusammenspiel der vier Wesensglieder leitet Steiner den Grundtyp eines jeden Individuums ab. Der eher dominante Leib in der Gesamtkonstellation manifestiert sich im Erscheinungsbild eines der vier Temperamente.

2.4. Die vier Temperamente

Die klassische Einteilung der Temperamente in vier Grundtypen (Melancholiker, Choleriker, Sanguiniker und Phlegmatiker) geht auf die antike Temperamentenlehre von Hippokrates und den römischen Arzt Galen (ca. 200 n. Chr.) zurück (vgl. Brockhaus 1993). Dieser Medicus versuchte einen Zusammenhang zwischen Temperament und dem Mischungsverhältnis der 'Körpersäfte' zu belegen. Die Temperamentenkunde, die von Steiner aufgegriffen und in seine Lehre integriert wurde (Abb. 2), ist noch heute - weit nach der Blütezeit der Charakterkunde - ein fester Bestandteil der Waldorfpädagogik. Im Vorschulbereich wird dieser Typologie und den daraus resultierenden pädagogischen Forderungen noch nicht so viel Gewicht beigemessen und soll aus diesem Grunde hier nicht vertieft ausgeführt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.5. Die schützenden Hüllen der menschlichen Wesensglieder

'Wie der Mensch bis zu seinem Geburtszeitpunkt von einer physischen Mutterhülle, so ist er bis zur Zeit des Zahnwechsels, also bis etwa zum siebten Jahre von einer Ätherhülle und einer Astralhülle umgeben' (Steiner nach Hobmair 1989).

Nach Steiners Lehre sind bei jedem Menschen von Anfang an alle vier Wesensglieder angelegt. Jeder der vier Leiber ist jedoch mit einer schützenden Hülle umgeben. Erst wenn ein Wesensglied die Hülle abstreift, erfolgt die eigentliche Geburt dieses Leibes.

Steiner empfielt, erst dann auf ein Wesensglied erzieherisch einzuwirken, wenn es aus seiner Hülle freigesetzt ist, was ein unterschiedliches pädagogisches Vorgehen zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Mitteln erfordert.

2.6. Die Entwicklung der Wesensglieder im Siebenjahresrhythmus

Durch die 'Zahl als ordnendes Prinzip' wurde schon von alters her versucht, die menschliche Lebensspanne in unterschiedliche Sequenzen zu unterteilen. In Antike und Mittelalter gab es 3- und 4-Jahresrhythmen, die gebräuchlichste jedoch war die Siebenjahreseinteilung. Steiner griff die Siebenjahreseinteilung in seiner Lehre auf und teilte die Entwicklung der Wesensglieder in vier Abschnitte (Tab. 1). Im 7-Jahres-Rhythmus vollzieht sich - für die normalen Sinne nicht wahrnehmbar - die 'Geburt' der vier Leiber des Menschen. Im ersten Jahrsiebt - an dieser Stelle exemplarisch herausgegriffen - stellt sich aus anthroposophischer Sicht für das Kind die Aufgabe, seine physischen Organe in ihre 'natürlichen und gesunden Formen' zu bringen. Bei diesem Bildungsvorgang kommt der kindlichen Umgebung eine entscheidende Rolle zu, auf die in den weiteren Ausführungen noch näher eingegangen wird.

3. Das erste Jahrsiebt - Zentrale Thesen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2 - Anthroposophische Menschenkunde im 1. Jahrsiebt (nach Barz 1993)

Neben dem Bild vom Menschen sind für die erzieherische Praxis in Waldorfeinrichtungen vor allem die anthroposphische Entwicklungspsychologie und die davon direkt abgeleiteten Erziehungsgrundsätze interessant (Tab. 2). Diese Entwicklungsgesetze, unter denen die Inkarnation, das Ineinanderfügen von Geist, Seele und Leib geschieht, vollziehen sich in 7-Jahres-Stufen.

Für die Auseinandersetzung mit der pädagogischen Praxis im Vorschulbereich sind Steiners Aussagen zum ersten Jahrsiebent von Interesse, befindet sich doch das Kindergartenkind in dieser Phase.

3.1. Das Kind ist ganz Sinnesorgan

Was hindert uns Erwachsene daran, alles nachzuahmen, was wir wahrnehmen? - Nach Ursula Knipping (TPS 1985) kann der Grund darin gesehen werden, daß sich ein Erwachsener intellektuell von der Wahrnehmung distanzieren kann. Diese Möglichkeit wird dem Kind im ersten Jahrsiebt noch nicht zugesprochen. Durch die fehlende Schranke des Denkens, die dem Erwachsenen zum Abstand von der Welt und damit zum 'Eigensein' verhilft, wird das Kind bis zu einem Alter von 7 Jahren in seiner Welterfahrung als ganz von den unmittelbaren Eindrücken seiner Umgebung bestimmt gesehen. R. Steiner geht davon aus (Tab. 2), daß 'das Kind .. bis zum siebten Lebensjahr ganz Sinnesorgan' ist (TPS 1985).

3.2. Leib und Seele sind untrennbar verbunden

Im 1. Jahrsiebt soll das Wachstum, die Reifung und Ausgestaltung des physischen Leibs (Tab. 2) im Vordergrund stehen. Nach anthroposphischer Menschenkunde wirken hierbei die Sinneseindrücke, die das Kind aus seiner Umgebung aufnimmt, unmittelbar in den physischen Organismus und prägen dessen Aufbau. Leib und Seele stehen demnach untrennbar miteinander in Verbindung.

'Alle Sinneswahrnehmungen rufen in ihm gleichzeitig feinste vegetativ-organische Prozesse hervor, Prozesse, welche die weitere Bildung oder Mißbildung der Organsysteme ... bestimmen' (Kügelgen nach Berger 1986). Der ErzieherIn fällt in diesem Entwicklungsabschnitt die Aufgabe zu, die Umwelt passend zu gestalten. Es gilt hier vor allem, dem Kind harmonische Sinneseindrücke zu vermitteln, wofür vor allem gerundete Formen, sanfte Farben, rhythmische Bewegungen und ausgewähltes Spielmaterial geeignet erscheinen.

3.3. Lernen durch Tun

Basis des Lernens soll im ersten Jahrsiebt vor allem die eigene Erfahrung darstellen. 'Erst tun, dann begreifen! Lernen durch Tun, durch Spiel und Erleben!' ist die Maxime (Kügelgen nach Barz 1993). Das Tun als wesentliches Element im Vorschulalter betont auch die Waldorf-Koryphäe Freya Jaffke: 'Es steht eben in diesem Lebensalter obenan das Tun und in einem späteren das mit dem Verstand Begreifen. Alles Sprechen über eine Sache in extra ausgesparten Zeiten, jedes Abstrahieren und Reflektieren einer vorher ausgeführten Tätigkeit bleibt dem Schulalter vorbehalten' (Jaffke nach Barz 1989).

3.4. Physiognomisch-wesenhaftes Weltbild des Kindes

Anthroposophen gehen davon aus, daß das Kind in den ersten Jahren noch nicht rational oder logisch denkt. Der eher bildhaften Auffassungsgabe des Kindes versucht der Waldorfkindergarten u.a. durch regelmäßiges Erzählen von ausgewählten Märchen - ein fester Bestandteil des Tagesablaufs - und Geschichten gerecht zu werden. 'Da die Märchen primär die Seele und nicht den Verstand ansprechen sollen ... wird die häufige Wiederholung von Märchen als Gegenpol zur Erstickung der Sinne in der heutigen, multimedialen Reizüberflutung gesehen' (Berger 1993). Sie sollen eine 'positive Tiefenwirkung auf den kindlichen Charakter erzeugen' (TPS 1985).

Dem physiognomisch-wesenhaften Weltbild diametral entgegen stehen wortreiche Erläuterungen, intellektuelle Früherziehung und Erziehung zur Kritik im Kindergartenalter.

'Vor allem im ersten Jahrsiebent zieht jede frühzeitige Beanspruchung des intellektuellen Vermögens, alles Erklären und kritisch Beurteilen, alle provozierte und geforderte Gedächtnisleistung Kräfte ab, die noch der leiblichen Gesundheit, der Ausgestaltung des physischen Organismus und der tätig-bewegten Entfaltung des Willens dienen sollen, des Willens in den Sinnen und in der Nachahmung des Kindes' (Kügelgen nach Berger 1993).

3.5. Wollen als vorherrschende seelische Funktion

Das Wollen steht in den ersten sieben Jahren der kindlichen Entwicklung zentral im Vordergrund und wird als dominante seelische Funktion (Tab. 2) in engem Zusammenhang mit dem vorherrschenden physischen Leib gesehen.

Waldorfpädagogen gehen davon aus, daß sich das Kind erst im Nachvollzug einer Handlung gefühlsmäßig mit dieser verbindet und sich erst in einem weiteren Schritt gedanklich mit der vollzogenen Handlung beschäftigt.

3.6. Das Kind lernt durch Nachahmung

Aus den angeführten zentralen Thesen leitet die Waldorfpädagogik für das erste Jahrsiebt das tragende Prinzip von 'Nachahmung und Vorbild' (Tab. 2) ab. Aufgrund dieses Entwicklungsgesetzes sollte in Waldorfkindergärten so gearbeitet werden, daß alles für das Kind nachahmenswert sein muß und alle Tätigkeiten die schöpferischen Phantasiekräfte anregen.

'Mit Strenge soll daher darauf gesehen werden, daß in der Umgebung des Kindes nichts geschieht, was das Kind nicht nachahmen dürfte. Man soll nichts tun, wovon man dem Kind sagen müßte, das darfst du nicht tun...' (Steiner nach Hobmair 1989).

4. Innere Struktur und äußerer Rahmen des Kindergartens

1992 gab es weltweit etwa 1050 Kindergärten, die nach der pädagogischen Methode Steiners arbeiten. Der erste Waldorfkindergarten wurde 1925 in Stuttgart eröffnet - im Jahr 1992 gab es schon 300 davon in Deutschland (TPS-Extra 1992).

Die Waldorfkindergärten verstehen sich in vielerlei Hinsicht als eine Alternative zum herkömmlichen Regelkindergarten und unterscheiden sich grundlegend von diesem.

Die Umsetzung der Anthroposophie im Vorschulbereich findet auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt. So spiegeln sich Steiners Ideen nicht nur im pädagogischen Umgang wider, sondern sind in vielerlei Hinsicht im Kindergartenalltag präsent. Der Kindergarten wird allgemein von den Waldorfpädagogen als großer Haushalt gesehen, der auf die Lebensbedürfnisse der Kinder eingestellt ist.

Rahmenbedingungen, die sich deutlich von den üblichen Gegebenheiten in Regelkindergärten hervorheben, sollen im folgenden ausgeführt werden. Soweit es sich bei den Erläuterungen der Klarheit wegen anbietet, wird auf die Gegebenheiten im Gaustadter Waldorfkindergarten Bezug genommen.

4.1. Strukturelle Gegebenheiten

'Der Impuls, in Bamberg einen Waldorfkindergarten ins Leben zu rufen, ging von einem jungen Ehepaar aus. Sie hatten beide Pädagogik studiert und durch ihre Arbeit in einer waldorfpädagogischen Einrichtung ein tiefes Interesse an Anthroposophie gewonnen. Gespräche, private Kontakte, Annoncen in der Zeitung mit dem Ziel, einen Menschenkreis für eine Waldorfkindergartengründung zu begeistern, hatten bald Erfolg: Im Oktober 1982 gründen etwa 25 Menschen einen Waldorfkindergartenverein' (Festschrift 1990).

- Gründung und Leitung von Waldorfkindergärten

Obige Beschreibung der Anfänge im Gaustadter Kindergarten soll stellvertretend für die Vorgehensweise einer Waldofkindergartengründung angeführt werden - sie entstehen in der Regel aufgrund von Elterninitiativen. Wirtschaftliche und rechtliche Träger der Einrichtungen sind somit eingetragene Vereine, die von engagierten Eltern gebildet werden. An der Spitze des Vereins steht ein Vorstand, zu dessen Aufgaben es vor allem zählt, sich um die Anmietung von Räumen zu kümmern und geeignetes Personal einzustellen. Steiner legte von Anfang an Wert auf freie, selbstverwaltete Einrichtungen, die sich nicht nach kurzfristig schwankenden wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen und Erfordernissen richten müssen. Zwar muß der Waldorfkindergarten gewisse bildungspolitische Zugeständnisse an staatliche Behörden machen, Entscheidungen über internes Vorgehen des Kindergartens werden jedoch von den ErzieherInnen zusammen mit den Eltern getroffen. Ausgenommen hiervon sind alle pädagogischen Angelegenheiten im engeren Sinne - hier wird den Eltern in Waldorfinstitutionen kein Mitbestimmungsrecht zugestanden. Waldorfkindergärten sind in der Regel der 'Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten' angeschlossen, die Bamberger Einrichtung ist zudem noch dem Paritätischen Wohlfahrtsverband angegliedert.

Eine Kindergartenleitung sucht man in Waldorfkindergärten vergeblich. Ausgehend von der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller MitarbeiterInnen werden Entscheidungen generell gemeinsam getroffen - es wird nach dem Prinzip der kollegialen Leitung gearbeitet.

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Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Waldorfpädagogik im Kindergarten: Metaphysische Kunstlehre oder praxisnahe Erziehungskunst?
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Institut für Pädagogik)
Veranstaltung
Seminar: Fröbel-Montessori-Steiner, Vergleich und Aktualität
Note
sehr gut
Autor
Jahr
1996
Seiten
36
Katalognummer
V3607
ISBN (eBook)
9783638122252
Dateigröße
1169 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Sehr dicht - 10-Punkt-Schrift. 631 KB
Schlagworte
Kindergarten, Steiner, Waldorfpädagogik
Arbeit zitieren
Ulrike Roppelt (Autor:in), 1996, Waldorfpädagogik im Kindergarten: Metaphysische Kunstlehre oder praxisnahe Erziehungskunst?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3607

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