Der Un-Klang Neuer Musik - Warum sie nicht gehört werden will


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

23 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

Musik und Gesellschaft

Hin zur Neuen Musik - Eine historische Reflexion

Neue Musik als Antithese

Musikrezeption, progressiver Avantgardismus und die Rationalität

Die Musikwissenschaft und ihr Einwirken auf Musik heute

Relativierende Einwände

Schluß

Bibliographie

Vorwort

„Es geht bei der neuen Musik um die Frage, die Beethovens Werk überschattete: Verkettung von musikalischer Form und menschlicher Gesinnung.“[1]

Neue Musik als Streitobjekt. Es ist offensichtlich, daß Neue Musik heutzutage eher auf ablehnende Haltungen stößt, als auf große Zuneigung. Fragt man nach Neuer Musik, hört man oft „Das verstehe ich nicht.“ oder „Das klingt ja furchtbar.“ Fragt man dann hingegen nach Mozart oder Telemann, bekommt man ein „Ja, das ist doch schön!“ zurück.

Auf den ersten Blick scheint dies klar. Das eine ist schön, das andere klingt furchtbar und ist deshalb in seinem Unharmonischsein abzulehnen.

Wir haben es hier mit einem sehr multidimensionalen Problem zu tun, determiniert durch geschichtliche, gesellschaftliche sowie wissenschaftlich-ontologische Hintergründe. Die Beschäftigung mit Musik generell ist heute, im Zeitalter der reflexiven Moderne (Beck), der Postmoderne (Jencks), wie immer man es nennen möchte, nicht eindimensional möglich. Musik ist eine Avantgarde, eine Antithese zum gesellschaftlichen Zustand, ein Indikator für Bewußtseinsebenen, ein symbolisches Kapital zur Statuserhöhung, ein Untersuchungsgegenstand für die Wissenschaft, ein Experimentierfeld für Komponisten. Versucht man auszumachen, was Neue Musik ist oder sein soll, müssen alle Punkte angesprochen werden, ansonsten ist das entstehende Bild unvollständig und somit unverständlich.

Während der Beschäftigung mit diesem Thema stieß ich auf viele Fragen, die beantwortet werden müssen, damit sich - zumindest ein grobes - Bild der Neuen Musik zeichnen läßt: In wie weit ist Musik in den gesellschaftlichen Kontext eingebettet und wie stark wird sie dadurch geformt? Ist Musik ein progressives Moment inhärent und hatte Musik nicht schon immer einen avantgardistisch-progressiven Charakter, welcher bei ihrem Publikum nicht immer auf Gegenliebe stieß? Unterliegt eine Vielzahl von Menschen einem solchen Harmoniebedürfnis, daß Rezeption Neuer Musik für sie völlig unwahrscheinlich ist? Wieso hört man heute primär ältere bzw. alte Musik? Was passierte mit der Musik 1945 und welche Auswirkungen hatte das auf die weitere Entwicklung? Ist Neue Musik nur noch aus der Wissenschaft heraus verstehbar?

Diese Herangehensweise an das Thema der Neue Musik soll durchaus interdisziplinär zu verstehen sein. Zu oft empfindet man innerhalb der Wissenschaften einen zu engen Blick auf den Analysegegenstand. Verstehbar wird der zu betrachtende Gegenstand nur, wenn man ihn in einen Gesamtkontext zu setzen vermag. So ist es auch mit der Musik, und erst recht mit der Neuen Musik, soll sie als zu betrachtendes Phänomen in der Wissenschaft verstanden werden.

Ich möchte in den Mittelpunkt dieser Arbeit die Neue Musik stellen, möchte jedoch auch das Terrain um sie herum abtasten. Fragen, wieso sie einen solch schweren Stand hat. Dazu muß zuerst geklärt werden, in wie weit sich innerhalb der Musik eine gesellschaftliche Determination und daraus resultierend eine mögliche Deskription feststellen läßt. Davon ausgehend kann die Frage nach der gesellschaftlich-historischen Entwicklung hin zur Neuen Musik beleuchtet werden. Hierbei sind mehrere Punkte evident. Wie sieht Musikrezeption heute aus? Warum sieht sie so aus? Wieso ist es möglich, heute alte Musik zu hören?

Ausgehend von der Existenz einer Wissenschaft von der Musik, der Musikwissenschaft, ist Musik heute auch als wissenschaftlicher Gegenstand verstehbar. Welche Auswirkungen das auf das Musikverständnis hat, soll ebenfalls angesprochen werden.

Ein vollständiges Bild, ist es mir an dieser Stelle zu konstruieren nicht erlaubt. Ich möchte jedoch innerhalb der Diskussion um die Neue Musik teilnehmen, da ich denke, daß es nach wie vor ein etwas unterbelichtetes Feld darstellt.

Musik und Gesellschaft

Im alltäglichen Umgang mit der Musik nehmen wir diese kaum als eine gesellschaftliche Erscheinung war. Dabei ist sie hinsichtlich der gesellschaftlichen Dimension gleich zweierlei. Einerseits ist sie ein Produkt gesellschaftlicher Umstände, wirkt aber gleichzeitig mit ihrem Entstehen reflexiv auf ihren gesellschaftlichen Geburtsort zurück. So ist es einerlei, von welcher Seite her man das Phänomen Musik betrachten möchte. Es ist beispielsweise möglich, Bach einem näher zu bringen, indem man sich direkt der Bachschen Musik widmet; ebenso ist es möglich, einem den Meister des Kontrapunktes und sein Tun dadurch verständlicher zu machen, indem man sich gesellschaftsphilosophische Überlegungen und Tatsachen der Zeit des Barock zuwendet.

Warum Musik und vor allem Neue Musik so klingt, wie sie klingt, kann nur verständlich werden, wenn gesellschaftliche Tatsachen mit in ihre Analyse einbezogen werden. So sind reine Analysen Werke moderner Komponisten (wie auch älterer) nicht sinnhaft, wenn auf ein Bild des gesellschaftlichen Hintergrundes verzichtet wird. „Jede Analyse musikalischer Werke, auch eine streng ‘immanente’, muß historisch fundiert sein - mindestens negativ, also in dem Sinne, daß durch historische Erfahrung interpretatorische Irrtümer vermieden werden.“[2] Ein Komponist - und selbst wenn es der kontemplativste Romantiker ist - komponiert nicht völlig losgelöst jeglicher gesellschaftlicher Bindung. Auch ein Rückzug ist eine Reaktion auf gewisse Umstände. Und wenn ein Komponist ein Werk schafft, dann hat er damit auch immer etwas zu sagen, und zwar über die Umstände, in welchen er lebt.

Musik tritt in die Öffentlichkeit, indem sie reproduziert wird. Reproduktion, also Aufführung von Musik und natürlich ebenso ihre Interpretation, stellen das Bindeglied zwischen Produktion und Konsumption dar.[3] Hier ist der Raum des Konfliktes, die Kopplung des Komponisten mit der Gesellschaft, den Rezepienten. Somit wird Musik durch ihre Konsumption zur realen gesellschaftlichen Tatsache. Wird ihr ein solcher realer Stellenwert zugeschrieben, so stellt sie innerhalb der Gesellschaft ein Faktum dar, welches den Immanenzen gesellschaftlicher Bewegungen unterliegen kann und unterliegt. Folgt man der geschichtlich-dialektischen Denktradition der Frankfurter Schule, löste sich die Musikproduktion sowie ihre Rezeption seit der Emanzipierung der bürgerlichen Gesellschaft aus den traditionalen Einbindungen heraus und bekam einen selbständigen Charakter. Beethoven war der erste, der seine Musik in einem solchen Licht zu betrachten hatte. Zahlende Zuhörer in den bürgerlichen Konzerthäusern mußte etwas geboten werden. Die institutionelle Bindung zwischen Musikproduktion und ihrer Hörerschaft war aufgehoben, und Musik mußte sich nun als Ware auf einem Markt behaupten. Ist erst einmal der Warencharakter der Musik innerhalb einer auf kapitalistischen Prinzipien beruhenden Gesellschaft konstatiert, unterliegt sie, genau wie andere Warenbeziehungen auch, der Manipulation. Der autonome Anspruch der isolierten Kunstwerke wurde gebrochen und durch den Marktbedarf ersetzt, so Adorno. Musik als verdinglichte Entität, die den Marktgesetzen sich anpassen muß bzw. angepaßt wird, um darüber ihre Daseinsberechtigung zu erlangen.

So erhält Musik ihr Stellung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft als Ware, die in diesem Sinne durchaus gesellschaftsrelevante Funktionen zu erfüllen hat. Sie ist Quelle der Unterhaltung, der Entspannung, des Trostes, der Freude, des Rausches, des (intellektuellen) Gespräches. Und selbst Neue Musik wird von diesen Funktionsbereichen nicht ausgeschlossen und in ihr Gegenteil verkehrt, wenn man im Reden und Diskutieren über sie, seinen eigenen Status öffentlich machen kann. Fragt man heute nach der gesellschaftlichen Funktion von Musik, hat sich aus der autonomen Kunstsprache eine kommunikative entwickelt, eine Art Allerweltssprache der Musikkonsumierenden. Hinsichtlich dessen heißt es bei Adorno: „Die Frage nach der Funktion der Musik heute, in der Breite der Gesellschaft, wäre demnach die, was die zweite Musiksprache, das Relikt der Kunstwerke im Haushalt der Massen, dort leistet.“[4]

Musik findet heutzutage ihre gesellschaftliche Relevanz also in ihrem Massencharakter. Nicht unwesentlich hat dazu die Hervorbringung der Unterhaltungsmusik beigetragen. Nach und nach werden Werke alter Musik dem Massengeschmack nahegebracht und wenn es mit Vogelgezwitscher und Wasserrauschen zu Peer Gynt sein muß, dann auch das. Konsum von Musik findet nicht durch Rezeption der Musik an sich statt, sondern auf einer verlagerten Ebene. „Die platteste Antithesen sind dem Konsumentenbewußtsein recht, um sich vorm Zugriff der ihrem Erkenntnischarakter nach aktuellen Reproduktion zu schützen und eine Art des Musizierens zu gewährleisten, deren Hauptfunktion es ist, mit Traum, Rausch und Versenkung die Realität zu verbergen und den Bürgern im ästhetischen Bilde eben jene Triebbefriedigung zu verschaffen, die die Realität ihnen verwehrt; für die aber das Kunstwerk mit dem Preis seiner integralen Gestalt zu zahlen hat.“[5] Musik also, im Marxschen Sinne, zur Reproduktion der Arbeitskraft, zur Ablenkung und Zerstreuung. Da diese Verlange nach Musischem eingeklagt werden, werden sie auch angeboten und dies in Formen, wie wir sie eben schon beleuchtet haben.

Es ist offensichtlich, daß Musik gesellschaftlichen Ursprungs ist. Jedoch hat die Vermarktung als Ware in einem kapitalistisch funktionierenden System ihr Funktionen zugeschrieben, welche der eigentlichen Intention ihres Schöpfers nicht gerade gleich kommen. Meine Betonung liegt hierbei auf ernster Musik, da die (moderne!) Unterhaltungsmusik ohnehin nicht mit einem Impetus, die Musik an sich betreffend, geschaffen wird und wurde. Wir sehen also, daß Musik in ihrer Funktion an die Funktionslogik der Gesellschaft angepaßt und verwendet wird. Das trifft ebenso auf die gesellschaftliche Deutung Neuer Musik zu. Somit macht Musik als im gesamten zu verstehender Komplex, einen ausschlaggebenden Teil innerhalb der Funktionslogik der Gesellschaft aus.

Hin zur Neuen Musik - Eine historische Reflexion

Da wir nun festgestellt haben, daß Musik durchaus gesellschaftliche Relevanz besitzt, müssen wir uns zwei Mechanismen vor Augen führen. Die Funktion der Musik wird einerseits gesellschaftlich definiert, andererseits ist Musik jedoch dadurch nicht vollkommen der Fremdsteuerung ausgesetzt.[6] Sie kann, richtiger währe zu sagen, deren Produzenten können, auf geschichtliche wie gesellschaftlich stattfindende Prozesse reagieren. Das tun sie auch, wie wir andeutungsweise im ersten Abschnitt im vorhergehenden Kapitel analysiert haben.

Wenn wir die Radikalität der Ergebnisse musikalischen Schaffens in der zweiten Hälfte des ausgegangenen Jahrhundert (in Europa und den USA) betrachten, und wir legen einen solch erkennenden Anspruch an die Musikproduktion an, stellt sich die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben. Neue Musik wirkt so als Indikator.

Doch wie gelangte Musik zu einer solchen beobachtenden Stellung. Wiederum habe ich zwei Mechanismen der Entkopplung dafür anzubieten. Der eine ist der historisch institutionelle Fakt, der hier nicht mehr analysiert werden braucht; die Loslösung der Musik aus gesellschaftlich gesetzten Zwängen, die Mozart versuchte[7], aber noch scheiterte und Beethoven vollzog.

Der andere ist die Stellung der Musik innerhalb eines Komplexes, welcher die Entstehung einer politisch, wie ökonomisch ausdifferenzierten postmodernen Welt sowie das Geschehen zweier Weltkriege beschreibt. Gustav Mahler war es, der die gesellschaftliche Distanz in radikaler Form in Anspruch nahm. Die Begründung der Neuen oder Zweiten Wiener Schule, baute diese Distanz weiter aus, obwohl hier das Spielerische und das Interesse an musikalisch Machbarem eher im Vordergrund standen. Der radikale Bruch vollzog sich dann mit den Katastrophen der Weltkriege, welche nicht nur eine politische Verkommenheit zu Tage treten ließen, sondern auch zu einer kulturellen Tragödie beitrugen. „Daß in der Bildenden Kunst das Bild des Menschen und der Natur zerging und sich in der Literatur und in der Musik fundamentale Umwälzungen ereigneten, hat auch mit den traumatischen Erfahrungen einer verlorenen Generation zu tun, die davon überzeugt war, daß die bestialische Fratze der Epoche mit den herkömmlichen Mitteln nicht zu porträtieren sei.“, so Wittersheim in Bezug auf den 1. Weltkrieg.[8] Dann, kaum 15 Jahre später, wurde Europa in das größte Inferno gerissen, und das nicht nur in kultureller Hinsicht. 12 Jahre lang fand eine Feierung eines Wagnertums mit urdeutschen Vorzeichen statt, während in Auschwitz und Treblinka der größte Genozid der Menschheitsgeschichte veranstaltet wurde. Hitler prägte den Terminus der ‘entarteten Kunst’. Dieses Klima beschreibt den kulturellen Stillstand. Schönberg ging nach Kalifornien, Webern zog sich in die Berge zurück. Ein politisches Moment in der Musik, war nun nicht mehr zu leugnen. So wurde Musik in beiderlei Hinsicht traditionslos. Durch ihre institutionelle Entkopplung ebenso, wie durch ihre jetzt absolut notwendige Distanzierung gesellschaftlicher Art. Nicht allein dadurch mußte die Musik sich distanzieren, da nun klar geworden war, in welchem Maße Kunst, und Musik im spezielleren, zur Herrschaftsästhetik mißbraucht werden konnte. Eine Trennung von Musik und Gesellschaft war die absolut notwendige Konsequenz.

[...]


[1] Mayer, S.22

[2] Dahlhaus, S.295

[3] Adorno konstatierte 1932 in seinem Aufsatz ‘Zur gesellschaftlichen Lage der Musik’ die Reproduktion als Instanz zur Vermittlung zwischen Produzent und Konsument. Später jedoch weist er darauf hin, daß diese Formulierung zu ökonomisch gedacht war und verweist darauf, daß musikalische Produktion viel stärker noch gesellschaftlich determiniert ist. (vgl. Adorno (1973), S.425, Fußnote 1)

[4] Adorno (1973), S.220/221

[5] Adorno (1932), S.360

[6] Die Unterscheidung von Unterhaltungsmusik, heutiger Rezeption von alter/älterer Musik sowie die Produktion Neuer Musik ist hier von Wichtigkeit. Unterhaltungsmusik wird primär massenhaft (wie der Name schon sagt) rein zur Unterhaltung produziert. Das ist allein ihr gesellschaftlicher Zweck. Interpretation und Rezeption der Musik angefangen von der Gregorianik über (und vor allem) den Barock, Klassik sowie der Romantik unterliegt dem Mechanismus der Anpassung an den gesellschaftlichen Funktionsbedarf. Die Neue Musik ist es, die einzig noch von sich aus, auf die gesellschaftlichen Umstände reagiert und reagieren kann. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie nicht, ist sie einmal da, von der Immanenz der Gesellschaft assimiliert wird.

[7] vgl. hierzu Norbert Elias: Mozart. Zur Soziologie eines Genies, Frankfurt am Main 1991

[8] Wittersheim, S.56

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Der Un-Klang Neuer Musik - Warum sie nicht gehört werden will
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Musikwissenschaften)
Veranstaltung
Hauptseminar Musikwissenschaft
Note
2,7
Autor
Jahr
2000
Seiten
23
Katalognummer
V1672
ISBN (eBook)
9783638110358
ISBN (Buch)
9783638637343
Dateigröße
444 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neue Musik
Arbeit zitieren
Moritz Weisskopf (Autor:in), 2000, Der Un-Klang Neuer Musik - Warum sie nicht gehört werden will, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1672

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