Die Entwicklung des internationalen Terrorismus und seine Bedeutung für Europa


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

27 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

I. Zum Wesen des (internationalen) Terrorismus
1. Was ist (internationaler) Terrorismus? – Schwierigkeiten bei der Begriffsbestimmung
2. Die Entwicklung des internationalen Terrorismus in Europa und in der BRD
a) In Europa
b) In der BRD
3. Formen des Terrorismus in der Gegenwart
a) Islamistischer Terror
b) Staatsterrorismus und staatlich unterstützter Terrorismus
c) Die zentrale Rolle der Medien
4. Terroristische Bedrohungsszenarien der Zukunft

II. Die europäische Staatengemeinschaft und der internationale Terrorismus
1. Vertragliche Grundlagen zur Entwicklung einer europäischen Zusammenarbeit im Bereich der
Terrorismusbekämpfung nach
2. Maßnahmen der Europäischen Union zur Terrorismusbekämpfung
3. Europas zukünftige Rolle in der globalen Sicherheitspolitik

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Es gibt in der aktuellen globalen sicherheitspolitischen Diskussion und in der Analyse der Ereignisse der Gegenwartsgeschichte momentan wohl kaum ein brisanteres Thema als den internationalen Terrorismus – spätestens seit den verheerenden Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001. In dem Maße an Effektivität sowie der Art und Weise, wie die Staaten dieser Welt dieser Gefahr begegnen, wird sich mit entscheiden, ob die Weltsicherheit des 21. Jahrhunderts erschüttert oder gestärkt aus dieser Krise hervorgeht.

Die vorliegende Arbeit macht den Leser zunächst in – durch den formalen Rahmen – beschränktem Umfang mit dem Wesen des internationalen Terrorismus vertraut. Es werden grundlegende Definitionsprobleme bei der Bestimmung von Terrorismus aufgezeigt und die Entwicklung sowie Ausprägung des Terrorismus in Europa ausgehend von der Französischen Revolution nachgezeichnet; der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt hierbei auf der Zeit nach 1945[1].

Nach einer knappen Analyse der gegenwärtigen Formen des Terrorismus und möglicher Bedrohungsszenarien der Zukunft befasst sich der zweite Teil der Arbeit mit der Bedeutung des internationalen Terrorismus für Europa. Dabei steht ein Überblick über die Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung ebenso im Mittelpunkt wie eine Darstellung der bisher getroffenen kooperativen Maßnahmen. Einen Ausblick auf künftige Anforderungen an die europäische Rolle in der globalen Sicherheitspolitik bietet das letzte Kapitel der Arbeit.

I. Zum Wesen des (internationalen) Terrorismus

1. Was ist (internationaler) Terrorismus? – Schwierigkeiten bei der Begriffsbestimmung

Wenngleich das Thema „Terrorismus“ alles andere als neu ist, hat man sich auf eine einheitliche Definition dessen, was Terrorismus eigentlich ist, bisher nicht einigen können. Dieser Aspekt soll uns erstes Indiz für die Komplexität dieses gleichzeitig historischen wie hochaktuellen Themas sein.

Bereits am 16. November 1937 hatte ein Expertenausschuss dem Völkerbund die „Genfer Konvention zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus“ zur Unterzeichnung vorgelegt. Der Vertragsentwurf umschrieb Terrorismus als „kriminelle Taten, die gegen einen Staat gerichtet sind und das Ziel verfolgen, bestimmte Personen, eine Gruppe von Menschen oder die Allgemeinheit in einen Zustand der Angst zu versetzen.“[2] Dieses internationale Abkommen scheiterte jedoch, weil kein Land außer Indien die Konvention ratifizierte[3].

Einen modernen, ob seiner prägnanten Kürze und der darin enthaltenen Hervorhebung der von Terroristen erstrebten Außenwirkung ihrer Taten meines Erachtens gelungenen Definitionsvorschlag bietet Peter Waldmann an: „Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Sie sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen.“[4] Des Weiteren verweist Waldmann darauf, dass sich terroristische Aktionen gezielt über jeweils geltende rechtliche und moralische Konventionen hinwegsetzen und sich durch besondere Unmenschlichkeit, Willkür und Brutalität auszeichnen würden. Der Schockeffekt sei zentraler Bestandteil terroristischer Logik und Strategie, allgemeine Aufmerksamkeit solle erregt werden[5]. Mittels der Gewaltakte sollen Menschen (insbesondere die politische Führung demokratischer Staaten) unter Zwang gestellt werden, den Willen terroristischer Gruppen durchzusetzen[6]. Gelingt es gesellschaftlichen und politischen Führungseliten, auf die terroristischen Provokationen maßvoll zu reagieren und sich nicht zu übertriebenen Verfolgungs- und Sicherheitsmaßnahmen hinreißen zu lassen, dann haben die Gewaltaktivisten ihr Ziel, mindestens teilweise, verfehlt[7].

Die unterschiedlichen Verhältnisse in den einzelnen Staaten und die verschiedenen Auffassungen von innerer Sicherheit und Menschenrechten erschweren neben der Festlegung einer allgemeinen Definition von Terrorismus auch die Analyse signifikanter Ursachenstrukturen zur Erklärung einzelner terroristischer Bewegungen. Die Lebensverhältnisse, das „Erleben“ bestimmter sozialer und gesellschaftlicher Bedingungen sind für die terroristische Aktionsorientierung relevant[8], aber nur in Einzelbetrachtungen zu erfassen. So erscheint eine wissenschaftliche allgemeingültige Theorie des Terrorismus im Ganzen a priori unmöglich, weil das Phänomen so unterschiedliche Wurzeln hat und sich so unterschiedlich manifestiert[9]. Trotz dieses individuellen gesellschaftlich-historischen Hintergrunds terroristischer Bewegungen hat Waldmann bezüglich Zielsetzung und ideologischer Ausrichtung dennoch vier Leitideen von Terrorgruppen postuliert:

1. Das Streben nach einer revolutionären Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen im Sinne der Ideen von Marx. Ziel ist v.a. die Lösung vom Herkunftsmilieu und die Auflösung der Unterdrückung benachteiligter Drittgruppen.

2. Das Trachten ethnischer Minderheiten und unterdrückter Völker nach einem eigenen Staat, zumindest die Einräumung gewisser politischer Autonomierechte. Ziel ist v.a. die Verteidigung der Eigengruppe und der in ihren Augen gefährdeten Minderheit.

3. Der religiös motivierte Terrorismus, dem wir in allen drei großen monotheistischen Religionen (Islam, Christentum, Judentum) begegnen. Ziel ist v.a. das persönliche Heil; die terroristische Tat gilt als „Billet ins Paradies“.

4. Der so genannte vigilantistische Terrorismus – darunter versteht man ‚law and order‘-Bewegungen, die am Staat vorbei, unter Verletzung geltender Gesetze, die bestehende Ordnung zu bewahren suchen. In Wirklichkeit handelt es sich bei diesem vierten Typus nicht um eine reine Form des Terrorismus, weil es ja nicht darum geht, den Staat anzugreifen, sondern ihn zu schützen, freilich auf eine recht spezielle Art: Indem man sich nicht an die Gesetze eben dieses Staates hält[10].

Besteht in der Literatur schon wenig Übereinstimmung darüber, was unter Terrorismus zu verstehen ist, so ist der Begriff des ‚internationalen Terrorismus‘ noch schillernder. Zwei Merkmale sind hier besonders hervorzuheben. Das eine ist die Tatsache, dass Terroristen stets auf der Suche nach zusätzlichen Ressourcen sind, um ihre Zwecke zu verfolgen; Ressourcen, die sie zwangsläufig nur jenseits der Grenzen des eigenen Staates finden. Das zweite Merkmal sind die Zielgruppen: Richten sich die Anschläge gegen Ausländer, Menschen mehrerer Nationen, so gelten sie als internationaler Terrorismus[11]. Walter Laqueur sieht mit internationalem Terrorismus auch Erscheinungen von staatlich gefördertem Terrorismus bis hin zur Kooperation verschiedener Terroristengruppen bezeichnet[12]. Wenngleich Waldmann behauptet, dass der internationale Terrorismus in seiner Tragweite deutlich überschätzt wird, indem er darauf verweist, dass internationaler Terrorismus allenfalls fünf bis zehn Prozent sämtlicher terroristischer Anschläge ausmache[13], gesteht er allerdings zugleich ein, dass trotz einer tendenziell rückläufigen Zahl jährlicher Anschläge im Bereich des internationalen Terrorismus die Zahl der Opfer ansteige. Besonders der religiös motivierte Terrorismus sei sehr gewalttätig[14]. Brian M. Jenkins sieht mit terroristischen Anschlägen internationalen Charakters in erster Linie Auswirkungen weltweiter Konsequenzen verbunden, auch gezielte Schädigungen im Bereich der (Welt-)Wirtschaft[15].

Mit eine Folge der fehlenden klaren Definition terroristischen Handelns, aber auch Ursache der inneren Struktur moderner Terroristengruppen, ist es, dass die Grenzen zwischen dem, was man unter Terrorismus versteht, und dem, was dem grauen Bereich der Kriminalität zugeordnet wird, heute verschwimmen. Als Stichwort sei hier nur der Rauschgift-Terrorismus genannt. Bruce Hoffman erkennt dagegen einen grundlegenden Unterschied zwischen Terroristen und gewöhnlichen Kriminellen in den Motiven ihres Handelns. Er gesteht zwar, dass sich die Gewaltakte gleichen, unterstreicht jedoch, dass Kriminelle aus selbstsüchtigen, persönlichen Motiven handelten, ohne damit psychologische Wirkung erreichen oder die öffentliche Meinung beeinflussen zu wollen. Terroristen dagegen wollten das „System“ (was auch immer damit im Einzelfall gemeint ist) verändern[16].

Eine gerade gegenwärtig angesichts der heutigen Organisation, Ausbildung sowie Ausrüstung der Terroristengruppen verstärkt begegnende Einordnung ist die, die diese Gruppen als paramilitärische Einheiten, als Kriegsgegner bezeichnet[17]. Nach Auffassung von Andreas Musolff bietet dies staatlichen Instanzen die Möglichkeit, die politischen Ansprüche terroristischer Gegner ohne breitere öffentliche Diskussion zurückzuweisen und die (para)militärische Vernichtung der Terroristen zum rechtmäßigen Ziel zu setzen, auch wenn sie ihnen offiziell einen Kombattantenstatus verweigern. Die Terroristen werden so zum Feind, gegen die der Staat und Teile der Öffentlichkeit ihrerseits einen Krieg glauben führen zu müssen[18].

Weitere Differenzierungen unterscheiden im Bereich des Terrorismus noch Ausprägungen wie Regimeterror, d.h. Terror wird im Zeichen einer bestimmten Ideologie Hauptgesetz im Handeln eines Staates, oder Guerillakampf als eine militärische Strategie allmählicher Einkreisung des Gegners aus dem Hinterhalt heraus bei prinzipieller Schonung von Zivilisten[19]. Auch was man Gewalttätigkeit des Mob nennt, unterscheidet sich bezüglich fehlendem ausreichenden Programm hochgesteckter Ziele und fehlender Vorplanung sowie Kontrolle von Terrorismus im eigentlichen Sinn[20].

Im Folgenden konzentrieren sich die Ausführungen auf die Erörterung der Bereiche des Terrorismus bzw. internationalen Terrorismus auf Grundlage der oben aufgezeigten Skizzierung.

2. Die Entwicklung des internationalen Terrorismus in Europa und in der BRD

a) In Europa

Das Wort „Terrorismus“ wurde erstmals während der Französischen Revolution gebraucht – damals noch mit positivem Beiklang. Das régime de la terreur diente Revolutionsführer Maximilien Robes- pierre nach einer Periode anarchistischer Unruhen und Aufstände nach 1789 in einer dritten Phase der Revolution (1792 – 1794) als Instrument zur Durchsetzung von Ordnung. Mit der heutigen modernen Variante waren diesem Terror zwei Schlüsseleigenschaften gemeinsam: Er war weder ziellos noch blind, sondern organisiert, zielbewusst und systematisch. Sein Ziel und seine Rechtfertigung bestanden in der Schaffung einer neuen und besseren Gesellschaft[22]. So schreibt Donna M. Schlagheck zurecht:[21]

„The Great Terror was systematic and deliberate; it was an organized, ruthless policy that the state

used to attack its many problems. The Reign of Terror (September 1793 – July 1794) is one of the

earliest cases of state terrorism wherein we can study a government intentionally and systemati-

cally using terrorism to achieve political goals.“[23]

Auch wenn das „Regime des Terrors“ allmählich im Blut der Guillotinen versank und die Revolution ihre eigenen Kinder fraß – der Terror hat sich seitdem als fester Ausdruck in der internationalen politischen Terminologie eingebürgert[24] und war in Europa als politisches Mittel eingeführt[25].

Das 19. Jahrhundert erlebte einen Ausbruch internationaler politischer Gewalt, den heute viele als Ansatzpunkt des modernen Terrorismus betrachten. Die Urheber dieser Gewalt, im Allgemeinen pauschal als „Anarchisten“ bezeichnet, wollten auf die stetig wachsende ökonomische Kluft zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten – eine Folge der weltweiten industriellen Revolution – aufmerksam machen und sie bekämpfen[26]. Trotzdem wurden die Anarchisten weder für die etablierten Geschäftsinteressen noch für die Stabilität der westlichen Regierungen jemals zu einer wirklich ernsthaften Bedrohung[27].

Wie etabliert die Anwendung terroristischer Maßnahmen in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts war, zeigt der 1. Weltkrieg. Sowohl die britische Seeblockade Deutschlands als auch die U-Boot-Gegenstrategie des Deutschen Reichs entsprachen in ihren Auswirkungen auf Zivilisten dem, was wir per Definition internationalem Terrorismus zuordnen[28].

Wenden wir uns nun beispielhaft einem europäischen Konflikt zu, der uns in seiner Struktur einen Einblick in Zielsetzung und Entwicklung „konventioneller“[29] Terrorgruppen bietet: Die Irisch Republikanische Armee (IRA) in Nordirland. Die IRA wurde nach dem 1. Weltkrieg von Michael Collins, einem Extremisten der irisch-katholischen Partei Sinn Fein als Reaktion auf einen gescheiterten Aufstandsversuch irischer Nationalisten gegen die britische Besatzungsmacht gegründet. Die IRA schürte den Konflikt mit der britischen Amtsgewalt soweit, dass 1920 ein bürgerkriegsähnlicher Zustand herrschte, der bis zum heutigen Tag Maßstäbe für die Gewalt in Nordirland setzt. Zivilisten wurden seitens der IRA gezielt zu politischen Zwecken angegriffen, so dass sich der anfänglich als Guerillakrieg verstandene Aufstand schnell in Terrorismus wandelte: Es wurde nicht mehr zwischen Soldaten und Zivilisten unterschieden und es war die Bereitschaft vorhanden, letztere anzugreifen[30].

Andererseits zeigte sich ein häufig in der Folge von Terrorismus zu beobachtendes Phänomen, nämlich, dass die irische Bevölkerung in ihrer breiten Masse vom fortgesetzten Terror der IRA eher schockiert als angezogen war. Zudem behinderte die Einstufung der IRA und ihres politischen Flügels, der Sinn Fein, als Terroristengruppe durch die Regierung in London bis heute die Verhandlungen über die politische Zukunft Nordirlands[31].

Es gilt an dieser Stelle nochmals allgemein festzuhalten: Sobald Guerillagruppen in aller Welt begannen, sich terroristischer Mittel zu bedienen, gaben sie ihre Anwendung unbegrenzter Gewalt als Beleg dafür aus, dass sie die Interessen des Volkes verträten. Oder als Umkehrschluss formuliert: Je weniger Rückhalt eine bestimmte Sache tatsächlich im Volk fand, desto bedeutsamer war es, sich der Methoden des unbegrenzten Krieges in größtmöglichem Umfang zu bedienen, um den Anschein zu erwecken, man habe das Volk geschlossen hinter sich.

Mit Blick auf Europa und die westlichen Staaten allgemein lässt sich feststellen, dass Terrorismus in erster Linie ein Phänomen freier Gesellschaften ist[32]. Walter Laqueur hat im Vergleich terroristischer Aktionen der letzten hundert Jahre herausgefunden, „daß gewalttätige Protestbewegungen dort nicht in Erscheinung treten, wo der Despotismus am schlimmsten herrscht, sondern in nachsichtigen demokratischen Gesellschaften oder in ineffektiven autoritären Ländern.“[33] Diese Feststellung bestätigt das Untersuchungsergebnis der beiden US-Forscher W. Lee Eubank und Leonhard Weinberg, die erkannten, dass Demokratien deutlich anfälliger für Terrorismus sind als autoritäre Regime. Allerdings geben sie auch zu bedenken, dass in manchen autoritären Staaten terroristische Aktionen (z.B. Sabotageakte) nicht an die Öffentlichkeit dringen[34].

Heute ist Europa weitgehend frei von Terrorgruppen überregionaler Bedeutung. Die gefährlichsten aktiven Gruppen sind die baskische Separatistengruppe Euskadi ta Askatasma (ETA) in Spanien, Bürgerkriegsgruppen auf dem Balkan (z.B. UCK)[35] sowie militante Splittergruppen der IRA (v.a. die „Wahre IRA“). Falls man die Türkei zum europäischen Raum dazuzählt, wäre noch die kurdische Arbeiterpartei PKK zu nennen.

b) In der BRD

Für die Bundesrepublik Deutschland ist für den Terrorismus nach 1945 in erster Linie die linksgerichtete Terrorgruppe „Die Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) von zentraler Bedeutung. Die Anfänge des Terrorismus in der BRD reichen in die Zeit der Studentenunruhen der 60-er Jahre zurück. 1966 hatte sich der „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ (SDS) gegründet, der sich als Kern einer „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) verstand. Mit provokatorischen Protestaktionen sollten politische und gesellschaftliche Reformen erzwungen werden, die primär auf Veränderungen des bestehenden Regierungs- und Gesellschaftssystems abzielten. Die APO zerfiel allerdings in den folgenden Jahren in kleine extremistische Gruppen. 1970/71 bauten Ulrike Meinhof, der Anwalt Horst Mahler und Andreas Bader die RAF[36] auf.

Die RAF bzw. wieder Splittergruppen von ihr verübten zunächst eine ganze Reihe von Brand- und Sprengstoffanschlägen gegen öffentliche Amtsgebäude und Kaufhäuser, später aber auch gezielt auf Menschen, z.B. gegen Staatsanwälte, Richter, Angehörige der US-Streitkräfte etc.[37] Die RAF wollte der Öffentlichkeit eine „Faschismusreserve“ der BRD-Staatsgewalt aufzeigen und demonstrieren, dass die Staatsgewalt nur der herrschenden Klasse dient. Es sollte ein „antifaschistischer Widerstand“ organisiert werden. Das scheiterte jedoch daran, dass ein Großteil der Bevölkerung trotz aller Vorbehalte und radikaler Kritik das Staatssystem der BRD als Ganzes prinzipiell akzeptierte[38].

Im selben Maße, wie sich der bundesdeutsche Terrorismus von der gesellschaftlichen Realität entfernte, brach er mit allen wichtigen Tabus der bislang vollzogenen Guerilla-Taktik und Unbeteiligte wurden Zielscheibe von Aktionen. Gepaart mit fehlendem politischen Bewusstsein der Terroristen setzten die ersten Todesopfer[39] gleichzeitig die Schlusspunkte unter die RAF[40]. Damit durchlief die RAF einen ähnlichen Prozess gesellschaftlicher Entfremdung und Ausgrenzung wie die IRA in Nordirland (vgl. I, 2a)[41]. Zur Selbstauflösung der RAF kam es trotzdem erst am 21. Januar 1998, nachdem es in den Jahren zuvor allerdings kaum noch Meldungen über Aktionen der einst bedeutendsten deutschen Terrorgruppe zu verzeichnen gab.

Für unsere späteren Betrachtungen ist es interessant, dass es bereits in den 70-er Jahren Anzeichen einer gewissen Internationalisierung der linken Terrorzellen gab[42]. Eine besondere Rolle spielte hierbei Iljitsch Ramirez-Sanchez (Deckname „Carlos“)[43], der von Paris aus terroristische Aktionen organisierte, an denen Terroristen aus mehreren Ländern beteiligt waren[44].

In diesen zeitlichen Zusammenhang beginnender Internationalisierung terroristischer Aktionen gehört auch die Ausbildung von Terroristen aus aller Welt in Camps der palästinensischen Al Fatah[45] und auch auf Kuba[46].

Rückblickend auf die Vielzahl v.a. linker terroristischer Vereinigungen der 60-er, 70-er und frühen 80-er Jahre[47] lässt sich feststellen, dass diese Gruppen mit ihren Aktionen konkrete Ziele verfolgten,

z.B. die erzwungene Freilassung inhaftierter Gefangener. Die Ziele heutiger Terroristengruppen sind dagegen in vielerlei Hinsicht verschwommener, wie wir im Folgenden sehen werden.

[...]


[1] Womit sich die Arbeit am zeitlich-thematischen Rahmen des Hauptseminars orientiert.

[2] Zit. n. Piper, 2002, S. 1.

[3] Vgl. Piper, 2002, S. 1.

[4] Waldmann, 2000, S. 11.

[5] Vgl. Waldmann, 2000, S. 12.

[6] Vgl. Schwind, 1978, S. 26. Hier sei angemerkt, dass gegenwärtige Formen (religiös-)fanatistisch begründeten Terrors z.T. über diese Zielsetzung hinausreichen, wenn die bedingungslose physische Vernichtung einer nicht klar festgelegten Gegnerschaft postuliert wird. Doch dazu mehr weiter unten.

[7] Vgl. Waldmann, 2000, S. 22 f.

[8] Vgl. Wittke, 1983, S. 72.

[9] Vgl. Laqueur, 1978, S. 157. Zu den Ursprüngen und soziologischen Verflechtungen bzw. Bedingungen von Terrorismus gibt Walter Laqueur mit „Terrorismus. Die globale Herausforderung“ (besonders Seiten 19 – 219) ein grundlegendes und ausführliches Werk an die Hand, das trotz mittlerweile veränderter globaler Rahmenbedingungen auch für die aktuelle Diskussion wichtige Aspekte herausstellt.

[10] Vgl. Waldmann, 2000, S. 18 f.

[11] Vgl. Waldmann, 2000, S. 20. Wenn Waldmann im Folgenden feststellt, dass „von der Bildung operationsfähiger internationaler terroristischer Koordinationszentren [...] bisher nicht einmal ansatzweise die Rede sein [kann; d.Verf.]“ (Waldmann, 2000, S. 20), so ist diese Vermutung nach den jüngsten Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001, die ein bedeutendes Maß an operativer Planung auf höherer Kommandoebene erforderten, wohl als falsch einzustufen.

[12] Vgl. Laqueur, 1987, S. 338. Zum staatlich unterstützen Terrorismus siehe die Ausführungen unter I, 3b.

[13] Vgl. Waldmann, 1998, S. 19.

[14] Vgl. Waldmann, 1998, S. 23.

[15] Vgl. Jenkins, 1990, S. 30.

[16] Vgl. Hoffman, 1999, S. 52 f.

[17] Vgl. Carr, 2002, S. 12.

[18] Vgl. Musolff, 1996, S. 12. Dieser Aspekt wird unter II, 3 noch ausführlicher behandelt.

[19] Vgl. Waldmann, 2000, S. 16 f. Zur Unterscheidung von Guerillakampf und Terrorismus vgl. weiterhin Carr, 2002, S. 110 f. und Pesch, 1977, S. 36 – 40.

[20] Vgl. Hardmann, 1978, S. 193.

[21] Im Rahmen des behandelten Themas beschränken sich die folgenden Ausführungen zum Großteil auf den europäischen Raum mit Ausnahme der Erläuterung globaler Strömungen im Bereich des internationalen Terrorismus, die sich auch direkt auf Europa auswirken. Dennoch möchte ich es nicht versäumen, einige Literaturhinweise zu geben, die sich auf den Konfliktraum Naher Osten, insbesondere auf die israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen beziehen, da dieser Raum mit seinem Konfliktpotenzial für den gegenwärtigen internationalen Terrorismus von größter Bedeutung ist. An erster Stelle ist die ausführliche Darstellung von Kameel B. Nasr „Arab an Israeli terrorism. The causes an effects of political vilonce, 1936 – 1993“, London 1997, zu nennen. Außerdem Gerhard Schoenberner „Die Politik, die zu Terrorismus führt. Israel als Lehrbeispiel“, in www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Israel/schoenberner.html vom 11. 04. 2002, sowie Carr, 2002, S. 188 – 196.

[22] Vgl. Hoffman, 1999, S. 17.

[23] Schlagheck, 1988, S. 19.

[24] Vgl. Musolff, 1996, S. 9.

[25] Vgl. Orzechowski, 2002, S. 2.

[26] Vgl. Carr, 2002, S. 132.

[27] Vgl. Carr, 2002, S. 134.

[28] Vgl. Carr, 2002, S. 146.

[29] „Konventionell“ wird hier zur Unterscheidung von heutigen „modernen“ Terrorbewegungen gebraucht (vgl. hierzu I, 3).

[30] Vgl. Carr, 2002, S. 180 – 184.

[31] Vgl. Carr, 2002, S. 185.

[32] Vgl. Wittke, 1983, S. 72.

[33] Laqueur, 1978, S. 219 f.

[34] Vgl. Waldmann, 1998, S. 126 – 128.

[35] Vgl. Piper, 2002, S. 3.

[36] Die Aktivisten der RAF rekrutierten sich mit wenigen Ausnahmen aus Familien des Bürgertums; die Mehrheit der Mitglieder hatten Abitur und waren Studenten (vgl. Horchem, 1978, S. 211 f.), der Frauenanteil war dabei überdurchschnittlich hoch (vgl. Boeden, 1978, S. 36).

[37] Vgl. Schwind, 1978, S. 26 – 33.

[38] Vgl. Wittke, 1983, S. 87.

[39] Vgl. Wittke, 1983, S. 87 – 91.

[40] Die Ermordung prominenter, das verhasste System repräsentierender Persönlichkeiten war seitens der RAF fest eingeplant (vgl. Totalitarismus, Extremismus, Terrorismus, 1985, S. 246).

[41] Nach Waldmann ist bei Terrorgruppen häufig zu beobachten, dass sie weitgehend den Kontakt zur sozialen Realität im legalen öffentlichen Raum verlieren (vgl. Waldmann, 1998, S. 11).

[42] Vgl. Schwind, 1978, S. 37 – 39.

[43] Einen grundlegenden Überblick zur Person Carlos‘ bietet z.B. Sterling, 1981, S. 131 – 149.

[44] Z.B. beteiligten sich deutsche Terroristen aus dem Umfeld der RAF am Überfall auf die OPEC-Konferenz im Dezember 1975 in Wien und an der Entführung eines Airbusses der Air-France im Juni 1976 von Athen nach Entebbe, einer Aktion unter Federführung eines palästinensischen Kommandos (vgl. Boeden, 1978, S. 32).

[45] Im Juni 1970 flogen sieben Gründungsmitglieder der RAF von Berlin-Schönefeld (mit Wissen und offensichtlicher Genehmigung der DDR-Regierung) nach Beirut. Seit Sommer 1969 war dies das zweite Mal, dass eine Gruppe aus West-Deutschland zur terroristischen Ausbildung zur Al Fatah kam (vgl. Kahl, 1986, S. 50 – 52).

[46] Vgl. Pesch, 1977, S. 145 f.

[47] Einen Überblick, der den eng begrenzten Umfang dieser Arbeit sprengen würde, bietet für das Gebiet der BRD Werner Kahl mit „Vorsicht Schußwaffen“ (s. Literaturverzeichnis).

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung des internationalen Terrorismus und seine Bedeutung für Europa
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte)
Veranstaltung
Hauptseminar: Europa und Europapolitik nach 1945
Note
2
Autor
Jahr
2002
Seiten
27
Katalognummer
V14673
ISBN (eBook)
9783638200073
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklung, Terrorismus, Bedeutung, Europa, Hauptseminar, Europa, Europapolitik
Arbeit zitieren
Michael Mößlein (Autor:in), 2002, Die Entwicklung des internationalen Terrorismus und seine Bedeutung für Europa, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14673

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