Was hat Martins ADS-Diagnose mit mir zu tun? Entwicklung eines Konzeptes zur Bewältigung des Regelschulalltages


Examensarbeit, 2000

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Entscheidung für das Thema
1.2 Gliederung der Arbeit

2. Martin
2.1 Martin im 1. Schuljahr
2.2 Martin im 2. Schuljahr

3. Was hat Martins ADS – Diagnose mit mir zu tun ?
3.1 Die erste Auseinandersetzung mit der Diagnose
3.2 Die Bedeutung der erworbenen Kenntnisse
3.3 Die daraus folgende bisherige Entwicklung eines Konzeptes zur Veränderung meines Lehrerverhaltens, meiner Unterrichtsorganisation
3.4 Umsetzung der Sofortmaßnahmen und Auswertung
3.4.1 Beobachtungsprotokoll vom 28.03.2000 und dessen Auswertung
3.4.2 Beobachtungsprotokoll vom 30.03.2000 und dessen Auswertung
3.5 Gedanken zur Auswertung
3.6 Auseinandersetzung mit dem OptiMind-Konzept
3.7 Maßnahmenkatalog mit Anregungen aus dem OptiMind-Konzept

4. Abschluss

5. Literatur

6. Anhang

1. Einleitung

1.1 Entscheidung für das Thema

Im Rahmen der Auseinandersetzung mit meiner Person hinsichtlich meines Verhaltens in der Lehrerrolle und mit meiner Organisation von Unterricht stieß ich immer wieder auf die gleichen Schwierigkeiten.

Im bedarfsdeckenden Unterricht bin ich mit 4 Stunden pro Woche in Mathematik in einer

2. Klasse tätig. In dieser Klasse ist es sehr unruhig. Von Beginn an beschäftigte mich diese Unruhe stark. Ich suchte verschiedene Wege und Möglichkeiten, diese abzubauen und künftig zu präventieren. Ein Beratungsbesuch eines Fachleiters brachte mir Hilfen für die Organisation meines Unterrichtes, die ich gern aufgriff.

Die Umorganisation war ein Teilstück, das gewünschte Ziel - mehr Ruhe - zu erreichen.

Dennoch gab es einen Schüler, der sich davon allein nicht beeinflussen ließ.

Diesen Schüler nenne ich im Rahmen meiner Ausführungen Martin.

Immer wieder musste ich meine Unterrichtsvorhaben wegen Martin innerhalb der Stunden ändern, oder ich konnte ihn nicht wie alle anderen in den Unterricht einbeziehen.

Es gab viele negative Emotionen sowohl seinerseits als natürlich auch meinerseits. Ich begann, diese Schwierigkeiten näher zu betrachten, nach den Ursachen zu forschen.

Elterngespräche fanden statt.

Zu Beginn des Jahres 2000 erfolgte eine außerschulische psychologische Untersuchung, initiiert durch die Eltern.

Die Ergebnisse der Untersuchung brachten die Diagnose ADS hervor.

Die Feststellung, dass sich mein Verhalten Martin gegenüber seit dem Bekanntwerden der Diagnose grundlegend verändert hat, war gravierend für mich.

Diese Erfahrung war der Auslöser, mich im Rahmen der folgenden Ausführungen mit diesem Prozess auseinander zu setzen.

Mein Ziel ist es, Wege und Möglichkeiten zu suchen, die eine Erleichterung des Regelschulalltages sowohl für Martin als auch für mich beinhalten. Ich möchte versuchen, alle Faktoren, die dazu gehören, aufzuzeigen. Schwierigkeiten und Erfolge geben sich die Hand. Bereits umgesetzte Vorhaben und noch bestehende Vorhaben werden Teil der Ausführungen sein.

Mein Wunsch ist es, deutlich zu machen, dass es wichtig ist jedem Kind eine Chance ohne Vorurteile zu geben und für dieses Kind und sich selbst Hilfen zu suchen ohne aufzugeben.

Folgende Lehrerfunktionen sind Inhalt meiner Arbeit:

Situationen beurteilen, diese evaluieren, daraus innovieren und schließlich die Innovationen organisieren und mit den Eltern Kollegen und Therapeuten kooperieren.

Ich werde fast ausschließlich aus meiner Perspektive schreiben. Um die Ausführungen hinsichtlich der Veränderungen zu optimieren, habe ich im Rahmen von Team – Teaching

mein und Martins Verhalten und Reaktionen auf Verhaltensweisen explizit beobachten lassen. Auf diese Beobachtungen werde ich später zurückgreifen.

Im Folgenden werde ich die Gliederung nennen und mit der Beschreibung meiner Wahrnehmung von Martin beginnen.

1.2 Gliederung der Arbeit

Der nächste Gliederungspunkt wird - wie bereits genannt - die genauere Beschreibung meiner Wahrnehmung von Martin sein, wie ich ihn kennen gelernt habe, was ich bemerkt habe.

Das beinhaltet die Darstellung meiner persönlichen Emotionen, Gedanken und der damit verbundenen Schwierigkeiten.

Die Beschreibung umfasst den Zeitraum vom Tage des Kennenlernens bis zum Tag der Diagnose.

Anschließend werde ich auf die Entwicklung meines Konzeptes, welches aus Veränderungen meines Verhaltens, meiner Unterrichtsorganisation und meiner Ansprüche an Martin resultiert, eingehen. Die genannten Grundlagen für das Konzept basieren auf dem erworbenen Wissen über ADS.

Ich möchte bereits eingetretene Folgen der Veränderungen erläutern.

Zu den Folgen gehören Veränderungen auf beiden Seiten.

Im letzten Teil möchte ich die geplante Erweiterung und Entwicklung des Konzeptes schildern. Diese wird auf ein professionelles Konzept zurückgreifen. Ich möchte darstellen, was ich davon erwarte.

2. Martin

2.1 Martin im 1. Schuljahr

Martin ist mir im Februar des Jahres 1999 im 1. Schuljahr begegnet. Er war bereits ein halbes Jahr an der Schule, lernte Regeln und Anforderungen kennen. Ich begann mit der Hospitationsphase im Rahmen der ersten Ausbildungsphase der Referendariatszeit.

Mir ist sehr früh aufgefallen, dass Martin große Schwierigkeiten hat, sich an die Regeln der Klasse zu halten. Dies betrifft Arbeitsweisen, Gesprächsregeln und Verhaltensweisen.

Im Gesprächskreis äußert er sich spontan und ohne Meldung, ruft dazwischen ohne auf den thematischen Zusammenhang zu achten. Er reagiert beleidigt und auch aggressiv, wenn er nicht an der Reihe ist. Oftmals kommt er erst später in den Stuhlkreis, einige Male gar nicht.

Ist Martin an der Reihe, erzählt er phantasievoll bis ins kleinste Detail was er am Wochenende erlebt hat. Seine Darstellungen sind sehr lebhaft. Er unterstreicht diese durch viele Gesten und durch Lachen. Dabei fällt es schwer, ihn zu verstehen. Er redet sehr schnell, schaut auch nur in die Blickrichtung des Lehrers. Er wartet auf Rückmeldung. Der Zusammenhang seiner Erzählungen wird nach außen hin nicht immer klar, regelt sich oft aber durch die Rückfragen der anderen Kinder.

Erzählen die anderen Kinder, ist er gedanklich schon nicht mehr dabei. Er schaltet ab oder spricht mit dem Kind, was neben ihm sitzt, über seinen vorherigen Beitrag.

Das Stillsitzen fällt ihm sehr schwer. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her, ist immer in Bewegung.

Die Kinder arbeiten bereits im 1. Schuljahr oft nach Wochenplan. Dieser Freiraum für eigene Entscheidungen ist für ihn ein Hindernis.

Er findet sich nur schwer zurecht und fragt oft nach: „was muss ich jetzt machen ?“.

Wird ein neuer Arbeitsauftrag gestellt, hört er oft nicht zu und blockiert sich dadurch selbst.

Martin äußert sich dann so: „ ich kann das nicht“, „...ich will das nicht“, „..das ist so schwer“, „...das macht keinen Spaß“, „das ist langweilig“ etc.

Diese Zwischenrufe startet er ohne auch nur zu wissen, was er eigentlich machen soll.

Seine Mitarbeit ist ungleichmäßig, er ist sehr ablenkbar. Martin reagiert auf viele Dinge, die um ihn herum geschehen. Meist spielt er dann mit Unterrichtsgegenständen, Stiften, Radiergummi oder aber mit mitgebrachten Spielzeugen.

Er nutzt fast jede Gelegenheit, ein freies Stück Papier zu bemalen.

Auf diesem Papier drückt er innerhalb kürzester Zeit unheimlich viele Emotionen aus.

Seine Zeichnungen sind wie seine Erzählungen – hastig, inhaltsreich bis ins kleinste Detail, beschriftet, noch sehr krickelig. Die Gegenstände auf den Bildern sind sehr winzig dargestellt, sie wirken oftmals wirr.

Durch Rückfragen klären sich auch die Zusammenhänge der dargestellten Einzelheiten.

Mir fällt auf, dass Martin keine Leistungssicherheit zeigt. Er benötigt für alles was er tut eine Rückmeldung des Lehrers.

Dazu kommt, dass er immer wieder einen Antrieb von außen braucht, um seine Arbeit zu beenden.

Führt er eine Arbeit letztlich aus, geschieht dies sehr schnell und dadurch auch fehlerhaft. Das führt zu vielen Frustrationen und nimmt ihm die wenig vorhandene Motivation.

Fühlt Martin sich durch andere provoziert, reagiert er unkontrolliert. Er schlägt um sich, weint, brüllt, verschanzt den Kopf hinter den Armen. Für seine Reaktionen hat er keine Kontrollmöglichkeit. Es platzt aus ihm heraus. Manchmal reicht der kleinste Anlass, ein Ventil in ihm zu öffnen.

Für seine Unterrichtsmaterialien und seine Schulsachen empfindet er keine Verantwortung. Er behandelt diese ohne jede Sorgfalt. Viele Dinge liegen unter dem Tisch, werden zerrissen, verknickt, verlegt.

Der Klassenlehrer führt Einzelgespräche mit Martin vor der Klassenzimmertür. Für den nächsten Moment läuft gut. Es hält jedoch nicht lange an.

Durch den Lehrer erfahre ich, dass Elterngespräche geführt wurden und werden. Ein Resultat aus diesen ist, dass am Freitag jeder Woche der Mutter der Verlauf der Woche geschildert wird.

Das führt jedoch zu keinen nennenswerten Veränderungen hinsichtlich Martins Arbeits- und Sozialverhaltens. Es übt eher noch mehr Druck auf Martin aus.

Im zweiten Schulhalbjahr 1999 habe ich nach den Osterferien verstärkt auch selbst unterrichtet. Es kam immer wieder zu Konfrontationen und Auseinandersetzungen mit Martin.

Natürlich war mir klar, dass Kinder ihre Grenzen austesten sobald ein neuer Lehrer oder eine neue Bezugsperson erscheint.

Es war jedoch schwierig, den richtigen Zugang zu Martin zu finden. Ich hielt mich an die Vorgaben durch den Lehrer. Mir fehlte zu diesem Zeitpunkt jegliche Erfahrung hinsichtlich solcher Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit Kindern im Unterricht.

Ich reagierte aus dem Bauch heraus, ich reagierte anhand von Vorgaben, ich reagierte durch eigene Überlegungen.

Der Weg zu Martin jedoch war zu diesem Zeitpunkt noch weit.

2.2 Martin im 2. Schuljahr

Zu Beginn des 2. Schuljahres findet ein Klassenlehrerwechsel statt.

Grundsätzlich werden die beobachteten Arbeits- und Verhaltensweisen Martins im Verlauf des 2. Schuljahres bestätigt.

Doch nun stehe ich in einer ganz anderen Verantwortung dazu.

Ich bin mit 4 Stunden in Mathematik pro Woche in der Klasse. Hinzu kommen

1 Förderstunde Mathematik und 1 Förderstunde Sprache. 14tägig unterrichte ich Martin

6 Stunden in der Woche eigenverantwortlich.

Ein sehr wesentlicher Punkt kommt ebenfalls dazu. Die Leistungsfeststellung.

Es gibt kaum Möglichkeiten, Martins Leistungen zu sehen.

Grund sind seine Arbeitsverweigerungen. Auf gestellte Arbeitsaufträge folgen Äußerungen wie: „. das mache ich nicht, ist viel zu schwer“, „.das kann ich nicht“, „.ich weiß nicht, wie das geht“, „wo soll ich denn anfangen..“.

Er fasst die an alle gerichteten und für alle erklärten Arbeitsaufträge nicht auf. So gehe ich häufig mehrfach persönlich auf ihn ein.

Da ich alle Schüler beachten möchte und muss, kann ich mir nicht immer die Zeit nehmen, ihn mehrfach individuell anzusprechen und zu motivieren. Erklärungen durch andere Schüler akzeptiert er prinzipiell nicht. Martin hört nicht einmal zu.

Habe ich ihm den Auftrag erklärt und er hat ihn verstanden, arbeitet er nur kurze Zeit daran. Dann malt er etwas anderes dazu oder lenkt sich durch mitgebrachte Spielzeugautos, Zeitschriften, interessante Bilder oder Prospekte ab. Es fällt ihm sehr schwer und gelingt nur selten, Arbeitsaufträge zu beenden.

Stelle ich zu Beginn der Stunde Kopfrechenaufgaben, sträubt er sich ebenfalls von vornherein mit den bereits genannten Aussagen.

Spielen wir im Klassenverband Mister X ( Kopfrechenspiel ), macht er nur mit, wenn er anfangen darf. Er klinkt sich aus, wenn ein Kind die Lösung gefunden hat und ihn ablöst. Bald wird es ihm langweilig und er ruft immer wieder dazwischen.

Bei den an der Schule vereinbarten Übungsarbeiten rechnet er die ersten 3 bis 4 Aufgaben, dann gestaltet er sein Arbeitsblatt. Das macht er mit Zahlen, die auch alle im Zusammenhang stehen, hinter denen eine Struktur steckt. Er erfüllt jedoch nicht den gestellten Auftrag.

Dabei übersehe ich nicht, dass Martins Misserfolgssammlung größer wird, dies sein Lernverhalten natürlich immer negativer beeinflusst. Er steckt mitten im Teufelskreis der negativen Lernerfahrungen.

Es stört mich, dass er im Unterricht ständig dazwischen ruft.

Anfangs versuche ich, Geduld zu zeigen, ihn freundlich daran zu erinnern, dass es Regeln gibt. Diese Regeln hat die Klasse gemeinsam aufgestellt. Für einen Moment zeigt er Einsicht. Das lässt schnell nach. Ich reagiere bestimmt, reagiere gereizt, reagiere laut.

Die Bestimmtheit meines Verhaltens steigert sich. Martin blockt, brüllt. Verliert die Kontrolle über das Ausmaß seines Verhaltens.

Wenn Martins Fördergruppe Förderunterricht hat, weigert er sich jedes Mal, daran teilzunehmen. Er möchte nach Hause: „... die anderen gehen auch, wieso muss ich bleiben ?“

Daraufhin erkläre ich immer wieder, dass ich ihm in diesen Stunden gezielt helfen möchte und er dafür in der nächsten Woche keinen Förderunterricht hat.

Soweit kann er nicht vorausdenken, das ist für ihn kein Argument. Martin kann nicht sehen, dass er in der nächsten Woche früher nach Hause gehen kann. Er hat kein Zeitgefühl für diesen Zeitraum.

Genauso verhält er sich vor den Religionsstunden. Er findet diese langweilig und reagiert sehr aggressiv. Er versteckt sich unter dem Tisch, schaut ständig zu mir. Achtet genau darauf, ob ich ihn sehe. Mir kommt es so vor, als provoziere er mich bewusst.

Er nimmt seinen Tornister, zieht ihn Stück für Stück hinter sich her. Martin versucht, sich aus dem Zimmer zu schleichen. Er möchte zur Garderobe, seine Jacke nehmen und gehen. Versuche ich, ihn freundlich wieder einzubeziehen oder am Gehen zu hindern, verliert er die Kontrolle über seine Reaktionen.

Diese Momente verlaufen für uns beide sehr dramatisch. Er brüllt, weint, wirft sich auf den Boden, schreit seine Empfindungen aus sich heraus. Ich kann ihn durch Worte nicht erreichen. Die Situation löst sich nur, indem ich ihn fest in den Arm nehme und ganz ruhig auf ihn einrede. Oder ich halte ihn fest und streichle ihm über den Kopf. Der

Körperkontakt geschieht nach Absprache mit den Eltern.

Diese Momente kosten beide sehr viel Kraft.

Dadurch setze ich mich gedanklich immer wieder mit Martin und seinen Schwierigkeiten auseinander. Es muss doch einen Weg geben, diesem Kind und mir diese negativen Emotionen zu ersparen !

Kann ich seine Einstellung verändern ?

Wodurch kann ich ihn motivieren ?

Habe ich die Berechtigung, die Anforderungen so differenziert zu stellen, dass er vom Umfang einfach weniger leisten darf ?

Was sind die Ursachen für sein Verhalten ?

Wie kann ich die anderen Kinder dazu bringen, seine Reaktionen nicht zu provozieren ?

Die Antworten auf diese Fragen gebe ich mir erst später oder bekomme sie erst später. Vorerst führe auch ich die Elterngespräche, gemeinsam mit dem Klassenlehrer oder auch allein.

Martin befindet sich bereits seit geraumer Zeit in ergotherapeutischer Behandlung.

Dies sind meist Einzelsitzungen und haben auf das Verhalten im Unterricht keinerlei Auswirkung. Die Arbeitsbedingungen in der Schule sind für ihn völlig anders.

Wir sind uns darüber einig, dass Martin keinen Sonderstatus innerhalb der Klasse einnehmen soll. Die Eltern sind in ihren Gesprächen kooperativ.

Resultat dieser Gespräche ist, dass Martin seinen Willen nicht durchsetzen darf, dass er den gestellten Anforderungen nachkommen muss. Sonst würde er sein Verhalten vielleicht als Mittel zum Zweck ausüben.

Sie reden zu Hause viel mit ihm, erklären ihm die Dinge. Immer wieder. Martin verspricht, daran zu denken und sich an die Regeln zu halten. Es hält nicht lange vor.

Er hat ein ausgeprägtes Empfinden für seine Schwächen.

Ihm ist bewusst, was gut läuft und was nicht gut läuft. Er spricht am Ende des Unterrichtes die Dinge genau an.

Es tut ihm leid, wenn er sich nicht so wie erwartet benommen hat.

Er hat mit sich dabei große Probleme und es belastet ihn sehr. Martin äußert sich dann so, dass er enttäuscht von sich selbst ist: „ich habe mich wieder nicht daran gehalten.“

Sein Selbstbild beinhaltet wenig Positives.

Momentan sucht er überall Spiegel, steht auch während der Stunde auf und sucht sein Spiegelbild – nur um zu sehen, ob sein Gesicht sauber ist.

Das macht er ganz unvermittelt, mitten in den Arbeitsphasen. Er geht nicht auf Zurufe ein, antwortet nicht auf Fragen, er nimmt sie nicht wahr. Sein dringlichstes Problem steht im Vordergrund, die Sauberkeit. Alles andere existiert in dem Moment nicht.

Martin ist ein sehr sensibles Kind.

Ich suche den Weg der Gespräche zu ihm. Oft gelingt es mir nicht, weil ich Zeitnot und Leistungsdruck empfinde. Dadurch gebe ich vielleicht zu früh auf. Oft ist es aber auch so, dass diese Gespräche zu ausführlich werden. Er ist gut in der Lage, Diskussionen zu führen und Argumente zu finden. Und ganz plötzlich spricht er von anderen Dingen, die

in keinerlei Zusammenhang zum vorherigen Gespräch stehen.

Es ist wenig sinnvoll alles zu besprechen. Damit kann ich ihn nicht zur Arbeit motivieren.

Es ist sehr anstrengend, sich immer wieder auf die Störungen durch Martin einzulassen. Es sind natürlich auch nicht die einzigen Störungen des Unterrichtes. Ganz „normale Probleme“ der anderen Schüler kommen täglich dazu. Mir fällt es schwerer, die eigene Motivation aufzubringen, ruhig und geduldig zu bleiben, manchmal wieder ruhig und geduldig zu werden.

Die anderen Schüler werden einbezogen. Auch ich versuche, die Gemeinschaft der Klasse zu stärken und Verständnis für Martin zu wecken. Ich sage den Schülern, dass Martin unsere Unterstützung benötigt, weil ihm viele Dinge schwerer fallen als „uns“.

Durch Veränderung der Sitzordnung versuche ich, ihm gerecht zu werden. Ich setze einen Schüler neben ihn, der ruhig ist.

Dadurch will ich erreichen, dass Martin Unterstützung von ihm bekommen kann und Ruhe übertragen werden kann. Dadurch verspreche ich mir ein wenig Entlastung und Einbezug der Schüler zur Entwicklung einer Art Solidargemeinschaft.

Aber der Versuch misslingt. Der andere Schüler kommt mit Martins Unruhe nicht zurecht. Für ihn ist die Belastung zu groß, er selbst kann nicht genug gefördert werden. Seine eigenen Bedürfnisse gehen unter.

Die Situation verschärft sich.

Die anderen Schüler reagieren zunehmend negativ: „Martin, nicht schon wieder ausrasten.“

Dies ist eine der harmloseren Aussagen. Die Kinder verstehen einfach nicht, warum das so passiert. Sie können auf Grund dessen kein Verständnis zeigen.

Es leidet nicht nur die Unterrichtsqualität. Martin leidet und auch die Lehrer fühlen sich hilfloser.

So wird von Seiten der Schule überlegt, ein Überprüfungsverfahren einzuleiten.

Das wird von Martin`s Eltern abgelehnt. Sie befürchten einen Schulwechsel, sie möchten weder diesen noch einen Klassenwechsel. Sie geben Auskunft darüber, dass Martin weniger Angst und „Bauchschmerzen“ vor der Schule hat als im 1. Schuljahr. Er redet häufiger von der Schule.

Sie bitten weiterhin um Geduld mit Martin.

Schließlich fassen sie den Entschluss, Martin unabhängig von der Schule und ihren Möglichkeiten testen beziehungsweise untersuchen zu lassen.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind deutlich.

Martin leidet unter dem Aufmerksamkeits – Defizit – Syndrom mit Hyperaktivität,

A-D-S+H.

Dieses Ergebnis bedeutet mir endlich Klarheit über die Ursachen.

Dieses Ergebnis hilft mir, sich verstärkt auf den Weg zu Martin zu machen.

Es bringt Veränderungen mit sich.

3. Was hat Martins ADS – Diagnose mit mir zu tun?

3.1 Die erste Auseinandersetzung mit der Diagnose

Als mir die Diagnose im Februar mitgeteilt wurde, fiel mir eine Last von den Schultern. Ich hatte eine Ursache, und nun hieß es, sich mit dieser auseinander zu setzen.

Martins Mutter sprach sehr offen darüber und bezog mich in ihre Auseinandersetzung und Situation stark mit ein.

Sie gab mir Informationen, einige Informationsmaterialien und hilfreiche Anstöße aus den Veränderungen des Ablaufes zu Hause..

Zuerst schilderte sie mir Martins Wahrnehmung.

Diese funktioniert so, dass er die Reize seiner Umgebung nicht filtern kann. Alles stürzt gleichzeitig auf ihn ein. Die Reize kann er nicht gewichten und kanalisieren. So erklärt sich auch das „Durcheinander in seinem Kopf“, was er selbst so formulierte. Die Informationsflut kann vom Gehirn nur schwer bewältigt werden. Das führt bei A-D-S Kindern zu motorischer Unruhe, innerer Hektik, Verwirrtsein, mangelnder Übersicht und Blockade bei den Arbeiten.

[...]

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Was hat Martins ADS-Diagnose mit mir zu tun? Entwicklung eines Konzeptes zur Bewältigung des Regelschulalltages
Hochschule
Studienseminar Bielefeld
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
34
Katalognummer
V85
ISBN (eBook)
9783638100618
ISBN (Buch)
9783638799294
Dateigröße
488 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Martins, ADS-Diagnose, Entwicklung, Konzeptes, Bewältigung, Regelschulalltages
Arbeit zitieren
Carola Bussemas (Autor:in), 2000, Was hat Martins ADS-Diagnose mit mir zu tun? Entwicklung eines Konzeptes zur Bewältigung des Regelschulalltages, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85

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