Werbung und Medien - ein parasitäres Verhältnis?


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

43 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Massenmedien und Medientheorien
1.1 Medientheorien
1.2 Auswahl einer Theorie als Grundlage
1.3 Zur Definition der Massenmedien

2 Der Ursprung der Werbung im Handel
2.1 Anfänge der Werbung
2.2 Werbung und kapitalistisches Produktionssystem
2.2.1 Die Geburt der Werbung aus dem Geist des Fernhandel
2.2.2 Werbung - nur eine Weiterentwicklung der Wirtschaft?
2.2.3 Werbung, Wirtschaft, Kultur
2.3 Werbung als Teilsystem der Wirtschaft?

3 Das Verhältnis von Werbung und Medien
3.1 Werbung als Programmbereich der Massenmedien
3.2 Funktion und Leistungen der Werbung
3.3 Wo steht die Werbung?
3.4 Ein parasitäres Verhältnis?

4 Exkurs und Fazit: Werbung als Massenmedium
4.1 Folgen einer Konzeption der Werbung als Massenmedium
4.2 Zusammenfassendes Fazit

Anhang
A1 Übersicht über die Medienentwicklung
A2 Einige Beispiele für Werbung im öffentlichen Raum

Literaturverzeichnis

Manche Dinge sind so alltäglich, daß sie einem eigentlich erst dann wirklich auffallen, wenn ganz bewußt ein großer Teil der eigenen Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird. Natürlich "weiß" jeder, daß wir täglich von großen Mengen an Werbebotschaften umgeben sind. Beim Versuch, sich daran zu erinnern, fällt einem dann vielleicht ein witziger Fernsehwerbespot oder eine prägnante Plakatbotschaft ein. Den größten Teil der Werbung, der wir im Laufe eines Tages begegnen, vergessen wir einfach wieder. Wenn wir erneut daran vorbeikommen, kommt er uns zuerst bekannt vor - und wenn es häufiger geschieht, daß wir einem bestimmten Werbespot etc. begegnen, ist dieser schon in einem solch' hohem Maß Teil unserer vertrauten Umwelt geworden, daß wir ihn einfach nicht mehr wahrnehmen. Eine Methode, sich diesen Umstand zu verdeutlichen, besteht darin, einfach jedes Vorkommen einer Werbebotschaft zu zählen - von den drei bis fünf Rundfunkwerbespots, die rund um die Nachrichten des Radioweckers angeordnet sind, über die Anzeigen im redaktionellen Umfeld der Tageszeitung bis hin zu den Werbebotschaften auf Plakatwänden, Litfaßsäulen, Straßenbahnen, Einkaufstaschen oder vielleicht sogar dem Kugelschreiber, den wir benutzen. Diese Aufzählung kann fortgesetzt werden bis zum Hinweis bei der Abendveranstaltung, daß sie nur mit der freundlichen Unterstützung dieser oder jener bekannten Firma stattfinden konnte. Natürlich kann und wird spätestens beim Markenkugelschreiber der Streit ums Detail beginnen: Ist das kleine unauffällige Signet LAMY überhaupt noch Werbung? Und wenn nicht, was ist es dann?

Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß in einer informationsindustriellen Gesellschaft so gut wie jeder Ort und so gut wie jede Zeit irgendwie mit Werbebotschaften verknüpft ist. Wir befinden uns in einer Umwelt, in der buchstäblich ständig mit mehr oder weniger raffinierten Methoden "Kauf dies!" - "Das ist gut!" - "Wähl mich!" - "Jenes ist besser!" - "Erfolgreich bist Du aber nur mit diesem!" geschrien, geflüstert oder geschrieben wird.

Trotzdem fühlen wir uns nicht wirklich gestört. Werbebotschaften werden größtenteils ignoriert, oder vielleicht auch ganz zweckentfremdet in den eigenen Alltag übernommen. Keinesfalls reicht jedenfalls ein beständiges "Kauf mich!" aus, um ein Produkt wirklich zu kaufen. Die Zielgruppe der Werbung - wir alle in unserer Funktion als KonsumentInnen - hat es erfolgreich geschafft, Werbung als Teil des Alltags hinzunehmen, sich aber keineswegs einfach brav davon manipulieren zu lassen. Umso verzweifelter scheint die Auseinandersetzung um die Resource Aufmerksamkeit zu verlaufen, die für die werbetreibende Industrie der erste Schritt zum Werbeerfolg ist. Exotische Werbestrategien bringen jedoch nur noch exotischere Integrationsmaßnahmen in den Alltag mit sich. Oder aber sie führen dazu, daß die KonsumentIn schlicht und einfach verärgert ist und anfängt, mit der beworbenen Ware negative Assoziationen zu verbinden und diese erst recht nicht kauft.

Soweit zu den alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Werbung. In dieser Arbeit soll es nun nicht darum gehen, neue Verkaufsstrategien zu entwickeln, und es soll auch nicht darum gehen, diesen alltäglichen Umgang mit Werbung im Sinne einer kulturellen Studie zu beschreiben. Statt dessen möchte ich mich der Frage widmen, wie Werbung und Massenmedien miteinander zusammenhängen, und welche Schlußfolgerungen sich aus diesem Zusammenspiel ergeben. Meine Ausgangsthese ist dabei die, daß Werbung in einem parasitären Verhältnis zum System der Massenmedien steht, daß das Werbesystem quasi die vom Mediensystem konzentrierte Aufmerksamkeit nutzt, um Werbebotschaften zu plazieren. In einem zweiten Sinne parasitär verhält sich das Werbesystem, indem es "kreativ - kreative Leistungen in anderen Systemen systemspezifisch transformiert, indem es sie auf wirtschaftsspezifische Ziele hin funktionalisiert." (Schmidt 1995, S. 42). In dieser Arbeit soll es um die erste Art parasitärer Ausnutzung des Mediensystems gehen[1]. Vielleicht ist es ja auch kein parasitäres Verhältnis - sondern ein symbiotisches? Um diese Frage zu entscheiden, bzw. um sie näher zu beleuchten, ist es notwendig, einen genaueren Blick sowohl auf die Massenmedien als auch auf die Werbung zu werfen.

In der Gliederung der Arbeit schlägt sich dies wie folgt nieder: Zuerst einmal werde ich auf das System der Massenmedien und auf seine Beschreibungen eingehen (Kapitel 1). Darauf folgt eine Beschreibung des Werbesystems und seiner Genese aus dem Geist des Freihandels (Kapitel 2). Das zentrale dritte Kapitel widmet sich der Frage nach dem Verhältnis von Werbung und Medien. Daraufhin wird der spezielle Bereich der nicht an eigenständige Massenmedien gebundenen Werbung noch einmal etwas ausführlicher erörtert, um abschließend zu einem zusammenfassenden Fazit zu kommen (Kapitel 4).

1 Massenmedien und Medientheorien

Bevor ich mich der Beziehung zwischen Werbung und Medien widmen kann, soll zuerst einmal definiert werden, was unter Medien verstanden werden kann. Danach stellt sich die Frage, welche mediensoziologische Theorie sich am besten zur Annäherung an den Zusammenhang von Werbung und Medien eignet.

1.1 Medientheorien

Unter Medien sollen in dieser Arbeit in erster Linie - also immer dann, wenn eine andere Verwendung nicht extra hervorgehoben wird - Massenmedien verstanden werden[2]. Es stellt sich damit also die Frage, was unter Massenmedien eigentlich zu verstehen ist. Eine Alltagsdefinition dazu könnte in etwa so lauten: Zu den Massenmedien zählen alle Medien, die ein großes Publikum erreichen - also primär Presse (Zeitungen, Zeitschriften) und Rundfunk (Fernsehen, Radio), sekundär oder umstrittener vielleicht auch die neuen elektronischen Medien wie das Internet und andere Spezialfälle wie Kino, Bücher, usw.

Diese Alltagsdefinition ist merklich verschwommen und erscheint deswegen für die soziologische Analyse eher als unbrauchbar. Ähnlich oberflächlich bleibt Anthony Giddens in seinem Lehrbuch Soziologie. Er definiert Massenmedien einfach als "Zeitungen, Zeitschriften, Film und Fernsehen", schreibt dann weiter, daß diese oft mit Unterhaltung assoziert würden und deshalb als Randerscheinung gelten, was aber irreführend sei, da Massenkommunikationsmittel Anteil an vielen Aspekten unserer sozialen Aktivitäten hätten. Weiter führt er aus, "daß sie Zugangsmittel zu einem Wissen darstellen, von dem viele gesellschaftliche Aktivitäten abhängen" und daß Massenmedien Einfluß auf unsere Erfahrungen haben. (Giddens 1995, S. 473; Herv. i. Orig.). Für die Zwecke dieser Arbeit nützlicher erscheint mir da eine Definition, die das Lexikon zur Soziologie liefert:

Massenmedien sind hochkomplexe soziale und technische Systeme mit großem, kontinuierlichem Informationsausstoß, der "blind" auf ein breites Publikum gerichtet wird, dessen Reaktionen nur ungenügend und indirekt zurückgemeldet werden. Da die M. z.T. großen politischen und wirtschaftlichen Einluß nehmen, ist ihre Kontrolle ein besonderes Problem des demokratischen Rechtsstaates. (1995, S. 422)

Der Systembegriff läßt natürlich sofort an Niklas Luhmann denken, der etwas genauer spezifiziert, wie Massenmedien systemtheoretisch einzuordnen sind. Er rechnet Massenmedien zu den Kommunikationsmedien, und zwar zum Untertyp der Verbreitungsmedien (denen die Erfolgsmedien gegenüberstehen, d.h. insbesondere die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Geld oder Macht). Verbreitungsmedien verbreiten Informationen und verwandeln dadurch Information in Redundanz. Auch mündliche Sprache und Schrift zählen für Luhmann zu den Verbreitungsmedien. Aber nicht alle (technischen) Verbreitungsmedien stellen auch Massenmedien dar. Das System der modernen Massenmedien unterscheidet sich von den älteren Verbreitungsmedien Sprache und Schrift insbesondere dadurch, daß soziale Redundanz in weit stärkerem Maße als bisher anonymisiert wird, d.h. daß niemand sicher sein kann, ob jemand eine bestimmte Information bereits erhalten hat. Durch diese Unsicherheit muß damit gerechnet werden, daß eine Information bereits bekannt ist und nicht erneut kommuniziert werden kann. "Jetzt entsteht ein Bedarf für laufend neue Informationen, den das System der Massenmedien befriedigt". Durch den selbsterzeugten Verlust von Informationen erzeugt sich das System der Massenmedien autopoietisch selbst. (Luhmann 1998, S. 202 f.). Diesen Begriff der Massenmedien als Funktionssystem bindet Luhmann dann an den Begriff der "öffentlichen Meinung":

Ein Medium in diesem Sinne [als Menge lose gekoppelter Elemente, T.W.] ist die »öffentliche Meinung« - gleichviel ob die Gesamtheit der Elemente psychisch als diffus verstreutes Aufmerksamkeitspotential verstanden wird, das durch Formenbildung temporär gebunden wird; oder sozial als Beiträge zu Themen der Kommunikation, wobei die Formenbildung im Bekanntsein (oder in der Unterstellbarkeit des Bekanntseins) liegt. Davon zu unterscheiden ist die Frage, welches soziale System dieses Medium produziert oder reproduziert - die Gesellschaft selbst oder ein eigens dafür ausdifferenziertes Funktionssystem. Nur dieses Funktionssystem soll mit dem Begriff der Massenmedien bezeichnet werden. (Luhmann 1998, S. 1098, Herv. durch T.W.]

Luhmann entscheidet sich schließlich dafür, dem Funktionssystem Massenmedien seine Existenzberechtigung zu verleihen, und es als das System zu bezeichnen, das mit dem Code Information / Nichtinformation im Medium "öffentliche Meinung" operiert und so ständig neu das produziert, was die Gesellschaft als Realität zur gesellschaftlichen Orientierung verwendet. (S. 1101 ff.) Ähnlich wie Luhmann argumentieren eine Reihe weiterer Theoretiker, wobei sich die Definitionsgrenzen, Funktionsbestimmungen, Codes etc. immer leicht voneinander unterscheiden (vgl. dazu Görke/Kohring 1996).

Ganz anders definieren Wulf D. Hund und Bärbel Kirchhoff-Hund - stellvertretend für eine ganze Epoche "materialistischer Soziologie" - den Begriff der Massenmedien. Für sie ist er unmittelbar an "den Übergang des Kapitalismus freier Konkurrenz zum Monopolkapitalismus" (Hund/Kirchhoff-Hund 1980, S. 74) gekoppelt - und damit an das Aufkommen von Werbung. Funktion der Massenmedien ist es bei Hund und Kirchhoff-Hund, im Anzeigenteil den "Kampf um die gesellschaftlichen Individuen als Konsumenten" und im redaktionellen Teil den "ideologischen Kampf um das Bewußtsein der gesellschaftlichen Individuen" (S. 76) zu führen. Ursache für das Auftauchen der Massenmedien sollen folgerichtig neben dem ökonomischen Interesse des Kapitals vor allem die neuen Qualitäten der Interessenorganisation der Arbeiterklasse sein, die nur auf diesem Weg der massenmedialen Beeinflussung in Schach gehalten werden konnte.

In eine nicht identische, aber doch ähnliche Richtung gehen mit jeweils unterschiedlichen Akzenten auch die Medientheorien von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (vgl. Horkheimer/Adorno 1988) bzw. von Hans Magnus Enzensberger (vgl. Enzensberger 1970). Massenmedien werden primär als Instrument der Manipulation angesehen, die Frage, um die es geht, ist die Frage, wer wen manipuliert. Während bei Enzensbergers Baukastentheorie die Technik der Medien an sich neutral ist, es also nur darauf ankommt, in wessen Hand die Massenmedien sich befinden, bringt Adorno auch Aspekte der Form hinein. Enzensbergers 70er-Jahre-Medientheorie gipfelt in der Forderung, daß jeder einzelne zum Manipulateur werden müsse, da dann die manipulative Wirkung der Medien sich quasi neutralisiere. Fazit: Massenmedien in die Hände der Massen, und alles wird gut. Adorno und Horkheimer dagegen setzten einige Jahrzehnte zuvor im berühmt gewordenen Kulturindustrie -Text (in dem sie, nebenbei bemerkt, auch auf den Reklamecharakter der Kultur eingehen), auf eine weitaus pessimistischere Variante: Nicht nur die Inhalte und Eigentumsverhältnisse, sondern auch die Form massenmedialer Kommunikation im Sinne des Fernseh-Altars im Wohnzimmer erzeugt sozial wirksame Effekte der Manipulation: Entmündigung und Passivität, die Fortführung der Fließbandarbeit in der Freizeit und damit die Unmöglichkeit des Hervorbringens eigener Gedanken.

Den Schwerpunkt ganz und gar auf formale Aspekte der Massenmedien legt Marshall McLuhan, dessen Werke über dreißig Jahre nach ihrem Ersterscheinen heute, in den 90er Jahren, wieder im Rampenlicht stehen. Medien, insbesondere elektr(on)ische Medien, sind für ihn vor allem unter dem Aspekt der Beschleunigung und der Ausweitung globaler Kontakte bedeutsam. Wichtiger als der Inhalt eines Mediums ist McLuhan dessen "Wesensart" (McLuhan 1995, S. 23). Das Medium selbst ist die Botschaft - sein Inhalt ist wiederum nur ein anderes Medium, etwa das elektrische Licht, die Sprache, das abstrakte Muster eines Denkvorganges. Auswirkungen auf die Gesellschaft hat das Medium durch seine Form, und hier insbesondere in der spezifischen Form elektronischer Medien:

In den Jahrhunderten der Mechanisierung hatten wir unseren Körper in den Raum hinaus ausgeweitet. Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben. Rasch nähern wir uns der Endphase der Ausweitung des Menschen - der technischen Analogiedarstellung des Bewußtseins, mit der der schöpferische Erkenntnisprozeß kollektiv und korporativ auf die ganze menschliche Gesellschaft ausgeweitet wird, und zwar auf ziemlich dieselbe Weise, wie wir unsere Sinne und Nerven durch verschiedene Medien bereits ausgeweitet haben. (McLuhan 1995, S. 15)

Mit McLuhan von der Funktion der Ausdehnung des Menschen durch Medien ausgehend argumentiert auch Jean Baudrillard, für den ebenfalls die Form der Medien im Vordergrund steht. Während er im Reqiuem für die Medien (1978) noch für Strategien der Subversion zur Unterlaufung und Infragestellung der Form plädiert - und darin einen Weg sieht, die Ambivalenz der Botschaften wiederherzustellen und die Macht der Medien zu dekonstruieren -, hat er diese Strategie in Videowelt und fraktales Subjekt (1989) aufgegeben. Mit dem virtuellem Menschen, dessen Körper und Gehirn ausgelagert ist, der selbst genau wie die Maschinen zum Bildschirm geworden ist, erscheint Medienkritik, und sei es Medienkritik in Form symbolischer Subversion, vollständig sinnlos. Letztendlich geht es nur noch um die Frage, ob es noch Unterschiede zwischen Mensch und Maschine gibt, und wenn ja, worin diese liegen.

1.2 Auswahl einer Theorie als Grundlage

Dieser bei weitem nicht vollständige par-force-Ritt über das Feld der Medientheorien macht eines deutlich: Die Wahl einer geeigneten Theorie als Instrument zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Werbung und Medien fällt nicht eben leicht. Eine Grundentscheidung könnte darin liegen, diejenigen Theorien weitestgehend zu ignorieren, die vor allem auf den Verdacht setzen, daß Medien - von wem auch immer - bewußt zur Manipulation bestimmter Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden. Damit fallen alle hier genannten inhaltsorientierten Theorien heraus, und es verbleiben Theorien, die sich an der Form der Massenmedien orientieren. Von diesen scheinen mir sowohl McLuhan als auch Baudrillard wenig zum Thema beitragen zu können[3]. Zu sehr ist bei beiden der analytische Blick der Ekstase postmoderner Möglichkeitswelten gewichen.

Als - wenn auch unhandliche - Grundlage für das weitere Vorgehen bleibt damit vor allem der systemtheoretische Ansatz Luhmanns übrig, der sich ja nicht nur zu Massenmedien als solchen, sondern auch zur Werbung geäußert hat - genauso wie einige weitere systemtheoretisch oder konstruktivistisch orientierte Autoren. Nichtsdestotrotz mag es im Zusammenhang mit der Verortung der Werbung weiterhin sinnvoll sein, einmal einen kritischen Blick auf jene ältere Theorien zu wagen, die Werbung, Massenmedien und Kapitalismus gleichsam in einen Topf werfen, und sie an geeigneter Stelle hervorzuzerren. Besonders beim - im Rahmen dieser Arbeit so nicht möglichen - Blick aufs Konkrete mag dies hilfreich sein.

Bewußt außer acht gelassen wurden die an den Inhalten der Medien orientierten Theorien, die auf die so oder so hermeneutisch oder linguistisch an das Thema herangehen. Zwar gibt es auch aus dieser Richtung sehr viel sowohl zu Massenmedien als auch zur Werbung (etwa Cook 1992, Hartmann/Haubl 1992). Ich hatte jedoch den Verdacht, damit bei der Klärung der Verhältnisse zwischen Werbung und Medien nicht viel weiterzukommen, da dafür der Blick auf die Strukturen dieser Verhältnisse doch vielversprechender erschien als der zugegebenermaßen faszinierend schillernde Versuch, in das Reich kollektiver Imaginationen hinabzutauchen und assoziative Aussagen zu finden.

1.3 Zur Definition der Massenmedien

Massenmedien können jetzt definiert werden als ein gesellschaftliches Funktionssystem, also als ein in der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft entstandenes System. Nach Görke/Kohring (1996, S. 18f) legt Luhmann drei Kriterien für die Grenzen dieses spezifische Funktionssystem fest: genannt werden (1) technische Verbreitungsmedien (also Rundfunk, Fernsehen, Presse- und Buchdruck) als Träger der Kommunikation, (2) die fehlende oder eingeschränkte Möglichkeit einer Anwesenheit voraussetzenden Interaktion zwischen SenderIn und EmpfängerIn sowie (3) der Code Information / Nichtinformation als primärer Leitunterscheidung jeder massenmedialer Kommunikation. Görke und Kohring beziehen sich hierbei auf Luhmanns Die Realität der Massenmedien (1995); ergänzend fügen sie hinzu, daß der Code Information / Nichtinformation aufgrund des systemtheoretischen Informationsbegriffes ebensogut durch einen Code neu / nicht neu ersetzt werden könnte[4]. Zusammenfassend geht es also um Kommunikationen mit der Leitunterscheidung der Aktualität, die über technische Verbreitungsmedien interaktionsfrei erfolgen.

Als exklusive Funktion der Massenmedien für die Gesellschaft[5]werden von verschiedenen Autoren verschiedene Funktionen vorgeschlagen. Görke und Kohring (1996, S. 23ff.) nennen hier die Thematisierungsfunktion, die Synchronisationsfunktion sowie die Selbstbeobachtungsfunktion. Mit Thematisierungsfunktion ist dabei gemeint, "durchsetzungsfähige Themen zur Anschlußkommunikation herzustellen, bereitzustellen, anzunehmen und zu verarbeiten." (Rühl 1993, S. 193; zit. nach. Görke/Kohring) bzw. mit Bernd Blöbaum, daß zur öffentlichen Kommunikation Information aktuell selegiert und vermittelt werden. Görke und Kohring kritisieren an dieser Funktionsbestimmung, daß alle Funktionssysteme Themen bzw. Information selegieren, daß nichts über den systemeigenen, die Themen prägenden Code gesagt wird, und daß die Annahme einer Vermittlungsfunktion (Aufnahme von Themen bzw. Informationen aus der Umwelt des Systems und Weitergabe derselben) der Funktionsweise von Massenmedien gravierend widerspricht oder doch zumindest weitestgehend an einen alten, "objektiven" Medienbegriff angelehnt ist. Die bspw. von Peter Spangenberg und Siegfried J. Schmidt vertretene Synchronisationsfunktion der Massenmedien geht hingegen davon aus, daß es die Funktion der Massenmedien ist, für die Gesellschaft festzulegen, was aktuell ist und so zu einer Synchronisation der intersubjektiven Wirklichkeit und zu einem Gefühl der Beteiligung beizutragen. Für Görke/Kohring kommt dabei aber zu kurz, mit welchen Mechanismen die Massenmedien diese Funktion erfüllen. Die Selbstbeobachtungsfunktion schließlich, wie sie von Frank Marcinkowski vertreten wird, lehnt sich an eine frühere Funktionsbeschreibungen Luhmanns an, nach der Massenkommunikation zur Beteiligung aller an der gemeinsamen Realitätsfiktion und zur Erzeugung dieser Fiktion dient (Luhmann 1991, S. 320; nach Görke/Kohring). Marcinkowski leitet daraus eine Funktion der "Selbstbeobachtung der Gesellschaft und Herstellung einer Selbstbeschreibung mittels Veröffentlichung von Themen und darauf bezogenen Beiträgen" ab (Marcinkowski 1993, S. 118; zit. nach Görke/Kohring). Nicht-Öffentliches wird in Öffentliches transformiert, die Gesellschaft wird mit Wirklichkeitsentwürfen konfrontiert, die unterschiedlichen Perspektiven der unterschiedlichen Teilsysteme werden zusammengeführt. Görke und Kohring teilen diese optimistische Einschätzung, nach der die Massenmedien durch Selbstbeobachtung der Gesellschaft zur gesellschaftlichen Intergration beitragen, nicht. Statt dessen führen sie Luhmann ins Felde, der die abstrakte Funktion der Selbstbeobachtung mit der Steigerung gesellschaftlicher Irritierbarkeit verknüpft. "Massenmedien steigern [dadurch] die Fähigkeit der Gesellschaft, Informationen zu erarbeiten. Oder genauer: Sie steigern die Komplexität der Sinnzusammenhänge." (Luhmann 1995, S. 58). Statt Sicherheit und Zusammengehörigkeit erzeugen Massenmedien also Unruhe, Unsicherheit und Irritationen.

Wie schon erwähnt, bindet Luhmann die Massenmedien an das Medium "öffentliche Meinung". Die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien scheint damit letztendlich darin zu liegen, durch die ständige Aktualisierung und Überarbeitung der öffentlichen Meinung die gemeinsam geteilte Öffentlichkeit (im Sinne gemeinsam geteilter Realität) zu aktualisieren und zu synchronisieren und so das Orientierungsraster der Gesellschaft zu produzieren (Luhmann 1998, S. 1101 ff.). Gesellschaft wird beschrieben. Dadurch wird Realität konstruiert: die Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems wird dirigiert (Luhmann 1995, S. 173).

Potentielle Kandidaten für die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien sind damit wohl hinreichend beschrieben - es stellt sich jetzt die Frage nach den Funktionen, die die Massenmedien für andere gesellschaftliche Funktionssysteme erbringen, die Frage nach ihren Leistungen. Auf diese soll hier nicht näher eingegangen werden: wir werden im Zusammenhang mit der eigentliche Frage nach dem Verhältnis zwischen Werbung und Medien wieder darauf zurückkommen. Zu fragen ist nun vor allem, ob Werbung ein Teil des Systems der Massenmedien ist (so beschreibt es Luhmann 1995), oder ob Werbung Teil des Wirtschaftssystems ist (so beschreibt es Schmidt 1995), was dann die Frage aufwirft, welche Leistungen die Massenmedien für dieses Teilsystem der Wirtschaft erbringen und umgekehrt. Bevor diese Fragen näher erörtert werden, wird es im nächsten Kapitel allerdings zuerst einmal ganz isoliert um die Werbung "als solche" gehen, und darum, wie sie sich zu ihrer heutigen Vielfalt hin entwickelt hat.

2 Der Ursprung der Werbung im Handel

Werbung, allg. jede Tätigkeit, die Menschen beeinflussen, gewinnen, für best. Ziele aktivieren will ( Propaganda). Die wirtschaftl. W. (Reklame) umfaßt alle Maßnahmen zur Absatzförderung: Anzeigen in Zeitung und Zeitschrift, Werbebrief, Prospekt und Broschüre, Katalog und Flugblatt, Plakat, Schaufenster, Licht-, Film- und Radio-Reklame usw. [...] (Brockhaus 1950, S. 637)

Werbung verkörpert, historisch betrachtet, eine alte Erscheinung: Firmenzeichen, Schilder und Ausrufer (deren Tätigkeit das lateinische Werb "reclamare" charakterisiert) dienten bereits in den Anfängen der Handelswirtschaft dazu, Käufer auf ein Gut aufmerksam zu machen und dieses von anderen abzuheben. Heute begegnet die Werbung den Menschen in westlichen Industrieländern auf Schritt und Tritt, dem Fußballfan beispielsweise in Form der Trikot- und Bandenwerbung, dem Zeitungs- oder Zeitschriftenleser in Form von Inseraten, dem Spaziergänger in Form von Plakaten usw. (Kaiser 1980, S.1)

[...]

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Werbung und Medien - ein parasitäres Verhältnis?
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Einführung in die Mediensoziologie (Hauptseminar)
Note
1,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
43
Katalognummer
V2705
ISBN (eBook)
9783638116329
Dateigröße
1022 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Werbung, Medien, Verhältnis, Einführung, Mediensoziologie
Arbeit zitieren
Till Westermayer (Autor:in), 1999, Werbung und Medien - ein parasitäres Verhältnis?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/2705

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